Heft 2/2011 - Lektüre



Duane Rouselle/Süreyyya Evren (Hg.):

Post-Anarchism

London (Pluto Press) 2011 , S. 77

Text: Jens Kastner


Im deutschsprachigen Raum ist der Postanarchismus weitgehend unbekannt. Oder unbeliebt. Bernd Drücke, koordinierender Redakteur der größten anarchistischen Monatszeitung Deutschlands, der »graswurzelrevolution«, hielt den Begriff 2007 noch »für problematisch«. Das Erste, woran man dabei denke, witzelte er im Interview mit der Wochenzeitung »Jungle World«, seien »vielleicht Anarchisten, die sich bei der Telekom organisiert haben«. Die HerausgeberInnen des Buches »Post-Anarchism« hingegen meinen, der Postanarchismus sei in den Debatten radikaler Intellektueller der letzten zehn Jahre von großer Wichtigkeit gewesen. Das Präfix »post« beschreibt bei diesem wie bei anderen Begriffen neben Kontinuitäten immer auch Brüche. Das macht ihn umstritten und für AnarchistInnen ohne Vorsilbe wie Drücke lästig. Dabei ist auch der Postanarchismus wie seine arbeiterbewegten Vorläufer im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wie der Neoanarchismus um 1968 ein Phänomen zwischen Theorieproduktion und sozialer Bewegung.
So wie der Anarchismus als radikalisierende Synthese von Liberalismus und Sozialismus in der Theorie entstand, wurde auch der Postanarchismus etwa aus der Frage entwickelt, ob die politische Theorie des Poststrukturalismus anarchistisch sei. Gestellt hatte sie der US-amerikanische Philosoph Todd May bereits 1989 in einem Aufsatz, der sich auch in dem Reader wiederfindet. Seine Antwort lautete ja. Der Poststrukturalismus sei im Grunde noch anarchistischer als der traditionelle, an der Aufklärung orientierte Anarchismus, denn er nehme dessen zentrale Botschaft weitaus ernster: »the refusal of representation by political or conceptual means in order to achieve self-determination«. Die Verknüpfungen, die von May und Saul Newman – ebenfalls in dem Band – zwischen dem Anarchismus und Jacques Lacan, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jean-François Lyotard hergestellt wurden, waren sicherlich wegweisend. Dass sich aber die Bezeichnungen »poststrukturalistischer« oder »postmoderner Anarchismus« nicht durchsetzen konnten, ist dennoch konsequent. Denn der Anarchismus, darauf weist Tadzio Müller in seinem Beitrag hin, war immer schon nicht allein Gedachtes und Geschriebenes, sondern neben Theorie auch Praxis. Gleiches gilt für den Postanarchismus.
So wie der Anarchismus aus sozialen Kämpfen heraus entstanden ist, so haben sich auch postanarchistische Strömungen in sozialen Bewegungen entwickelt. Einer der wichtigsten Kontexte war in dieser Hinsicht in den letzten 15 Jahren die Globalisierungskritik. Über die Ausmaße der gegenseitigen Bezugnahmen allerdings gehen die Meinungen auch innerhalb des Buches weit auseinander: Während Herausgeber Süreyyya Evren den (Post-)Anarchismus etwas überschwänglich als »defining orientation of prominent activist networks« beschreibt, hält Sandra Jeppesen diesen Zusammenhang für überinterpretiert: Anarchismus heute sei nicht auf die globalisierungskritische Bewegung zu beschränken, spiele in dieser keine zentrale Rolle und sei ohnehin nicht aus ihr entstanden. Anarchistische Kritik ziele weder auf die Beteiligung an Entscheidungsprozessen etwa bei Freihandelsverträgen oder Maßnahmen des IWF, noch ginge es um Forderung an staatliche Instanzen. Zentraler Angelpunkt anarchistischer Praxis sei heute wie damals die »direkte Aktion«, und diese sei schließlich »not a form of protest, [but] a way of life«.
Richard J. F. Day nennt dies »politics of the act« im Gegensatz zu »politics of demand«. Day allerdings sieht solche Politiken – wie schon in seinem Buch »Gramsci Is Dead« (2005) – durchaus innerhalb der Kämpfe gegen die neoliberale Ideologie und für globale Gerechtigkeit am Werk. Er beschreibt sie als »non-hegemonic struggles«. Diese zielten nicht darauf, neue Hegemonien zu erringen, sondern der gegenwärtigen neoliberal-kapitalistischen Dominanz andere, auf einer »logic of affinity« beruhende Beziehungen entgegenzusetzen. Diese Idee geht nicht zuletzt auf Gustav Landauer (1870–1919) zurück. Der Räte-Anarchist hatte den Staat als Verhältnis beschrieben, das weniger frontal zu bekämpfen, als vielmehr durch andere Beziehungen zu untergraben bzw. zu ersetzen sei.
Während Day sonst wie Newman und May zu denjenigen gehört, die für den Traditionsanarchismus starken Erneuerungsbedarf anmelden, zeigt das Anknüpfen an Landauer aber auch, wie fließend die Grenzen zwischen altem und neuestem Anarchismus tatsächlich sind. Zum Postanarchismus gehört schließlich auch die Relektüre der Klassiker. Im Band liest Hilton Bertalan die Schriften von Emma Goldman (1869–1940) neu und stellt fest: Sie griff nicht auf Vorstellungen der Natur des Menschen zurück, zielte nicht auf die Befreiung eines universellen Selbst und weitete die Analyse der Herrschaft von Klassen- auf Geschlechter- und Alltagsbeziehungen aus. War also schon Goldman Postanarchistin? In mancherlei Hinsicht nahm sie damit tatsächlich dem Denken von Michel Foucault, Judith Butler und Gloria Anzaldúa einiges vorweg. Die Begeisterung über die visionären Gedanken der anarchistischen Vordenkerin wird allerdings dadurch getrübt, dass der Autor kein Wort zu den Unterschieden verliert, die offenkundig zwischen Goldman und den verglichenen, poststrukturalistischen Ansätzen bestehen. Diese Differenzen zu erwähnen, wäre nicht nur aus Gründen wissenschaftlicher Redlichkeit, sondern auch dafür wichtig, wesentliche Desiderata der anarchistischen Diskussion benennen und schließlich bearbeiten zu können. Historisierendes und genealogisches Denken (wie bei Foucault) findet sich nämlich im Anarchismus ebenso wenig wie ein theoretisches Verständnis performativer sozialer Effekte (wie bei Butler) und eine systematische Konzeptualisierung der Verknüpfung von Geschlechterhierarchien und ethnischer Klassifizierung (wie bei Anzaldúa).
Um die Verbindung solcher Fragen mit einer antiautoritären, libertären Perspektive geht es postanarchistischem Denken und Handeln schließlich auch. Der Band dokumentiert insofern vor allem zweierlei: dass aus den Reihen der viel geschmähten Libertären zeitgemäße und bewegungsnahe Theorieproduktion hervorgeht, und dass diese sich entgegen der antipostmodernen Haltung in der »graswurzelrevolution« oder unter prominenten Anarchisten wie Noam Chomsky durchaus mit poststrukturalistischen Ansätzen verträgt.