Heft 4/2010


Politisches Design

Editorial


Politische Umbrüche und Systemwechsel sind in den letzten Jahren zu Herzstücken der Erinnerungskultur geworden. »Magische« historische Daten wie 1989 geben in regelmäßigen Abständen Anlass, das Geschehene aus der Perspektive der Überlebenden, oft auch mit einer gewissen Siegermentalität, zu kommentieren. Die Memoiren von PolitikerInnen und SystemgewinnerInnen stellen dabei häufig in den Schatten, was sich auf der Ebene des Alltagslebens als zäher, langwieriger Prozess des Übergangs (mit ungewissem Ende) darstellt.
Was bislang ebenso häufig übersehen wurde, ist die Rolle, die eine bestimmte Art von »politischem Design«, sei es von Logos, Postern und Flugblättern bis hin zu Fahnen, Druckschriften und anderen Medien, bei solchen Systemveränderungen spielte. Dieses Segment grafischer Alltagskultur in den Mittelpunkt des aktiven Erinnerns zu rücken, ist längst überfällig und stellt eine wichtige Ergänzung kritisch-materialistischer Umbruchsgeschichte dar. Ausgehend von den Transformationen, die in den letzten 30 Jahren in Osteuropa stattgefunden haben, versucht diese Ausgabe, die Relevanz und Bandbreite von »politischem Design« nachzuzeichnen. Der Fokus erstreckt sich neben Osteuropa auch auf den süd- und südostasiatischen Raum, wobei die Art von Mobilisierung im Mittelpunkt steht, die eine spezifische Designsprache für politische Bewegungen, auch neueren Datums, zu leisten imstande ist.
Die Idee zu diesem Themenschwerpunkt stammte ursprünglich von Keiko Sei, deren konzeptuelle, vermittelnde, schreiberische und kuratorische Tätigkeit nicht nur zentral in dieses Heft eingeflossen ist, sondern auch den Ausschlag zu einer Ausstellungsreihe gab, die das Thema auf praktischer Ebene fortführt. »Re-Designing the East«, so der Titel der Ausstellungsreihe, entspringt einer Kooperation zwischen dem Württembergischen Kunstverein in Stuttgart, der Trafó Gallery in Budapest, dem WYSPA Institute of Art in Danzig und dem Total Museum in Seoul. In all diesen Institutionen wird ab Herbst 2010 zu sehen sein, was die Beiträge dieser Ausgabe ausschnitthaft wie paradigmatisch abhandeln.
Keiko Sei geht in ihrem einführenden Essay von der Fragstellung aus, welche Art von politischer, sozialer und kultureller Situation dazu führt, dass DesignerInnen sich mit einem Mal als politisch verstehen, und wie umgekehrt ihre Arbeiten zur Transformation ebendieser Situation beitragen. Sei spannt einen weiten Bogen von der Danziger Werft 1980, in deren Umfeld das berühmte, weltweit wirksame Solidarnosc-Logo entstand, bis hin zur aktuellen Situation in Thailand, Südkorea and Teilen Indiens, wo eine kritische Designpraxis gleichfalls Teil von radikaldemokratischen Bürgerbewegungen geworden ist.
Einzelne AutorInnen (und zugleich KuratorInnen von »Re-Designing the East«) greifen die diversen Meridiane von Seis großflächiger Kartografie auf und widmen sich den betreffenden politisch-gestalterischen Brennpunkten. So diskutieren Maks Bochenek und Aneta Szylak die bewegte Geschichte des besagten Solidarnosc-Schriftzugs, der 30 Jahre nach seiner Entstehung nicht nur für allerlei kommerzielle Zwecke herhalten muss, sondern auch ein begehrtes Kunstsammlerobjekt geworden ist. Tomas Pospiszyl rekapituliert in seinem Beitrag die Karriere des tschechischen Grafikers und Künstlers Joska Skalník, der eine wichtige Rolle bei der samtenen Revolution 1989 spielte, sich heute aber Vorwürfen ausgesetzt sieht, als Polizeiagent gearbeitet zu haben.
Vergleichsweise unkompromittiert nehmen sich demgegenüber die drei asiatischen Beiträge aus: Das indische Design- und Kritikerkollektiv Design & People setzt mit seiner Initiative »Creative Resistance« Akzente in Richtung unabhängiger sozialer, humanitärer, ökologischer und edukativer Projekte. In dem hier enthaltenen Essay befasst sich ihr Mitbegründer Sethu Das mit den kolonialen Vereinnahmungen in den Füllhalterdesigns der Firma Montblanc. In Form eines Comics führt der thailändische Kritiker und Designer Pracha Suveeranont in die Theorie des »Vernacular Thai« ein – des populären thailändischen Alltagsdesigns, das Ausgangspunkt ist für schwelende Konflikte rund um Tradition, Moderne und die Definitionsmacht über die Gegenwart. Die südkoreanische Designgruppe Activism of Graphic Imagination (A.G.I.) schließlich liefert Beispiele aktivistischer Kampagnen, die sich der fortschreitenden Gentrifizierung und dem Stadtmarketing einer Millionenstadt wie Seoul ebenso widmen wie den lokalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise.
Ergänzt um weitere beispielhafte Studien, etwa die Gestaltung der Staats- und Unabhängigkeitssymbolik in der Ukraine, offenbart das Schwerpunktthema politisches Design symptomatische Schnittflächen: nicht nur was die Überlappung von künstlerischer Gestaltung mit gesellschaftspolitischen Agenden betrifft, sondern auch im Hinblick darauf, wie Design auf oft verblüffende Weise in die politische Gegenwart, ja Zukunft hineinragt.