Heft 4/2011 - Lektüre
Seit einiger Zeit ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff – oder auch dem »Problem« – der Gemeinschaft im Kunstbereich zu beobachten, als aktuelles Beispiel ließe sich etwa das diesjährige Ausstellungsprogramm der Camera Austria in Graz heranziehen, das sich derzeit ganz dieser Thematik widmet. In der Wissenschaft hingegen, und da vornehmlich in der Soziologie und politischen Philosophie, erfuhr die Debatte schon früher eine veritable Renaissance – was wohl nicht zuletzt mit dem Niedergang der kommunistischen Regime zu tun hat. Im Rahmen der in Basel ansässigen und von dem Bildwissenschaftler Gottfried Boehm initiierten Forschungseinrichtung Eikones ist nun eine umfangreiche Anthologie erschienen, die sich – wohl in Anlehnung an Jean-Luc Nancys viel zitiertes Diktum der »undarstellbaren Gemeinschaft«, was im Original allerdings »La communauté désœuvrée«, wörtlich die »untätige Gemeinschaft« lautet – just der Bedeutung von Repräsentations- und Visualisierungsmodi im Entstehungsprozess einer Vergemeinschaftung verschrieben hat.
»Bilder sind sowohl am konservativen wie auch am konstruktivistischen Pol der Produktion von Gemeinschaften aktiv, und es hängt von ihrer konkreten Einbettung in historische, soziale und politische Zusammenhänge ab, ob sie zur Stabilisierung oder zur Destruktion von gemeinschaftlichen Formationen und ihren Fundamenten beitragen«, heißt es in der ausführlichen und durchaus dienlichen Einführung, in der das Themenfeld in seiner Komplexität auch für weniger versierte LeserInnen verständlich ausgebreitet wird. Eine andere Ambivalenz ergibt sich aus dem Umstand, dass Bilder Gemeinschaften symbolisieren – ob nun in idealtypischer Affirmation oder auch in Abgrenzung – und zugleich diese Faktizität der Darstellung wiederum auf die strukturelle Beschaffenheit einer Gemeinschaft »modellierend« rückwirken kann.
Primär auf konkrete Fallstudien angelegt werden in diesem über 500 Seiten starken Band berühmte kunsthistorische Beispiele besprochen, so etwa »Der Turmbau zu Babel« (1563) von Pieter Bruegel d. Ä., das Frontispiz von Abraham Bosse zu dem Hobbes’schen »Leviathan« (1651) oder auch Eugène Delacroix’ »La liberté guidant le peuple« (1830); darüber hinaus findet die christliche Ikonografie ebenso Eingang in die interdisziplinär ausgerichtete Aufsatzsammlung wie architekturbezogene Untersuchungen (etwa zum kommunalen Wohnungsbau im Roten Wien der 1920er- und 1930er-Jahre) oder ein Beitrag zu einer »Gemeinschaft der Schreibenden«, die sich um Zeitschriften wie Georges Batailles »Acéphale« (1936–1939) bildete. Während die Untersuchungen vorwiegend induktiv, also stark von der jeweiligen Bildexegese ausgehend operieren, lassen sich im Hinblick auf die Einlassungen mit vergleichsweise zeitgenössischen Phänomenen vermehrt Querverweise und – wohl nicht unsymptomatisch – plurale Darstellungsformen verfolgen: Im Rekurs auf Roland Barthes’ Fototheorie steuert Jacques Rancière (als prominente Ausnahme zu den sonst gänzlich aus dem deutschsprachigen Raum rekrutierten AutorInnen – was nicht zuletzt angesichts der unterschiedlichen Traditionen dieser Begriffsgeschichte etwa im angloamerikanischen oder frankophonen Raum doch verwundert) seine »Anmerkungen zum photographischen Bild« bei. Darin hebt er das Moment der »Gleich-Gültigkeit« hervor, wohingegen Wolfgang Brückle sich dem Aspekt der Serialität in der gegenwärtigen Porträtfotografie widmet, der er einen gewissen »enzyklopädischen Appetit« attestiert. Beginnend mit August Sanders epochalem Mappenwerk wird die Entwicklung von Kollektivdarstellungen erörtert, die dahingehend kulminiert, dass immer mehr das Subjekt zum eigentlichen Sujet wird. Diesen Befund führt Sulgi Lie in seinem Aufsatz über die Farrelly Brothers fort, wenn er in deren als Trilogie angelegten Filmen zur Schizophrenie eine verschiedentlich prozessuale Pluralität des Selbst in recht expliziter Umsetzung erkennt (so etwa in Form siamesischer Zwillinge in »Stuck on You«, 2003). Die Rede ist hier ferner von einem »minoritären Ethos«, dessen ProtagonistInnen Lie als »Keimzellen einer progressiven Vergemeinschaftung« ausmacht. Die Tatsache, dass diese Filme der klassischen Hollywoodkomödie zuzuordnen sind (und nicht etwa dem Horrorgenre), deutet auf das subversive und zugleich inklusive Potenzial des Humors hin, das die Farrellys innerhalb der Grenzen dieser Gattungskonventionen inszenieren. In Anbetracht der bis in die Gegenwart reichenden Geschichte der Bilderstürme mutet dieses ebenso leichtfüßige wie lustvolle Zelebrieren jener visuellen Wirkkraft fast schon utopisch an.