Heft 3/2011


Umbruch Arabien

Editorial


Ereignisse von großer Wirkung: Was die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi alles auslösen würde, war am 4. Januar dieses Jahres, dem Tag des Verzweiflungsakts, nicht absehbar. Seither – die Fakten sind bekannt – hat eine Welle von Aufständen und Revolten verschiedenste arabische Länder erfasst. Einige davon wurden bereits im Keim erstickt, während andere in eine anhaltende Bewegung des Protests und der Regimeumwandlung mündeten. Was lange Zeit wie eine unverbrüchliche und weitgehend reformresistente Machtstruktur erschien, war mit einem Mal fragil und unsicher geworden und fand sich nunmehr unter Einsatz von Menschenleben umkämpft. Dass das massenhafte Aufbegehren gegen den in der Region verbreiteten Autoritarismus nicht aus heiterem Himmel erfolgte, ja de facto auch nicht auf einzelne Akte wie eben jene Selbstverbrennung zurückzuführen ist, leuchtet intuitiv ein. Welche Ausgangslagen und Gründe für die erstarkte Bewegung aber tatsächlich existierten, vor allem auch wie tragfähig und zukunftsträchtig sie sich erweisen wird, harrt bislang noch genauerer Untersuchungen.

Das vorliegende Heft versucht, einige Symptomatiken der gegenwärtig stattfindenden Umbrüche aufzugreifen. Ohne eine umfassende Darstellung und Analyse bieten zu können, setzt die Ausgabe an jenen Stellen an, die zunächst den eigenen Standort, ja die eigenen Projektionsmechanismen betreffen. Schnell geäußerte Hoffnungen, dass nun in einem entfernten, wiewohl auch stark vernetzten Teil der Welt kein Stein auf dem anderen bleiben würde, gehören ebenso dazu wie übertriebene Ängste, die von kulturellen Stereotypen und klischeehafter Schwarzmalerei herrühren. Von welcher »Positionierung« aus Kunst und kulturelle Belange den Ereignissen folgen bzw. ihnen gegenüberstehen, ist dabei ebenso Verhandlungsgegenstand wie die Möglichkeit der Einflussnahme auf die gerade stattfindenden Übergangsprozesse (wie schwach und distant sie auch sein mag).

Dass mit den Umbrüchen ein hohes Maß an Hoffnungen wie Ängsten einhergeht, beweist ein Blick auf die täglichen Medienkommentare. Hoffnungen, dass nun endlich eine fortwährende Demokratisierungswelle die lange Zeit von Despotismus geprägte Region erfassen möge; Ängste, dass möglicherweise noch reaktionärere oder totalitärere Tendenzen die Oberhand gewinnen könnten. Der Politologe Gilbert Achcar, profunder Kenner der politischen Systeme in der arabischen Welt, spricht sich eindeutig für Ersteres aus: Selbst wenn vielerlei Hindernisse existieren und Rückschläge nicht ausbleiben werden, dämmert in mehreren Ländern gerade eine Art »Frühling der Völker« an, so wie er sich ab 1848 langsam in Europa auszubreiten begann. Nehad Selaiha, Grande Dame des politischen Theaters in Ägypten, ist demgegenüber um einiges vorsichtiger, auch wenn sie Achcar auf die junge, aktuelle Kunst bezogen im Wesentlichen beipflichtet. Ihre autobiografische Genealogie dessen, was sie seit den 1950er-Jahren alles unter dem Signet »Revolution« auf dem Kairoer Tahrir-Platz erlebt hat, mündet in die Einsicht, dass als eine der wichtigsten Konsequenzen aus den Aufständen gerade eine Neuverhandlung arabischer Identität stattfindet. Welche verqueren Folgen indes die verbreitete westliche »Islamophobie« zeitigt, streichen Maya Mikdashi und R.M in ihrer Auseinandersetzung mit dem in Mode gekommenen Einsatz für Lesben- und Schwulenrechte im arabischen Raum heraus.
Kulturell präsentieren sich einzelne arabische Staaten, und hier vor allem die am Persischen Golf gelegenen Emirate, länger schon als höchst aufgeschlossen. Nat Muller untersucht in ihrem Schwenk über die diesjährige Sharjah Biennale, die Art-Dubai-Messe und einzelne Länderpräsentationen auf der heurigen Venedig Biennale, inwiefern einzelne aus der Region stammende Kunstpraktiken, ungeachtet ihrer Präsentationszusammenhänge, der Demokratisierungswelle zuarbeiten. Ob damit nicht in erster Linie westliche Projektionen bedient werden, wie Muller ebenfalls anklingen lässt, steht auch in Walid Raads künstlerischem Beitrag im Mittelpunkt. Abu Dhabi und sein unvergleichlicher megalomaner Bau- und Kulturalisierungsboom sind Ausgangspunkt einer Arbeit, die das umstrittene Guggenheim-Projekt zusammen mit anderen Großarchitekturvorhaben ins Visier nimmt. Gleichsam ergänzend dazu lässt sich eine Arbeit von Alice Creischer und Andreas Siekmann betrachten, welche die Stadtentwicklung von Dubai über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht und sie mittels bildstatistischer Methoden aufbereitet.
Näher und direkter an die jüngsten Ereignisse angelehnt ist der Beitrag des tunesischen KünstlerInnenkollektivs Muzaq. Ihre Bestandsaufnahme, gleichsam aus erster Hand, was im Zuge des Umsturzes in Tunesien nunmehr künstlerisch alles möglich geworden ist, unterstreicht den kulturellen Auftrieb, der sich vielerorts gerade abzeichnet. Auch wenn Daho Djerbal in seinem historisch angelegten Essay davor warnt, dass sich die Auswirkungen der langen Kolonial- und Despotismusgeschichte nicht so einfach abschütteln lassen, blitzen so Fluchtmomente bzw. Ausblicke auf zukünftige Demokratisierungsszenarien auf (so vergänglich und brüchig sie auch sein mögen).

Ohne dass die längerfristigen Entwicklungen gegenwärtig absehbar wären, versucht »Umbruch Arabien« über derlei Schlaglichter Kriterien für einen langsam einsetzenden Emanzipationsprozess aufzuzeigen. Und ohne dass erkennbar wäre, wie flächendeckend sich die angestoßene Bewegung ausbreiten wird, mögen diese Anzeichen und Symptome in der Tat so etwas wie erste Hoffnungsschimmer darstellen.