Heft 3/2010 - Artscribe


»Over the Counter«

18. Juni 2010 bis 19. September 2011
Kunsthalle Mücsarnok / Budapest

Text: Sándor Hornyik


Budapest. Der ungarische Ausdruck »Über den Ladentisch« bezieht sich weniger auf die internationale Finanzwelt oder auf Apotheken, sondern auf einen Lebensstil und die Ordnung gesellschaftlicher Rollen. In erster Linie geht die Bezeichnung auf etwas zurück, das einst »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« genannt wurde, erinnert der Titel der Ausstellung doch an osteuropäische Fernsehserien aus den 1970er- und 1980er-Jahren, insbesondere an die tschechoslowakische Serie »Frauen hinter dem Ladentisch«, die heute wie eine bodenständig realistische Seifenoper rund um einen kleinstädtischen Kaufladen erscheint. Die Personen in dieser Serie lebten in einer Idylle, in der ein paar Privatprobleme und soziale Konflikte vorkamen, nur um durch tiefe Empathie und eine hochstehende Moral gelöst zu werden. Diese Art von Serien (»Krankenhaus am Ende der Stadt«, »Heißer Wind«) sind ein ungetrübter Ausdruck jener Nostalgie, die in der älteren Generation immer noch die Dankbarkeit gegenüber dem kommunistischen Regime (als »milde Diktatur«) prägt. In dieser Sichtweise ging all das nämlich mit dem politischen Wechsel (dem Niedergang des Kommunismus) verloren. Obwohl dieser Wechsel die Herrschaft des »unmenschlichen« Kapitalismus, eine Ausweitung der Märkte und die echte parlamentarische Demokratie brachte, vernichtete er in Wahrheit jene besondere Illusion, die die meisten Menschen als lebenswert und bequem ansahen.
Die von Eszter Lázár und Zsolt Petrányi kuratierte Ausstellung mit 30 KünstlerInnen richtet ihren Fokus auf das Phänomen und die Prozesse der postsozialistischen Wirtschaft. Sie präsentiert einige zeitgenössische Künstlerinnen (Margareta Kern, Kristina Inciuraité sowie Anetta Mona Chisa & Lucia Tkácová), die die vergangenen 20 Jahre in der postsozialistischen Region im Spiegel des Schicksals einzelner Frauen beschreiben. Diese Kunstwerke basieren entweder auf soziologischen Forschungen und Tiefeninterviews oder auf lyrischen, fast magisch realistischen Sequenzen und liegen damit eigentlich nicht weit von den alten tschechoslowakischen Filmen entfernt. Im Gegensatz zu Letzteren haben die Enthüllungen von Mikrohistorien aber nicht das Nostalgische, das für die Interpretation der Vergangenheit in der Region so typisch ist. Die meisten der ausstellenden KünstlerInnen wurden nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes sozialisiert, ihre Werke handeln demnach von den Illusionen des Kapitalismus und nicht des Kommunismus. Sie handeln davon, was innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems geschehen ist und immer noch geschieht. Die Jobs werden prekärer, die arbeitenden Menschen bekommen zusehends den Eindruck, Marionetten eines neuen unehrlichen Systems zu sein. Das resignierte Akzeptieren dieser ungeschützten Situation resultiert bei mehreren der ausgestellten Arbeiten in ikonischen Bildern. So zeigt sich diese Stimmung auf Mladen Stilinovics Fotos von »Bag-people«, die vor einem kleinen Markt herumstehen. In Anna Molskas Videoinstallation »Work & Power« sieht man polnische Arbeiter bei ihrer »konstruktiven« Arbeit, und Katerina Šedá befragte für ihr Projekt »What Can You Do?« TschechInnen, deren Land und Leben gerade »angeeignet« wird. Das dichteste Bild der Resignation zeichnet Miklós Erhardt mit seinem geloopten Video »Parallax«, in dem »obdachlose« Hunde herumliegen und ins Nichts starren. Fast bewegungslos reagieren sie nur noch mit winzigen Kopf- und Ohrenbewegungen auf die schwer zu deutenden Ereignisse in der »Außenwelt«.
Dieser kritische Zugang lässt komplizierte Mikrohistorien erkennen, die das Publikum, obwohl sie thematisch und ideologisch miteinander verbunden sind, schwerer anzunehmen vermag als die ikonischen Bilder von Kamen Stojanov, Lukasz Skapski und Société Réaliste. Stojanov brachte auf einem der für die Region typischen emblematischen Plattenbauten das selbstironische Banner »Jungs, das ist zwar nicht L.A., aber trotzdem ein cooler Platz! Werbt hier!« an. Skapskis plastisch monochrome Gemälde spielen auf den Glanzlack von Luxusautos wie Porsche, Lexus und BMW an, den der frustrierte Durchschnittsmensch mit seinen Schlüsseln zerkratzt hat. Die Arbeit von Societé Réaliste ist »ortspezifischer«. Mit durchgestrichenen Passagen der kommunistischen Verfassung Ungarns aus dem Jahr 1949 und der demokratischen von 1989 empfanden sie einen Holzschnitt von György Dózsa aus der Hand des berühmtesten kritisch realistischen Malers Gyula Derkovits nach. Aus der Ferne betrachtet sieht man den bekannten ungarischen Bauernaufständischen mit einem Datum (»19?9«) auf der Stirn und dem Brandzeichen »bloody peasant« auf der Brust. Kommt man aber näher, sind die Worte aus den beiden Verfassungen und die erhellende Tatsache, dass die KünstlerInnen das ursprüngliche Wort »peasant« durch »parallel« ersetzt haben, erkennbar. Welche Parallele meinen sie? Vielleicht jene zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Unterdrückung? Oder dass die Revolution der kleinen Leute immer zum Scheitern verurteilt ist?
Die stärkste emotionale und intellektuelle Wirkung entfalten indes Installationen wie die von Zsolt Keserue oder von Mona Vatamanu und Florin Tudor. Ersterer präsentiert ein Video über die (notgedrungene) Sparsamkeit des »sozialistischen Menschen« beim Hausbau vor dem Hintergrund eines eingestürzten Wohnblocks. Letztere zerteilen mit »Land Distribution«, einer Art Schwesterarbeit ihrer Installation »The Path« (Rust Ingots), die weiße Zelle der Kunsthalle mit rostigen Stahlpfosten, die mit VHS-Videobändern verbunden sind. Der Rost spielt offensichtlich auf den heruntergekommenen Weg des Kommunismus an, während die Konstruktion auf die Hartnäckigkeit der kommunistischen Utopien verweist und die VHS-Bänder ironisch die ambivalente Rolle der Gegenwartskunst als Dokumentationsmedium betonen. Aus der Perspektive der Ausstellung und der postsozialistischen Region als Ganzes sind aber wohl drei nicht gezeigte »Installationen« das beste Sinnbild. Eine ist die Stadt Gyumri, die in Uriel Orlows gespenstischem Film »The Remnants of the Future« gezeigt wird, die anderen jene beiden Werke von Mircea Cantor, die schon in dessen Personale vor zwei Jahren in der Kunsthalle zu sehen waren. Die drei riesigen Betonskulpturen von »Future Gifts« bilden den Rahmen für eine Leere, während im Video »Departure« ein Wolf desinteressiert um ein zitterndes Reh schleicht. Abgesehen vom schrecklichen Erdbeben und den nationalen Unruhen scheint die Guymri Biennale also definitiv eine Erfolgsgeschichte zu sein. Cantors Arbeiten hingegen deuten an, dass der Kapitalismus nicht nur keine Geschenke für uns bereithält, sondern dass auch seine Aufmerksamkeit nicht so leicht zu erregen ist. 20 Jahre nach dem Niedergang des Kommunismus sind die allzu bekannten Illusionen einer erloschenen Utopie nicht mehr per se interessant. Sie dienen höchstens noch als alternativer Hintergrund der ruppigen Illusionen des Kapitalismus. Der kapitalistische Wolf ist heute nicht mehr der beutegierige Kojote von Walt Disney. Er ist nicht einmal mehr der geduldig neugierige Wolf von Joseph Beuys, sondern ein ausgefressenes, desillusioniertes und globalisiertes Raubtier, das seine eigenen Wunden leckt.

 

Übersetzt von Thomas Raab