Amsterdam. Es war die »Kathedrale« von Hendrik Berlage, einst Amsterdams Waren- und Getreidebörse und als Gesamtkunstwerk in die Architekturgeschichte eingegangen, die die Ausstellung »Niet Normaal * Difference on Display« beherbergte. In diesem Winter waren daher in einer Stadt, in der die xenophobe Rechte unter Geert Wilders erneut WählerInnenstimmen dazugewann, nicht nur die Plakate der Rechten verteilt, sondern auch solche, die den Titel als Frage »Niet Normaal?« nochmals in die Menge streuten. Was ist denn heute normal und wer entscheidet darüber? Eine kleine Anekdote am Rande: Die Niederländische Bahn verweigerte die Anbringung des Plakates auf ihrem Areal, da ihrer Meinung nach den Reisenden das Sujet nicht zumutbar sei. Es handelte sich um die Abbildung von Marc Quinns schneeweißer Marmorskulptur »Stuart Penn« (2000) – die nackte Figur eines Mannes, der auf einem Bein steht und dessen linker Arm und rechter Unterschenkel fehlt. »Niet Normaal« erscheint diese Reaktion für ein einstmals liberales Vorzeigeland, sie ist Gradmesser für die Befindlichkeit der holländischen Gesellschaft und ihrer sich verändernden Haltung gegenüber dem Anderen.
»Niet Normaal« bedeutet im Niederländischen nicht nur das Gegenteil von normal sondern wird auch als Ausdruck für Außergewöhnliches verwendet. Die Kuratorin der Ausstellung, Ine Gevers, die auch die Initiatorin der Stichting Niet Normaal ist und dieses Megaevent mit Arbeiten von 90 KünstlerInnen sowie zahlreichen Begleitveranstaltungen realisiert hat, beobachtete in ihrer Recherche auch, dass die Begriffe »normal« und »abnormal« in der Medizin zunehmend durch die Schlagworte »neurologisch typisch« oder »atypisch« ersetzt wurden.
Skeptisch gegenüber jedem Eventismus interessierte mich, auf welche Weise sich dieses engagierte Unterfangen an einem nicht eingeführten Ausstellungsort entwickeln würde. Wie das Management der Börse weiß auch Gevers um die Strahlkraft des Baus – die größte Halle in Amsterdams Zentrum, in der unlängst auch die Royals gehochzeitet hatten – und kooptierte existierende Strukturen der Macht für ihre eigenen, potenziell subversiven Zwecke.
»Niet Normaal« bot eine Polyphonie und Pluralität an Themen, an Sichtweisen zum Nichtnormalen und (scheinbar) Normalen, zum Trennenden zwischen uns und den anderen. Themenblöcke verhandelten über die Perfektionierbarkeit und Perfektion von Körpern oder deren Verschwinden im Leben der posthumanen Kondition, über die Warenförmigkeit von Normen und Differenz, über die Bedingtheit von Menschen und Technologie sowie über beispielhafte Praxen der Demokratie und das aus einer globalen Perspektive. Das Buch zur Ausstellung verhandelt brisante Themen, darunter »Die Neurobiologische Perfektion« (über ADHD, eine Bewegung rund um Autismus), ein berührendes Porträt von Donna Haraway über ihren seit seiner Kindheit mit dem Rollstuhl lebenden Vater Frank Outten Haraway, einen angesehenen Sportreporter; oder »Freaks«, das von den Performances »Beauty and the Beast« (2002–2009) des Engländers Mat Fraser und der Positionierung seines für den stereotypisierten Blick des Mainstreams »behinderten« Körpers in das ästhetische Milieu von Popdiskursen erzählt.
Trotz aller thematischen Ernsthaftigkeit hatte die Ausstellung in ihrer Grundstruktur Leichtigkeit, viel Humor und Beschwingtheit. Das lag auch an der exzellenten Ausstellungsarchitektur von Gilian Schrofer von Concern – durch die Konstruktion der Wandflächen in mäanderförmiger Anordnung wurden drei Räume und zusätzlich durch die Nutzung der Seitenschiffe in der seriellen Anordnung der originalen Sitzbänke eine Reihe offener Kinosituationen nebeneinander geschaffen.
Ein Teil der Arbeiten kam aus renommierten Sammlungen und von ebensolchen KünstlerInnen – ein bewusstes Spiel mit Namedropping von Damien Hirsts »Aminobenzo-Trifluoride« (1993) über »Washing Hands Abnormal« (1996) von Bruce Nauman und Louise Bourgeois’ Zeichnungsserie mit dem berührenden Titel »10 AM Is When You Come To Me« (2006) bis zur Multimediainstallation »The Hostage« (2007) von Jon Kessler u.v.a. Der Wechsel von bekannten Arbeiten zu unbekannten schuf zudem Rezeptionsbrücken.
Großes Interesse erregte die Installation der britischen Künstlergruppe Pharmacopoeia, sie zeigte den auf Holland hin adaptierten durchschnittlichen Medikamentenkonsum eines heterosexuellen Paares, welcher auch mit privaten und biografischen Kleinigkeiten garniert wurde. Die Menge der in einem Durchschnittsleben konsumierten Medikamente ist erstaunlich und zeigt einmal mehr die Abhängigkeit des Einzelnen von der Pharmaindustrie, und wie gewollt diese ist.
Allerlei Robotics, Klons und Cyborgwesen zogen in der Schau Menschentrauben an. Wie steht es mit den neuen Bioregimen, mit der neuen Welle der Eugenik, fragte das Critical Art Ensemble, eine Position, die dessen Mitglied Stephe Kurtz auch schon eine Verhaftung wegen des Verdachtes auf Bioterrorismus eingebracht hatte. Ronald Rodneys elektronischer Rollstuhl zog verwaist seine Kreise in der Ausstellung. Der britisch-jamaikanische Künstler verstarb 1998 an Sichelzellenanämie und hinterließ ein außerordentliches Selbstporträt als Vermächtnis: ein fragiles Häuschen in seiner Handfläche. Das Material ist getrocknete Haut und stammt von einer seiner vielen Operationen.
Trotz schwieriger Themen kam in »Niet Normaal« kein Betroffenheitsdiskurs auf. In einem Land, das wie kaum ein anderes in Europa soziale Technologien und die Ästhetiken des Modernismus in sein Selbstverständnis integriert hat, ist es das Verdienst dieser Schau, ein ebenso breites, wie exzellentes Angebot zur Sensibilisierung gegenüber den eigenen Ambivalenzen, Verdrängungsmechanismen und blinden Flecken zu machen – gerade in einer Situation, wo dieses Selbstbild von einer ganz anderen Seite gefährdet ist, wie die Plakatwände in diesem Amsterdamer Winter zeigten.