Als Fang Binxing, Mastermind der chinesischen Internetzensur, im Mai einen Gastvortrag an der Universität in Wuhan, China, hielt, wurde er von einem Schuh getroffen. Geworfen hatte ihn ein Student aus Protest gegen die berüchtigte »Great Firewall of China«. Der Schuhwerfer konnte unerkannt entkommen, die anderen StudentInnen und ProfessorInnen deckten ihn erstaunlicherweise. Im Internet machte die Schuhattacke gegen den »Vater« der Firewall schnell die Runde. Der Spaß war groß, Fang Binxing stand mit George W. Bush auf einer Stufe. Viele BloggerInnen gratulierten dem Studenten zu seiner Heldentat und boten ihm Geschenke an: Geld, kostenlose Hotelübernachtungen oder ein Virtual Private Network.
Kurz nach der symbolischen Attacke auf die Große Firewall kam ich während eines Peking-Aufenthalts mit einer chinesischen Journalistin ins Gespräch, die meinte, dass die Schuhaktion die beste Nachricht seit Langem sei. Wie sie denn um die lästige Firewall herumkäme? Ganz pragmatisch meinte sie, dass sie es genauso mache wie viele andere, nämlich mit einem VPN (Virtual Private Network). Die Software kostet sie im Jahr ein paar Dollar, kann aber auf mehreren Computern genutzt werden und ist nicht illegal; außer man verbreitet Pornografie oder übt Kritik an der Partei. Noch vor drei Jahren wurden vor allem Proxyserver genutzt, über die der Netzverkehr geleitet wurde, aber nachdem häufig benutzte Proxys immer stärker blockiert wurden, kamen VPNs in Mode. Mit VPNs wird der Datenfluss »getunnelt«, der Datenverkehr rauscht durch eine blickdichte Röhre. Und da solche Lösungen auch in vielen Wirtschaftsbranchen genutzt werden, insbesondere im Finanzsektor, können die Zensoren VPN-Daten auch nicht einfach pauschal blocken. Also nutzen alle, die unzensiert ins Netz wollen, VPN-Software fürs »Fanqiang«, was so viel bedeutet wie »über die Mauer springen«. Hat man diese nicht zur Verfügung, macht sich die chinesische Zensur bemerkbar, sobald man in den chinesischen Pendants zu Google, Facebook, YouTube oder Twitter nach sogenannten »empfindlichen« Worten sucht. Dazu gehören Tiananmen, Falun Gong oder Tibet. Im staatlichen Fernsehen rechtfertigte Professor Fang seinen Job damit, dass auch Google einen Zensuralgorithmus eingebaut habe. Schließlich sei es doch so, dass, sobald man Hitler eingibt, einige Suchergebnisse von dem Hinweis begleitet werden, »aus Rechtsgründen hat Google 1/2/3 Suchergebnisse von dieser Seite entfernt«. Bei etwas näherer Betrachtung sind die Zensurbeispiele natürlich keineswegs vergleichbar, weil der eine Fall nach nachvollziehbaren, transparenten Regeln funktioniert und dies den NutzerInnen auch klar angezeigt wird. In China dagegen gibt es keine offizielle Blacklist mit unerwünschten Stichwörtern.
Die Große Firewall überwinden
Was macht die Große Firewall zum Schreckgespenst? Fest steht, dass immer neue Tricks und Tools es möglich machen, die Firewall zu überspringen. In diesem Jahr kommt noch eine weitere Form der Zensur hinzu, nämlich die Verlangsamung der Übertragungsgeschwindigkeit, sodass zum Beispiel YouTube-Videos einfach nicht geladen werden. Dass die Fanqiang-Software oft direkt auf den chinesischen Markt abzielt, macht etwa eine Anzeige der Anonymisierungssoftware Tor deutlich, die mit dem Comicbild eines bis zur Halskrause geknebelten »Vaters der Zensur« wirbt und keine Fragen offenlässt: »Ich liebe es zu zensieren, ich liebe es zu blockieren, ich liebe hohe Mauern, ich liebe es zu filtern, ich liebe es zu highjacken, aber am liebsten ziehe ich Internetkabel raus. Ich bin kein Experte, ich bin kein Unipräsident, ich bin Fang Binxing, der ›Vater‹ der Großen Firewall. Wenn sie mich ficken wollen, benutzen Sie bitte Tor.« Der solchermaßen Geschmähte hatte im Februar der Zeitung »Global Times« erklärt, dass er selbst sechs VPN-Konten auf seinen Computern installiert habe, um die Firewall zu verbessern. Eine uralte chinesische Strategie besagt: Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen.
Es gibt noch eine ganz andere Perspektive auf die Große Firewall, wie ich zufällig von IT-talentierten Freiburger Teenagern erfuhr. Unter ihnen gelten chinesische IP-Adressen als die sichersten der Welt, deswegen gehen sie ausschließlich mit chinesischer Daten-Camouflage online und vermeiden so den nächsten Brief von deutschen Copyright-Wächtern; eine überraschende Form des Nutznießens, die wiederum an die von Lawrence Lessig angemahnte Kriminalisierung einer ganzen Generation durch das Copyright erinnert. In China trifft die Zensur vor allem BloggerInnen, die den Staat als solchen infrage stellen. Ganze Blogs wurden gelöscht, wie der von hiesigen Medien mit besonderer Aufmerksamkeit bedachte von Ai Weiwei. Dieser Blog scheint aber nicht zur Gänze verschwunden, sondern ist über die Suchmaschine Baidu zu finden; zumindest einzelne Beiträge davon.
Zurück in Deutschland suche ich mit Zhu Ling, die als Kunsthistorikerin und Galeristin in Berlin lebt, nach aktuelleren Meldungen zur Schuhattacke. Die Identität des Studenten ist nach wie vor gedeckt. Auf Weibo, einem Twitter ähnlichen Dienst, finden wir einen Pseudonymeintrag mit dem Foto einer jungen Frau. Alles nicht besonders aufschlussreich, aber das ist wahrscheinlich gut so.
Nach den Blogs ist der Microblogging-Dienst Weibo, die chinesische Version von Twitter, die populärste Plattform im Internet. Vor Kurzem kündigte Sina, die Firma hinter Weibo, eine englischsprachige Ausgabe des Produkts an. Diese Meldung bringt einen auf den Gedanken, dass die Blockade von amerikanischen Plattformen wie Facebook und Twitter vermutlich chinesische Unternehmen stärken soll, bis diese eigene Produkte auf den westlichen Markt bringen können. Viele chinesische Firmen haben in China Erfolg, wenn sie die westlichen Produkte nicht nur kopieren, sondern an die chinesischen Bedürfnisse anpassen. Die Raffinesse von Weibo besteht darin, dass die NutzerInnen ihre Nachrichten mit Kommentaren, Videos und Fotos ergänzen können. Bald werden diese Eigenschaften auch vom Westen adaptiert werden; der »Economist« berichtete kürzlich, die Macher von Twitter hätten sich schon angesehen, was Weibo alles kann. Im Mai wurden 140 Millionen Weibo-NutzerInnen gezählt, insgesamt gibt es geschätzte 485 Millionen InternetnutzerInnen in China, was ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Von diesen NutzerInnen verbringt jede/r im Schnitt 2,7 Stunden am Tag im Internet, schon über 300 Millionen gehen mit ihrem Mobiltelefon online – was den Erfolg von Weibo erklärt. Denn auch hier ist jede Nachricht auf 140 Zeichen begrenzt. Dennoch ist die einzelne Nachricht umfangreicher als in lateinischer Schrift, denn im Chinesischen ist oft schon mit einem Zeichen ein Wort geschrieben. Zhu Ling meint, weil keiner den Staatsmedien traut, spiele Weibo eine so wichtige Rolle. Spaßeshalber hat ein User den Erfolg im Vergleich mit den alten Medien gemessen: »Wenn du mehr als 100 Weibo-Fans hast, dann bist du wie eine Hauszeitung, wenn du mehr als 1.000 Fans hast, dann bist du wie ein Nachrichtenbrett, wenn du mehr als 10.000 hast, bist du wie eine Zeitschrift, wenn du mehr als 100.000 hast, bist du wie eine Stadtzeitung, wenn du mehr als 1 Mio. hast, bist du wie eine Staatszeitung, und wenn du mehr als 10 Mio. hast, bist du wie ein TV-Sender.«1
Menschenfleischjagd
Weibo ist ein Ventil für Proteste. Zuletzt hatte vor allem ein Schnellzugunglück für viel Traffic in den Microblogs gesorgt. Abgestürzte Zugteile sollten nach Anweisung der Regierung von Baggern mit Erde zugeschüttet werden, und die Suche nach Überlebenden sei viel zu schnell abgebrochen worden, hieß es. Daraufhin posteten UserInnen Beweisfotos und berichteten von Angehörigen, die mit ihren Autos vor dem Rathaus von Wenzhou demonstrierten.
Auf Weibo werden auch Korruptionsfälle öffentlich gemacht. »Menschenfleischjagd«, ren rou, heiße diese direkte Methode, erklärt Zhu Ling. Und die geht so: Personen identifizieren, so viel wie möglich über deren persönliches Umfeld herausfinden, auch wenn es gegen den Datenschutz verstößt. Um das familiäre Netzwerk des Bahnsprechers zu veranschaulichen, hat jemand alle Verwandten und ihre öffentlichen Ämter aufgelistet. Gegen diese Form der politischen Mitarbeit hat die Regierung scheinbar nichts einzuwenden.
Zhu Ling meint, dass es heutzutage besser sei, mit seinem juristischen Problem ins Internet zu gehen als zum Petitionsbüro in Peking, der offiziellen Behörde für Beschwerden. Im Internet zeige eine Beschwerde sofortige Wirkung, was von der nationalen Beschwerdestelle nicht zu behaupten sei. Die aus dem ganzen Land Angereisten warteten oft monatelang auf ein Urteil. Beim Protestieren im Internet hingegen bildet sich schnell eine Öffentlichkeit und diese digitale Aufmerksamkeitsballung kann Folgen haben: Lokale Politiker werden entlassen oder unabhängige Untersuchungskommissionen eingerichtet. Wie unabhängig die dann wiederum sind, ist schwer zu sagen. Weibo macht es jedenfalls möglich, dass auch Leute aus entlegenen Orten eine breite Öffentlichkeit erreichen können. Dabei muss nur der Zeitfaktor bedacht werden; denn es kommt darauf an, schneller zu sein als die Zensurbehörde.
Das Grasschlammpferd
Bei den Jahreskonferenzen der chinesischen BloggerInnen geht es um den Austausch darüber, wie man am besten der Zensur entgehen kann. Von 2005 bis 2009 fanden diese Konferenzen jedes Jahr in einer anderen Stadt statt, um für die Behörden nicht greifbar zu sein. 2010 war eine weitere Ausgabe für Shanghai geplant, dann sagte kurzfristig der Veranstaltungsort ab. In irgendeiner Form sollen aber trotzdem informelle Treffen stattgefunden haben, einige Blogger waren schon angereist. Um sich über die Zensoren lustig zu machen, haben die BloggerInnen eine Botschaft auf der Konferenz-Website versteckt. Wenn man auf der zensierten Website Ctrl-A drückt, dann wird ein chinesischer Text sichtbar: »Das Grasschlammpferd wurde harmonisiert.« Die Zeichen für Grasschlammpferd anders betont heißen »Fick deine Mutter« und »harmonisieren« ist ein Euphemismus für Zensur, weil die Partei eine »harmonische Gesellschaft« anstrebt. Der subversive Akt liegt in der Codierung des Spotts über die Politik und nicht etwa im Umgehen der Internetzensur, wie westliche Stimmen gelegentlich behaupten. Das Grasschlammpferd, Cao ni ma, scheint auch so ein Gespenst zu sein, das die westliche Fantasie mit größerem Widerstand aufgeladen hat.
Überhaupt reagiert die Internet-Community auffällig humorvoll auf die politische Landschaft. Ein User fotografiert sich mit Helm und anderem Survival-Equipment, um zu sagen: Leute, nur so überlebt ihr die nächste Fahrt im Schnellzug. Auch der Korruption wird mit Humor begegnet. Im Netz findet Zhu Ling eine ganze Kollektion von Armbanduhren des Chefs der chinesischen Bahn, die er auf Fotos von verschiedenen Situationen trägt. Der Mann verdient gut. Eine Aussage des Pressesprechers der Bahn kursiert inzwischen als geflügelter Satz im Netz. Den Versuch, abgestürzte Zugteile mit Erde zu verdecken, erklärt er damit, dass sich an der Stelle ein Teich befunden habe – »egal, ob Sie es glauben oder nicht, ich glaube es schon«, muss er bei der Pressekonferenz gesagt haben. Diese absurde Formulierung sorgte tagelang für großen Spaß im Netz.
Im Lexikon der parodistischen Ausdrücke steht unter »Chinternet«, es sei das Internet mit chinesischen Eigenschaften. Damit wird auf die Rede vom Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften angespielt, die nach westlichem Verständnis widersprüchliche Kombination von kommunistischer Regierung und hyperkapitalistischem Wirtschaften. Bei Byung-Chul Han findet man eine philosophische Erklärung für dieses Phänomen: »Die Chinesen sehen im Kapitalismus offensichtlich keinen Widerspruch zum Marxismus. Ja, der Widerspruch ist keine chinesische Denkkategorie. Das chinesische Denken entwickelt mehr Neigung zum Sowohl-als-Auch als zum Entweder-Oder.«2 Welche chinesischen Eigenschaften hat nun das Internet? In der Juli-Ausgabe von »Le Monde diplomatique« fordern SoziologInnen von der Pekinger Ivy League, der Tsinghua-Universität, mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Allgemeinheit. In ihrem Aufsatz »Für ein neues China« werden sie deutlich: »Das verknöcherte Denken und die veralteten, nach wie vor angewandten Methoden vergiften nur die Atmosphäre und erzeugen allgemeine Angst. Wenn wir all diese falschen ›Faktoren der Instabilität‹ beiseitelassen könnten, wäre das Bild am Ende viel klarer.«3 Viele Konflikte eskalieren ihrer Meinung nach aus Mangel an Handlungsräumen. Dabei werden diese Konflikte zum Teil im Internet ausgehandelt, könnte man erwidern, doch nicht in westlichen Formaten wie Vereinen oder Verbänden oder in »institutionalisierten Kanälen für die Artikulation gesellschaftlicher Unzufriedenheit«. Vielleicht bestehen gerade im Überspringen dieses Entwicklungsschritts die chinesischen Eigenschaften des Internets.
1 Posting auf weibo.com
2 Byung-Chul Han, Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch. Berlin 2011, S. 85.
3 Shen Yuan, Guo Yuhua, Jing Jun und Sun Liping, Für ein neues China, in: Le Monde diplomatique, deutschsprachige Ausgabe, Juli 2011, S. 5.