Heft 4/2010 - Artscribe


»Goodbye London: Radical Art and Politics in the Seventies«

26. Juni 2010 bis 15. August 2010
NGBK / Berlin

Text: Jörn Ebner


Berlin. Der Londoner Westen ist nicht wiederzuerkennen auf den schwarz-weißen Fotos aus dem Jahr 1977 von Jon Savage. Die Straßen sind leer und zerstört, die großen Betonstrukturen des Westways, der über Notting Hill führt, waren noch nicht errichtet – das folgte erst kurz nach diesen Aufnahmen. In den 1970er-Jahren ist Großbritannien zwar noch nicht das Land extensiver Privatisierung staatlicher Besitztümer, aber Immobilienspekulation und Arbeitskampf waren wichtige Tagesthemen. Die Tristesse auf den Fotos vermittelt wohl etwas davon, schaut aber eher voraus auf das große Thema, mit dem der Buchautor Savage bekannt wurde: Punk.
Damit setzt die Ausstellung gleich zu Beginn zweierlei fest: Einerseits spielen Orte oder architektonische Umfelder eine wesentliche Rolle für die soziale Wahrnehmung des Menschen allgemein und setzen politische Handlungen in Gang (was im weiteren Verlauf der Ausstellung thematisiert wird); andererseits geht es nicht primär um künstlerische Ausdrucks- oder Argumentationsformen, sondern um visuelle Produktion im weiteren Rahmen. Die beiläufigen Fotografien eines Buchautors, politische Gebrauchsgrafik, private Fotoarchive und Dokumentarbilder vermitteln politisches Geschehen und eine allgemeine Haltung; die künstlerischen Arbeiten bilden einen Gegenpol aus individuellen Reaktionen. Ganz konkret werden Themenfelder behandelt, die starke politische Bewegungen mit sich zogen: die Wohnsituation und die HausbesetzerInnenszene, die daran eng verknüpfte Schwulen- und Lesbenbewegung, davon überleitend die Arbeitsrechtssituation für vor allem farbige ArbeiterInnen und schließlich der Feminismus. Doch fluid sind die Übergänge von einem Thema zum nächsten, visuell getragen sind die Inhalte, wodurch vor allem die künstlerische Haltung der Zeit in den Vordergrund tritt. Nicht das Werk als solches hat Vorrang, sondern die Haltung zur Gesellschaft und ihre visuellen Ausprägungen; dort wo eine starke künstlerische Persönlichkeit auftritt, sucht sie die Positionierung innerhalb politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen.
So folgt nach den Fotos von Savage ein Poster von Victor Burgin, das seinerzeit an Wände in Newcastle-upon-Tyne plakatiert wurde: Es konstatiert die unausgeglichenen Eigentumsverhältnisse im Land (»Was bedeutet Besitz für Dich? 7% unserer Bevölkerung besitzen 84% unseres Vermögens«) und stellt diese Aussage unter das kitschige Bildagenturfoto eines schmusenden Paares. Die implizite Forderung lautet, dass gesellschaftliche Normen zugleich ökonomischer Natur sind und verändert werden müssen. Dieses Bestreben klingt auch in Margaret Harrisons Gemälde »Rape« (1978) an, das kunsthistorische Bildelemente mit didaktischer Aufklärung verbindet. Auf kleinen Textelementen teilt es mit, dass im frühen 19. Jahrhundert weniger Angehörige aus der Upper Class in der Jurisdiktion saßen als in den 1970er-Jahren. Wie gesellschaftlicher Wandel seinerzeit praktiziert wurde, zeigen Nick Wates’ Fotos der Hausbesetzer vom Tolmers Square und jene von unbekannten Fotografen aus Ian Townsons schwulem Stadtteilarchiv. Bilder, die das Zusammensein im Privaten und Öffentlichen zeigen, die Feiern, die Demonstrationen und Proteste. Daran schließen die sehr privaten Super-8-Filme »Sloane Square« (1972–1974) und »Journey to Avesbury« (1971) von Derek Jarman an: Einer präsentiert im Zeitraffer das Atelier des Künstlers, die Lichtwechsel und Personen; der andere ist ein pastoraler Landschaftsfilm. Den Fotos des Dokumentarfotografen Homer Sykes über den Streik asiatischer Frauen in der Fabrik Grunwick folgt das Performancevideo (vom ursprünglichen 16-mm-Film) »Arbeit macht frei« (1972) von Stuart Brisley, in dem der Künstler inmitten seiner Kotze in einer Wanne badet. Flankiert werden diese Darstellungen objektiv anmutender politischer Realität und subjektiver individueller Bildproduktion von Medienprodukten: Plakate verschiedentlicher Posterkollektive, Fotomontagen von Peter Kennard für (radikale) Zeitschriften wie »Worker’s Press« oder den »New Statesmen« sowie David Halls fernsehkritische Videoarbeit »Interruption Piece« von 1971, die sich mit Kriegsbildern im TV auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die fotografischen Arbeiten von Jo Spence als medienbezogene Kritik an der Darstellung von Frauen lesen.
Obwohl der zeitliche Rahmen der Ausstellung auf die späten Siebziger begrenzt ist, sind aus Ian Townsons Archiv auch Aufnahmen der Brixton Riots 1981 zu sehen. Diese Ereignisse entsprechen dem Geist der Veränderung, doch zu einer Zeit, als Margaret Thatcher schon an der Macht war. Die Eiserne Lady taucht auch noch in den Fotos von Homer Sykes auf, am Tag ihrer Wahl 1979. Damit klingt in den Bildern an, was heute eine gängige Ansicht ist: dass die verschiedenen radikalen Protestbewegungen Margaret Thatcher, und damit dem heutigen Neoliberalismus, ungewollt zur Wahl verhalfen. Jene politischen Überzeugungen, die von der Ausstellung dargestellt werden, waren die Verlierer im gesellschaftlichen Kampf, und die sie begleitenden künstlerischen Vertreter sind heute marginalisiert. Darin liegt aber auch der Bezug zur Gegenwart, inwiefern heute das radikale Denken wirkungsvoll sein könnte. Das die Ausstellung begleitende Buch, herausgegeben von Astrid Proll, die 1974–1978 in London untertauchen konnte, vertieft die Darstellungen noch einmal deutlich durch Erlebnisberichte von HausbesetzerInnen und AktivistInnen, aber bietet zusätzlich kunsthistorische Bezüge auch zu nicht in der Ausstellung vertretenen Künstlern wie etwa Steven Willats.