Wien. Ich denke unter anderem1 darüber nach, ob es möglich ist, den Toten Briefe zu schreiben.2 Oder ihnen ein Haus zu bauen, eine Unterkunft, in der ihre Unruhe besänftigt und ihr Begehren symbolisch erfüllt wird. Vielleicht in diesen Zusammenhang ist mein Interesse an der posthumen Glorifizierung von Birgit Jürgenssen3 zu stellen.
Mit Sicherheit ist mir ein rätselhaftes Unbehagen bewusst, das mit einer seltsam hehren und sehr eifrigen Fürsorglichkeit in Verbindung steht, mit der Birgit Jürgenssen einige Jahre nach ihrem Tod 2003 mit vielfältigen zur Verfügung stehenden und käuflichen Mitteln zur Klassikerin erklärt und im Kanon der avancierten feministischen Kunst des 20. Jahrhunderts fest verankert werden soll.4 Ist mein Unbehagen ein philosophisches, das sozusagen in Richtung medienkritischer Analyse (»against embedded art criticism«) geht? Möglich. Eine anonym bleiben wollende Künstlerin, die Jürgenssen näher gekannt hat, sagt auf jeden Fall: »wenn die Birgit was gewollt hat, dann weltberühmt werden«.
In einem aktuellen Positionspapier der Sammlung Verbund (gegründet 2004, Leitung: Gabriele Schor) wird das »federführende [sic!] Engagement für die Wiederentdeckung von Birgit Jürgenssen« betont, auch zu interpretieren als die Verkündigung der Rezeptionsoberhoheit, also darüber, wie was zu lesen sei und von wem. Und dabei lässt man eine kryptische und dezent noble Ethik durchblitzen: »Wir sammeln nicht um zu akkumulieren, sondern um eine Spur zu hinterlassen.« Die PR-StrategInnen5 geben sich als FährtenleserInnen; das Reh ist bereits im Wald verschwunden. Die Mythen der Rezeption und der weiblichen Produktionsdynamik werden kräftig bedient; die Werke der Künstlerin endlich unbeschwert von ihrer Urheberin und theoretisch weich und wohlmeinend deskriptiv ummantelt in die kunsthistorische Disziplin – Kategorie »Feministische Avantgarde« – getrichtert. Der toten Künstlerprinzessin werden sozusagen jetzt von durchsetzungskräftiger Kuratorinnenhand liebevoll die Plumeaus aufgeschüttelt.
Ausgangspunkt der forcierten symbolischen Fürsorgepraxen sind die vereinten Bemühungen der Nachlassverwalter und Eigentümer, die sich tendenziell dem Mythos von der marginalisierten und dabei doch so genialischen Künstlerin, der kreativen Feministin als verführerischer Schmerzensfrau, verschrieben haben. Die Birgit-Jürgenssen-Retrospektive ist nach der von der Sammlung Verbund und ihren AkteurInnen initiierten Jürgenssen-Monografie (2009) samt Symposium an der Akademie der bildenden Künste, wo Jürgenssen 20 Jahre unterrichtete, ein weiterer Schritt der posthumen ikonischen Stilisierung, die sich auch in zwei umfangreichen Publikationen darstellt. Der Ausstellungsort – das Bank Austria Kunstforum – soll »das breite Publikum« gewährleisten. Vielleicht aus diesem Grund wurde, was das Ausstellungsdesign betrifft, eine Art mittlerer Weg begangen, der eine eigentümlich museale Anmutung hat; als wäre die Tatsache, dass die Werke hier in diesen Räumen versammelt sind, schon erstaunliche Leistung genug.
Wenn ich Birgit Jürgenssens Werk betrachte, das laut Katalog-PR-Prosa ein Œuvre ist, das »sinnlich und konzeptuell, enigmatisch wie subversiv, komplex wie selbstironisch, feministisch« ist, dann sehe ich vor allem eine berückend filigrane Qualität, die der offensichtlichen Werkverhaftung im Grunde entgegenarbeitet: eine große Offenheit und Beweglichkeit, inspiriertes Agieren, ein chronisches Experimentieren und Durchlässigwerden und: ein Fluktuieren der Geltungswünsche. Ich könnte schreiben: Hier finden wir das Gegenteil einer Künstlerin mit Einflussangst. Heike Eipeldauer, eine der Kuratorinnen der Retrospektive nennt es die »multiple Bedeutungsinversion« im Werk von Birgit Jürgenssen; anders formuliert: eine erstaunliche Fähigkeit, vor dem Festgelegten und Fixen zu fliehen. Es gibt etwas definitiv Vages an ihrem oft virtuosen Werk, vielleicht eine ansatzweise tragische (?) Sehnsucht, etwas zu sein und zu bleiben hinter den performativen Gesten und Handlungen.
Birgit Jürgenssen war eine informierte Künstlerin, eine »Kunstmarktkünstlerin«, die ihre Referenzen deutlich machte und betitelte. Sie hat ihre Gesten, Posen und Masken als immer schon existierende und in diesem Sinn fremde Gesten, Posen und Masken ausgeführt und getragen. Da sind: Kommentar, Zitat, Distanzierung, Inszenierung, feminine Maskerade, Rezeption und Anwendung; manchmal eine nahezu epigonale Praxis als künstlerische Vorgehensweise. Darin war Jürgenssen eine skeptische Künstlerin und ihre künstlerische Substanz durch und durch performativ.
Im Gespräch mit Felicitas Thun-Hohenstein kurz vor ihrem Tod antwortet Birgit Jürgenssen auf die Frage, ob sie sich selbst als feministische Künstlerin sehe, knapp so: »Nicht innerhalb einer Kategorisierung.« Wenig später moniert sie, dass man als Künstlerin entweder als Girl oder als Über-60-Jährige akzeptiert würde, die Zeit dazwischen sei Schwerarbeit.
Wie sagte die anonym bleiben wollende Künstlerin zu mir am Schluss unseres langen Gesprächs: »Das mit der Birgit, das war alles viel komplexer«.
Birgit Jürgenssen. Ausstellungskatalog in Kooperation von SAMMLUNG VERBUND und Bank Austria Kunstforum. Hrsg. von Gabriele Schor und Heike Eipeldauer. Textbeiträge von Ingried Brugger, Heike Eipeldauer, Elisabeth Lebovici, Gustav Schörghofer, Katharina Sykora, Peter Weibel und Giovanna Zapperi. 312 Seiten, ca. 300 Farbabbildungen, Prestel Verlag, München 2010
Birgit Jürgenssen. Monografie. Hrsg. von Gabriele Schor und Abigail Solomon-Godeau, Ostfildern, Wien: Hatje Cantz, Sammlung Verbund, 2009, 296 S, 350 Abb.
1 anlässlich eines Konzepts für eine Installation im öffentlichen Raum
2 BJ hat noch eine Emailadresse; vgl. (http://birgitjuergenssen.com/kontakt/kontakt.php).
3 BJ wurde 1949 geboren, studierte Kunst in Wien, war als Künstlerin vielfältig medial tätig und unterrichtete 20 Jahre an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Sie starb am 25. September 2003 an den Folgen einer Tumorerkrankung.
4 Zeit ihres Lebens (1949-2003), so Nina Schedlmayr im profil, gehörte BJ „zu den bekanntesten Unbekannten der heimischen Szene“ (Profil 50/Dezember 2010); Oder wie es Natalie Madani ausdrückt, gab es zu ihren Lebzeiten „erstaunlich wenig Resonanz auf ihre zirka 3.000 Werke umfassende Arbeit“ (Birgit Jürgenssen: Sicht auf ein Symposion, Werk und Rezeption. Die Bildende 05, Die Zeitung der Akademie der Bildenden Künste, März 2010, S. 48-49).
5 Der Kulturjournalist Matthias Dusini nennt sie in seinem Text im Falter die „Jürgenssen Promotoren“ (Falter 50/2010, S. 38-40; Auferstanden nach 30 Jahren).