Heft 3/2010 - Lektüre



Joe Sacco:

Footnotes in Gaza

London (Jonathan Cape) 2009 , S. 75

Text: Martin Reiterer


»Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Walter Benjamins berühmter Satz macht in Zusammenhang mit dem palästinensischen Alltag dessen erbarmungslose Härte bewusst. Nicht die jeweils bevorstehende, nicht die jeweils gegebene Katastrophe ist das Problem, sondern die stabilisierte Katastrophenfolge, »das stabilisierte Elend« (auch ein Wort Benjamins).
Knapp 20 Jahre nachdem der auf Malta geborene Comiczeichner Joe Sacco erstmals Israel und die palästinensischen Gebiete am Ende der ersten Intifada 1991/92 besucht und im Anschluss (1993–1996) seine aufsehenerregende Comicreportage »Palästina« (2009 auf Deutsch bei Edition Moderne) veröffentlicht hatte, ist nun ein zweites Comicwerk des Autors über das Flüchtlingsland erschienen: »Footnotes in Gaza«. Bereits mit seinem ersten großen Comicbuch hatte Sacco ästhetisches Neuland beschritten und sowohl innerhalb des Mediums einen Meilenstein gelegt, als auch für das Genre der Reportage neue Akzente gesetzt. Insbesondere durch sein Beharren auf den subjektiven Zugang (einschließlich ihrer Hilfsmittel der Ironie und Selbstironie), der einem als Objektivität apostrophierten Journalismus etwas entgegenzuhalten hat: das Risiko und den Mut zur eigenen Wahrnehmung, die Einbeziehung einer detaillierten persönlichen Beobachtung, die auch auf Widersprüche stoßen kann und Selbstkorrekturen notwendig macht.
So bescheiden der Titel lautet, die Recherchearbeiten zu »Footnotes in Gaza« reichen zurück bis ins Jahr 2001, als bereits eine zweite, noch blutigere Intifada im Gang war, der das endgültige Scheitern des Oslo-Friedensprozesses vorausging. Ausgangspunkt war ein Hinweis in Noam Chomskys »The Fateful Triangle« (zu Deutsch: »Offene Wunde Nahost: Israel, die Palästinenser und die US-Politik«) auf eine Massenhinrichtung von ZivilistInnen, die im Jahr 1956 in Chan Yunis (im Süden des heutigen Gazastreifens) stattfand, kurz nachdem Israel im Zusammenhang mit der Suezkrise und in Absprache mit Großbritannien und Frankreich den Gazastreifen, der damals unter ägyptische Verwaltungshoheit fiel, besetzt hatte.
Das kaum dokumentierte Ereignis ist in Vergessenheit geraten, ein kurzer UN-Bericht aus der Zeit hält allerdings fest, dass es 101 Tote zur Folge hatte. So entschloss sich der Autor und Zeichner, dieser vernachlässigten Fußnote der Geschichte nachzugehen, und stieß dabei auf eine weitere, die sich auf eine ähnliche Tragödie in Rafah, Grenzstadt zu Ägypten im südlichsten Teil des Gazastreifens, bezieht: tragische Bilanz 275 Tote.
»Die Geschichte«, so Sacco, »kommt ohne ihre Fußnoten aus.« Andauernd verschüttet sie ihre eigenen Ereignisse. Nur sogenannte Hauptereignisse (in diesem Fall die Suezkrise 1956) stechen hervor. Fußnoten werden im Lauf der Geschichte abgeschüttelt und unter den Trümmern der folgenden Ereignisse begraben. Kaum wo trifft das mehr zu als in den palästinensischen Autonomiegebieten. Wo die Produktion von Trümmern und Schutt alltäglich ist, scheint eine Beschäftigung mit den darunterliegenden Schichten vernachlässigbar zu sein. Mitunter erscheint sie geradezu als Beleidigung, als Respektlosigkeit gegenüber der Gegenwart und als Nicht-ernst-Nehmen des allgegenwärtigen Elends. Während Sacco seinen Spuren zu den Fußnoten in Chan Yunis und Rafah folgt und Leute befragt, die den 3. November 1956 (in Chan Yunis) und den 12. November (in Rafah) als AugenzeugInnen miterlebt hatten, wird er anfangs nicht selten belächelt. Neben der täglichen Überforderung der dort lebenden Bevölkerung durch die Anhäufung und Produktion immer neuer gewalttätiger, blutiger, schrecklicher Ereignisse ist es auch die Skepsis gegenüber ausländischen JournalistInnen: Die Angst davor, angeblich interviewt, tatsächlich aber ausspioniert zu werden, um in der Folge Opfer einer Hauszerstörung zu werden, hält einige GesprächspartnerInnen zurück.
Saccos Rekonstruktion der Ereignisse von 1956 ist ein Oral-History-Projekt im Medium des Comics. Neben palästinensischen AugenzeugInnen befragt der Autor auch einzelne israelische ZeitzeugInnen. Neben der Schwierigkeit der Erinnerung, die nicht immer zuverlässig ist, spielt die Visualisierung des Erzählten durch den Zeichner eine zentrale interpretative Rolle. Außerdem fanden die Recherchen nicht in einem Vakuum statt: Zur Zeit der Interviews haben israelische Angriffe PalästinenserInnen getötet und palästinensische Selbstmordattentate Israelis, die Vorbereitungen zum Irakkrieg fanden statt. Zu den am schärfsten kritisierten Entwicklungen gehörten die massenhaften Zerstörungen palästinensischer Häuser und Behausungen, die auch in die Comicrekonstruktion eingegangen sind. All diese Zwischenfälle werden zu einem integralen Teil der Rekonstruktion der historischen Ereignisse selbst. Die PalästinenserInnen, so Sacco, genießen nicht den Luxus, eine Tragödie verdauen zu können, bevor die nächste eintrifft.
Es zeigt Saccos doppelte Meisterschaft, als Historiker, Forscher, Journalist einerseits und als Zeichner andererseits, wie er mit Souveränität und zugleich tiefstem Verständnis sein Projekt der Rekonstruktion vorantreibt, ohne die Gegenwart, aus der heraus seine InterviewpartnerInnen erzählen, aus den Augen zu verlieren. Denn das dichte Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart ist Teil des Verständnisses. »They planted hatred in our hearts«, erzählt einer der Befragten. In Chan Yunis und später in Rafah wurde die (männliche) palästinensische Bevölkerung teils wahllos in ihren Häusern oder vielmehr Flüchtlingsbehausungen erschossen, teils zuvor zusammengetrieben und reihenweise an die Wand gestellt. Schritt für Schritt versuchen Sacco und Abed, sein palästinensischer Übersetzer und Begleiter, die ZeitzeugInnen zu größtmöglichster Präzision zu bewegen, denn es geht um Fakten, um die detaillierte Darstellung der Vorgänge.
Die Rekonstruktion in Bruchstücken, wie sie dem Medium des Comics ästhetisch eingeschrieben ist, lässt den Schrecken und das Grauen tiefer unter die Haut gehen. Der Schock, die Angst, der Schmerz der Menschen damals in Chan Yunis und in Rafah hat durch die faktische Aufdröselung in ihre Elemente, die ästhetische Zersplitterung in Zeichenkästchen und die variierende Wiederholung durch unterschiedliche ZeitzeugInnen ein Bild erschütternder Intensität erhalten. Doch »Footnotes in Gaza« ist nicht nur ein Bild des Schreckens, es ist ein wichtiges Dokument, das sich als Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen Situation der PalästinenserInnen begreift. Saccos Umweg einer Rettung der Geschichte im Sinne Walter Benjamins ist auch ein Commitment, ein Versuch, durch Aufklärung dem stabilisierten Elend etwas entgegenzusetzen.