Heft 2/2010 - Lektüre
Das Unternehmen von Gabriele Jutz scheint zunächst riskant: Es gilt, einen Diskurs, der den Experimentalfilm von Anfang an begleitet, den des »cinéma pur« (und seiner Abwandlungen: »absoluter Film«, »strukturaler Film«), ein Diskurs, der in den Filmen die Dominanz rein ästhetisch-formaler Eigenschaften herausarbeitet und diesen filmischen Essenzialismus in der Tradition einer entstofflichten Moderne gewahrt sieht, diesen Diskurs also durch sein pures Gegenteil, den eines »cinéma brut« ablösen bzw. als deutungsmächtiger zu positionieren. Das »brutistische« Avantgardekino folgt, so Jutz, einer Revision der Materialität des Filmischen, die nunmehr in ihren Herausforderungen durch ein Außen, eine vorapparative und prädiskursive Wirklichkeit, begriffen wird. Und die an Unterbrechungen der Codes interessiert ist, »an jenen Schwellenmomenten sich ereignender Brüche, wo ein Rohes, Wildes und Primitives zum Vorschein kommt«. An drei künstlerischen Praktiken wird die brutistische Ästhetik fixiert, am Direct – »hand-made« – Film, am Expanded Cinema und am Found-Footage-Film. Sie sollen die Gültigkeit des Diskurses tragen und damit die Relativität der etablierten, vorherrschenden Modelle bezeugen – Modelle, wie sie zum einen vom »High Modernism« Clement Greenbergs, zum anderen vom »Political Modernism« Peter Wollens und seinem ideologiekritischen »Gegenkino« formuliert werden.
Doch wir verlassen den diskursimmanenten Disput in Kapitel drei und werden im »Reich der Begriffe« wiederverortet. Denn das dritte Kapitel reexaminiert die Peirce’sche Relationskategorie »Index« als jenes Zeichen, das in einer »existenziellen Beziehung« zu seinem Objekt steht und also ein körperlich-rohes Darstellen provoziert. Stets ist nun das Objekt im Zeichenkörper als materielle Spur, Geste oder Relikt inkludiert. Gerade diese mit Peirce vorgenommene Differenzierung des Index erlaubt es Jutz, den Index als Spur im Direct Cinema, als Geste für das Expanded Cinema und als Relikt im Found-Footage-Film produktiv zu denken, damit aber auch »die verschiedenen Modelle von Subjektivität« zu besprechen, die die Akteure in der Anbindung an ihr Material herstellen. Mit dem originalitätskritischen Begriff der materialen und technischen »Obsolenz«, einer produktiven Relektüre des »Performativen« aus Austins Gründungstext und der Anwendung seiner beiden Pole »Ereignis« und »Wiederholbarkeit« auf den Experimentalfilm, und mit dem Bataille’schen Begriff des »informe«, der die »transgressive« Wucht der drei Modi des Experimentalfilms betont, werden die filmischen Positionen in geschmeidigen Analogien mit den Begriffen derart differenziert lesbar. Damit tritt das angedeutete »diskursgeleitete« Arbeiten in seiner Selbstbezogenheit (»Die Theorie besteht darauf …«) zurück, und es überzeugt weniger das Stilisieren einer »Alternative« als vielmehr das präzise Herausstellen von konzeptuellen Begrifflichkeiten, die offenlegen, dass das besprochene Kino ebenso die Begriffe validiert, wie diese in ihren Analysen den Filmkörper.
Es bleibt nicht ganz nachvollziehbar, warum der »Ausblick« die erarbeiteten begrifflichen Figuren auf aktuelle Beispiele aus der bildenden Kunst anwendet statt auf die zeitgenössische experimentelle filmische Produktion auch der Medienkunst, die zweifellos vielfältig alle beschriebenen Praktiken der »alten« Filmkunst aufgreift und mit neuen technischen Tools im Raum des digitalen Bildes zu faszinierenden Ausdruckformen verwandelt. Ein Zelluloidpurismus jedenfalls würde der Eloquenz der Argumentation zuwiderlaufen.
Die Studie von Christa Blümlinger bespricht zwar auch den Found-Footage-Film, den Kompilations- und Archivkunstfilm im Kontext des Experimentalkinos, vergrößert aber das Spektrum der »Sekundärbearbeitung« auf jene AutorInnen, die in Zwischenfeldern agieren und ihre filmischen Konzepte teils essayistisch-dokumentarisch, teils im Umfeld der bildenden Kunst entwerfen, darüber hinaus auch nicht filmisches Material aus Massenmedien oder aus Software generierten Bildfolgen einsetzen. So wird eine notwendige Gleichwertigkeit von klassischem Avantgarde-Cinema, etwa Ken Jacobs, Peter Tscherkassky, Matthias Müller oder Dietmar Brehm, mit Autoren wie Chris Marker, Jean-Luc Godard oder Haroun Farocki betont. Das Buch wird mit einem einführenden Kapitel zum zentralen Begriff der »Aneignung« eröffnet und gliedert sich dann in ausführliche Einzelfilmanalysen. Das theoretische Interesse von Blümlinger gründet in der Frage nach der Transformation existierenden Filmmaterials im Lichte einer »Symptomatik des Übergangs«, wie sie sich etwa in »der filmischen Form des geschichtlichen Denkens«, in einer »ästhetischen Historizität« manifestiert. Im Einführungsteil werden die analytischen Koordinaten in bibliografischer Opulenz vorgeführt und die aufregende theoretische, »diskursive« Vielfalt des Feldes wird aufgezeigt.
Jedoch entzieht sich der explikative Text an manchen Stellen, und es drängt sich der Eindruck auf, die Autorin spiele Versteck. Sie nutzt zwar einen enormen Quellenapparat, der wohl die meiste Sachliteratur ihrer Themen abdeckt, doch im eigenen Schreibraum werden die Argumente und Begriffe der anderen vorausgesetzt, im Text eingefroren. Sie erfahren im Kontext des eigenen Nachdenkens keine Entwicklung mehr, stehen auratisch, zumeist jedoch erratisch im Satz, und man sucht vergebens nach einer Elaboration (etwa, dass in der Appropriation Art ein »väterlicher Enteignungsgestus« am Werk sei). Man erlebt unablässig eine äußerst gedrängte, sprunghafte, jedoch auch bloß kumulative Ballung von Referenzen, die Zusammenhänge eher unterlaufen, denn präzisieren und einen verrätselten Korpus an unausgearbeiteten Denkfiguren hinterlassen. So wird beispielsweise an mehreren Stellen das Begriffspaar »figurativ« und »figural« eingesetzt, die Herleitung jedoch nur in einer Fußnote äußerst verknappt vorgenommen, somit werden die LeserInnen entweder bei Lyotard oder Deleuze nachlesen müssen, nicht aber dem vorliegenden Text seine Verwendung entnehmen können. Ähnlich ist es mit anderen zentralen Begriffen wie »Geschichte«, »Erfahrung«, »Dispositiv«. Auch die Foucault’sche Unterscheidung von »Dokument« und »Monument« wird zwar mit einigen wenigen Zitaten eingeführt, jedoch im gesamten folgenden filmbeschreibenden Kapitel nicht mehr offensiv eingesetzt.
An jenen Stellen, wo Blümlinger (zumeist ganz ohne Fußnoten) sehr eloquent einzelne Filme analysiert, ihr Gewebe durchmisst und darstellt, vergisst man schnell das »Archiv« und kann sich in produktiver Lektüre jenem unausmessbaren, weil in den technischen Horizont der Bilder notwendig eingeschriebenen »Aneignungswillen« zeitgenössischer filmischer Ästhetik stellen. Dann werden zugleich die Denkbewegungen erkennbar, die das »Kino aus zweiter Hand« vorbereitet und die in dem viel größeren popkulturellen »Sekundärraum« der Gegenwart ihre zudem politische und nicht unbedingt nur kulturkritische Ressource finden.