Bern. Der spanische Begriff »dislocación« lässt sich im Deutschen annäherungsweise als »Verschiebung«, »Verrenkung« oder »Entortung« wiedergeben. Ingrid Wildi Merino betitelt so eine Ausstellung, die sie auf Einladung der Schweizer Botschaft in Santiago anlässlich der 200-Jahr-Feiern der Unabhängigkeit Chiles zusammengestellt hat. 20 Jahre nach dem offiziellen Ende der Diktatur eröffnet die Ausstellung eine Perspektive auf Chile, die nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Spannungen im Lande, sondern auch deren Verzahnung mit grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen, postkolonialen Territorialkonflikten und der globalen Deregulierung der Märkte beleuchtet. 14 chilenische und Schweizer KünstlerInnen(-paare) waren eingeladen, Arbeiten zu entwickeln. Nachdem »Dislocación« bereits 2010 an unterschiedlichen Orten in Santiago zu sehen war, wird die Ausstellung nun, kuratiert von Kathleen Bühler, im Kunstmuseum Bern gezeigt. Im Zuge dieser geografischen, kulturellen und institutionellen Verschiebung wird das Projekt selbst zu einem Beispiel für das Phänomen, dem es in seinen künstlerischen Beiträgen nachzugehen versucht: der Schwierigkeit, an einem anderen Ort zu sein.
Die dezentrale Form der Präsentation erlaubte es der Schau in Santiago, eine im besten Sinne heterogene kulturelle Infrastruktur zu aktivieren.1 Die Berner Ausstellung ist naturgemäß mit den Gegebenheiten eines rein musealen Kontexts konfrontiert, der das mobilisierende Potenzial einiger Arbeiten sichtlich einschränkt. Bestes Beispiel hierfür ist wohl Mario Navarros Radio Ideal, eine mobile Sendestation, die in Santiago aus dem öffentlichen Raum Beiträge zu »Dislocación« ausstrahlte. In Bern ist der Sendewagen im Eingangsbereich des Museums platziert und damit im toten Winkel der BesucherInnen, die an ihm vorbei in den Kassenbereich streben. Die Interviews mit AkteurInnen der Ausstellung, die hier als Aufzeichnung zu hören sind, setzen sich ironischerweise mit den Fehlstellen des Projekts auseinander. Sie äußern sich zu Komplikationen bei der Organisation, zum Scheitern künstlerischer Vorhaben oder zum Fehlen einer bestimmten Öffentlichkeit. Radio Ideal wirkt hier wie eine subversive Intervention, die dem (bzw. den) Nichtanwesenden Gehör verschafft.
Eine andere Form der Vergegenwärtigung von Verdrängtem findet Bernardo Oyarzún in »Lengua izquierda«, einer textbasierten Videoarbeit, die mit der Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Idiome spielt. Zwölf Monitore zeigen dieselben gut 200 Alltagsbegriffe, übersetzt in eine Reihe indoeuropäischer und teilweise ausgestorbener indigener Sprachen Lateinamerikas. Als »Entortung« erfahren wir hier nicht nur das Verschwinden kolonisierter Sprachen und deren phantomhafte Wiederkehr etwa im aktuellen Spanisch, sondern auch ihre radikale Nichtverfügbarkeit als Medien der Verständigung. Der Vereinnahmung von Fremdem auf dem Wege der bildlichen Repräsentation gehen Boisseau & Westermeyer in ihrem Videoessay »Neue Brüder« nach. Ausgehend vom Schaffen eines deutschen Malers, der im 19. Jahrhundert die Besiedlung Südchiles propagierte und sich selbst dort niederließ, um dessen »wilde« Natur im Bild festzuhalten, fragen sie nach der Bedeutung künstlerischer und politischer Landschaftsentwürfe für die Konstruktion von Identität. Bis heute ist in Chile der koloniale Blick auf Landschaft wirksam im staatlichen Anspruch auf indigene Territorien, der Absage an die kulturelle Selbstbestimmung von Minderheiten und der bedingungslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen.
Ingrid Wildi Merinos Videoinstallation »Arica y Norte de Chile. No lugar y lugar de todos« setzt am entgegengesetzten geografischen Pol Chiles an, um ein Porträt der multikulturellen Grenzregion Arica zu zeichnen. Im Zentrum stehen Interviews mit Gewerkschaftlern, Soziologen, Hausfrauen und Arbeitern, denen Bilder von ebenso unwirtlichen wie sublimen Industrielandschaften gegenübergestellt sind. Sie beleuchten das ambivalente Erbe einer Region, deren Ressourcenreichtum zwar von jeher die Prosperität des Landes garantierte, deren soziale und ökologische Verwerfungen aber unübersehbar sind.
RELAX (chiarenza & hauser & co) widmen sich in »invest & drawwipe« dem Beginn der wirtschaftlichen Mobilmachung in Chile, der mit dem Militärputsch 1973 zusammenfällt. In einem Hybrid aus Archiv, Jahrmarktbude und Schlafzimmer präsentieren sie Dokumente aus der Frühzeit des Neoliberalismus, eigene Recherchen zu den Verstrickungen internationaler Konzerne in die Politik der Militärjunta und fiktive Lehrvideos für die Investoren von morgen. Das bewusst Fadenscheinige der Inszenierung spiegelt den Zynismus einer unverhohlenen Allianz von Politik und wirtschaftlichen Partikularinteressen, den auch Thomas Hirschhorn in »Made in Tunnel of Politics« kommentiert: einem Ford Ranger, dessen Fahrgastkabine in zwei Teile gesägt und um 40 cm versetzt mit Packband wieder zusammengeklebt wurde.
Während Lotty Rosenfeld in »Cuenta regresiva« die drei ProtagonistInnen ihres Videos die traumatischen »Verrenkungen« der Diktatur in einer zwanghaften Endlosschleife psychischer und physischer Entblößungen ausagieren lässt, stellt Voluspa Jarpas Projekt »Biblioteca de la No-Historia de Chile« die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem auf andere Weise auf die Probe. Sie publiziert CIA-Akten über Chile nach der Wahl Salvador Allendes – deren geschwärzte Seiten ebenso viel Informationen verbergen, wie sie preisgeben – in Buchform stellt sie aus und bietet zur kostenlosen Mitnahme an. Im Tausch allerdings müssen die BesucherInnen sowohl deren geplante Verwendung als auch ihre Identität offenlegen.
»Chile ist überall«, heißt es im Einführungstext zur Ausstellung. Angesichts von Arbeiten, die so genau auf die gegenwärtige Situation im Lande fokussieren, erscheint die Betonung von Chile als globales Paradigma etwas vereinfachend. Auch die Entscheidung, Ursula Biemanns »Sahara Chronicle« im Kontext von »Dislocación« zu zeigen, mag zwar der Illustration dieser These dienen, ist aber – trotz der unbestrittenen Qualität der Arbeit – der Argumentation der Ausstellung wenig zuträglich. Chile »überall« zu verorten, heißt zudem, einen allgemeinen Verstehenskontext zu behaupten, der den einzelnen Positionen ihre lokale wie globale Dringlichkeit nimmt.
1 Zu den Spielorten gehörten neben dem Museo de Arte Contemporáneo und dem Museo Nacional de Bellas Artes das Museo de la Solidaridad Salvador Allende, das Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, die Galería Gabriela Mistral, die Galería Metropolitana und der Radiosender Canal Señal 3 La Victoria.