Heft 1/2012 - Netzteil


Die Diaspora schlägt zurück

Zeitgenössische israelische Musik und die Suche nach alternativen Identitäten

Ido Lewit


2011 veröffentlichte der israelische Musiker Dudu Tassa das Album »Dudu Tassa and The Kuwaitis«. Das Album besteht aus modernen Interpretationen klassischer irakischer Musik, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von zwei großartigen Musikern der arabischen Welt komponiert wurde: den Brüdern Saleh und Daoud Al-Kuwaity (geb. 1908 bzw. 1910). Tassa ist der Enkel von Daoud Al-Kuwaity. Das Beispiel eines Enkels, der sich in der Diaspora auf die Musik seiner Großeltern zurückbesinnt und diese auf moderne Weise interpretiert, ist symbolisch für ein Phänomen, das ich »Die Diaspora schlägt zurück« nennen möchte. Dabei handelt es sich keineswegs nur um ein einzelnes Phänomen, sondern vielmehr um eine implizite Bewegung an den Randbereichen israelischer Musik des letzten Jahrzehnts, die als kulturelles Symptom einer Suche nach alternativen Identitätsmodellen in der heutigen israelischen Gesellschaft auftritt.
In den Gründungsjahren des Staats Israel führte die Notwendigkeit, den inkohärenten Zusammenprall der Kulturen zu bändigen und zu stabilisieren, zu einer »israelischen Musik«, die einer bestimmten israelisch-jüdischen Identität entsprach. Damit einher ging die Eliminierung anderer Ausdrucksformen jüdischer Identität. Die Suche nach diesen vernachlässigten Identitäten, die Dekonstruktion formaler Modelle und die Rekonstruktion von Alternativen äußern sich in den neuen Sounds, die seit einem Jahrzehnt in der populären israelischen Musik zu hören sind.

In der zionistischen Geschichte wird allgemein zwischen den Wellen jüdischer Einwanderung nach Palästina in den Jahren 1880 bis 1948, vor der Gründung des Staats Israel, und denen nach Erlangen der israelischen Unabhängigkeit unterschieden. Jede Periode wird nach der jeweiligen Herkunft der Menschen, dem sozioökonomischen Profil, der Ideologie, dem kulturellen Erbe, der Motivation und dem historischen Kontext in weitere Gruppen unterteilt. Die Einwanderung vor der Staatsgründung zeichnete sich aus durch eine große Vielfalt von Herkunftsländern wie Russland, Polen, Rumänien, Deutschland, die Tschechoslowakei, die baltischen Staaten, die Länder des Balkans, die Türkei, das Emirat Buchara, Jemen, Irak, Syrien, Marokko, Algerien oder Ägypten. Die gewaltigen Einwanderungswellen der 1950er-Jahre waren in ihrem Umfang einmalig (innerhalb von 18 Monaten verdoppelte sich die Bevölkerungszahl), und da sie zumeist aus Überlebenden des Holocaust, Flüchtlingen aus muslimischen Ländern und ganzen Gemeinden irakischer und marokkanischer Juden und Jüdinnen bestanden, waren sie den mittlerweile alteingesessenen SiedlerInnen hinsichtlich ihrer Weltanschauung, ihren kulturellen Praktiken und ihrem zionistischen Ethos fremd. Diese wiederum befremdeten die Neuankömmlinge, passten sie doch nicht zu dem heroischen, autarken, jungen, hebräisch sprechenden und europäisch aussehenden Modell der von ihnen gepriesenen »Sabras«.
Die extreme multikulturelle Vielfalt und auch die Notwendigkeit, Neuankömmlinge zu zionistischer Hegemonie umzuerziehen, führten zwangsläufig zu einer Vereinheitlichung, sodass der »Turm zu Babel« homogen werden musste. Und so wurden bestimmte Aspekte erkennbarer Diasporakulturen zugunsten des Modells eines bzw. einer »im Lande Israel neu geborenen Juden/Jüdin« unterdrückt. Dies betraf vor allem die Sprache. In Israel sollte hebräisch gesprochen werden, und alle lokalen Sprachen der Diaspora wie Jiddisch, Ladino, Russisch, Deutsch, Jemenitisch oder andere von Juden und Jüdinnen gesprochenen arabischen Dialekte waren im Allgemeinen unerwünscht.
An einer charakteristischen Diasporakultur widersprach im Grunde alles der Vorstellung von der Schaffung eines neuen, einheitlichen Modells jüdischer Identität. Die neuen Juden und Jüdinnen sollte gänzlich »aus Israel« sein; und so wie ihr Hebräisch rein und ohne diasporischen Akzent sein sollte, sollten auch ihre kulturellen Ausdrucksformen – auch die Musik – keine Spuren ihrer diasporischen Vergangenheit aufweisen.

Die populäre israelische Musik war in den Gründungsjahren des Staats meist beeinflusst von Volksmusik und ArbeiterInnenliedern aus Russland, dem Tango, dem französischen und italienischen Chanson, Jazz, Varieté und Orchesterballaden à la Hollywood. Viele dieser Lieder waren leicht orientalisch angehaucht, aber nur so weit, dass sie das Verhältnis der neuen Juden und Jüdinnen zu ihrem Land im Herzen des Nahen Ostens zum Ausdruck brachten, ohne jedoch die Hörgewohnheiten europäischer Juden und Jüdinnen zu irritieren oder eine bestimmte diasporische Herkunft zu vermitteln. Ironischerweise sollte sich die »israelische Musik« durch die Vermeidung jeglicher diasporischer jüdischer Merkmale schließlich zu einem Mischmasch westlicher Musikstile und unspezifischer orientalischer Elemente entwickeln, der wenig mit der eigentlichen jüdischen Kultur zu tun hatte.
Dieses Modell erlebte seine Blütezeit in den 1950ern und 1960ern und wurde dann von jüngeren Generationen israelischer MusikerInnen abgewandelt, allerdings in Richtung westlicher Rockmusik oder aber einer popmusikalischen Mischung aus Musiktraditionen des Nahen Ostens, der sogenannten »mediterranen« Musik oder »Misrachit«. Keine dieser Richtungen stellte den Ausschluss spezifischer diasporischer Traditionen für israelische Ohren infrage. Während die Hinwendung zur westlichen Rockmusik auf die Suche nach einer alternativen Identität jenseits des Mittelmeers hindeutete, vermittelte die »mediterrane« Richtung eine integrative ethnische Identität durch einen Sound, der, wie schon zuvor, für europäische Ohren »angenehm« war und keine spezifische diasporische Tradition implizierte. Diesbezüglich fand erst im letzten Jahrzehnt ein echter Wandel statt.
Neben Dudu Tassa und seiner modernen Interpretation der irakischen Musik seiner Großeltern, die ich zu Beginn als Beispiel für eine Bewegung der Wiederbelebung und Neuinterpretation musikalischer Traditionen aus der Diaspora angeführt habe, möchte ich noch einige andere Beispiele der zeitgenössischen israelischen Populärmusik nennen, die zu dieser Bewegung gehören.
Das Ensemble Yemen Blues um Ravid Kahalani verbindet jemenitische Lieder mit Blues-Harmonien, funkigen Grooves und jazzigen Improvisationen. Ähnlich der Wirkung von Tassas Produktion, deren arabische Songtexte, Instrumentierungen und Harmonien inmitten der zeitgenössischen israelischen Popszene das Unterdrückte in der israelischen Kultur offenbaren, sorgen die fremdartigen Klänge jemenitischer Tonleitern und Liedtexte im Yuppie-Sound des funkigen, leichten Jazz für eine Verfremdung der gängigen jüdisch-israelischen Identität und offenbaren deren beschwiegene Komplexität.
Oy Division spielen traditionelle Klezmer-Musik mit Einflüssen aus dem jiddischen Kabarett auf Jiddisch gesungen mit Punkrock-Attitüde. Der Einsatz des Jiddischen, einer Sprache, die in der israelischen Hegemonie als »tote Sprache« gilt und mit dem Alten und dem Holocaust in Verbindung gebracht wird, bringt eine weitere vom israelischen Establishment unterdrückte Kultur ans Licht.
Habiluim singen zwar auf Hebräisch, zeigen jedoch Einflüsse jiddischer Kultur und Musik in Verbindung mit zeitgenössischen Punkrhythmen. Die Band ist ein hervorragendes Beispiel für einen postmodernen Act. Die Verwendung von Supergenres, Pastiches sowie musikalischen, Liedtext- und kulturellen Zitaten und Rekontextualisierungen offenbart die politischen Mechanismen der leichten Unterhaltung und die Textualität und Kontextualität kultureller Produkte, wobei das Auftreten als jiddische Punkband eine ähnliche Wirkung erzeugt wie bei Oy Division. Shmemel ist eine weitere Band, die jüdische Traditionen Osteuropas in ein zeitgenössisches Gewand aus Funkrock und Disco hüllt. Zwar ist die Band alles andere als explizit politisch, verwendet bevorzugt Nonsenstexte und präsentiert sich eher unbekümmert, doch stellt der Einsatz jiddischer Traditionen im Dienste ihrer »Spaßmusik« eine subversive Geste gegenüber gängigen Assoziationen osteuropäischer Traditionen mit Pogromen, Antisemitismus und Leid dar. Orphaned Land schließlich vermischt Folk und klassische arabische Musik mit Heavy-Metal-Ästhetik. Beides wird wiederum eingebettet in eine Welt, die von Bibel, Koran und den mystischen und okkulten Strömungen des Judentums und des Islams inspiriert ist. Diese Verschmelzung alter jüdischer und islamischer Konzepte zu einer spirituellen und musikalischen Einheit verweist auf die gemeinsame Basis und inhärente Harmonie der beiden Religionen, die nach gängiger israelischer Meinung als so gegensätzlich gelten.
Mit Ausnahme von Orphaned Land (bei denen weniger eine geografische Diaspora als eine mystische Vergangenheit mitschwingt) ergibt sich die politische Wirkung dieser Bands aus ihrem Schwerpunkt auf eine bestimmte Herkunftsdiaspora, im Gegensatz zu den verschiedenen ethnischen Einflüssen, wie man sie aus »World Fusion«-Acts kennt. Die Wahl der jeweiligen Diaspora entspricht im Allgemeinen den tatsächlichen ethnischen Wurzeln der MusikerInnen, und auch dabei geht es meist um die Suche nach Identität.
Eine weitere wichtige Eigenschaft dieser Acts ist die Verschmelzung der diasporischen Herkunft mit einer modernen musikalischen Ausdrucksform wie Jazz, Funk, Punk, Heavy-Metal oder Dance. Dies setzt die MusikerInnen von ihrer diasporischen Vergangenheit ab, verortet sie in einem lokalen und modernen Kontext und definiert ihre Suche nicht als simple Rückkehr zur Generation der Großeltern, sondern als Suche nach einer neuen Identität, die auf ihrer Vergangenheit beruht und diese reflektiert und respektiert, anstatt sie auszulöschen.
Da diese Musikbewegung eine Gesellschaft voraussetzt, die sich weiterentwickelt und keine Angst davor hat, sich selbst als fragmentarisch zu begreifen und Vielfalt und Polyphonie als Zeichen von Harmonie zu verstehen, kann man nur hoffen, dass sich diese Art des sozialen und kulturellen Ausdrucks von einer Randerscheinung zu einer dominierenden Strömung der Musik und Kultur Israels entwickelt.

 

Übersetzt von Anja Schulte