Heft 1/2012 - Bon Travail


Die Prekarität des Kulturellen

Zur Rolle von Kunstschaffenden im flexiblen Kapitalismus

Pascal Jurt


Als die Diskussion rund um Prekarität Mitte der 2000er-Jahre auf ihrem Höhepunkt stand, begann man auch im Feld der Kunst zunehmend auf den Begriff zu stoßen. So sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe bemerkenswerter Essays über die Zunahme der Prekarisierung im Kulturbereich1 und die Rolle von KünstlerInnen im flexiblen Kapitalismus erschienen.2 Im Gegensatz zu anderen Großthemen der letzten Jahre, etwa die »Idee des Kommunismus«, »Speculative Realism« oder »Kommende Aufstände«, die oft im philosophischen Ideenhimmel stecken bleiben,3 lenkt die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Prekarisierung den Blick ganz konkret in das Herz des Kapitalismus: auf die Arbeits- und Produktionsverhältnisse.
Die Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK), in der sich zum Beispiel freiberufliche KünstlerInnen in Deutschland mittels staatlicher Zuschüsse günstig kranken- und rentenversichern können, zeigen einen deutlichen Anstieg von dort gemeldeten und vor allem auch prekarisierten KünstlerInnen. 2010 sind in Deutschland 59.507 bildende KünstlerInnen in der KSK gemeldet, 2001 waren es noch bedeutend weniger, nämlich 45.180. Durchschnittlich verdient im Jahr 2010 eine bildende Künstlerin 11.103 Euro, der männliche Künstler 15.169 Euro. Bei einem beträchtlichen Teil von KünstlerInnen sichert das unregelmäßige Einkommen also nicht die Existenz.4
Nach wie vor schafft es nur ein Bruchteil (ca. zwei Prozent der AbsolventInnen von Kunsthochschulen), von der Kunst zu leben. Die meisten sind in Mehrfachbeschäftigungsmodelle oder in Selbstausbeutungsverhältnisse involviert und stehen unter zeitlichem Druck, der wenig Möglichkeiten für freies und selbstbestimmtes Arbeiten lässt. Vor allem für KünstlerInnen, die im Subfeld der »eingeschränkten Produktion« (Bourdieu) tätig sind, wird die Situation immer schwieriger. Selbst bei hoher künstlerischer Sichtbarkeit, Präsenz und Partizipation bleibt Prekarität ein drohendes Schicksal.5

Prekarisierung und neuer Arbeitsbegriff
Neben den klassisch soziologischen Untersuchungen von Serge Paugam, Patrick Cingolani, Pierre Bourdieu und Robert Castel kam es im Feld der Kunst vor allem zu einer Rezeption von Begrifflichkeiten aus dem Bereich der »immateriellen Arbeit«, den »gouvernmentality studies«, der postfordistischen Wissensarbeit, des »capitalisme cognitif« und des »neuen Geists des Kapitalismus«.6 Studien aus diesem Feld haben gemeinsam, dass sie die Entgrenzung von Arbeit und Leben thematisieren. Die Probleme des Ineinanderfallens von Arbeit und Freizeit sowie physischer Orte von Produktion und Reproduktion wurden reflektiert und der »Blick für solche Prekarisierungsverhältnisse, die über das unmittelbare Lohnarbeitsverhältnis hinausgehen und nun potentiell alle Lebensverhältnisse umfassen«7, geschärft.
Luc Boltanski und Ève Chiapello haben den netzförmig organisierten Kapitalismus als konnexionistische, »projektbasierte cité«, der seine Legitimation aus der Kooptation künstlerischer Kritiken und Forderungen nach Autonomie, Kreativität und Selbstverwirklichung bezieht, in ihrem inzwischen zum Standardwerk zeitgenössischer Gesellschaftsbeschreibung mutierten Buch »Der neue Geist des Kapitalismus« anhand akribischer Inhaltsanalysen von Lehr- und Handbüchern der Managementliteratur präzise analysiert. Kritische Gegen- und Lebensentwürfe eines nonkonformistischen Bohememilieus konnten mit dem Leitbild der Flexibilität, Eigenverantwortung und der mit Metaphern des Nomadismus verbundenen Mobilität, aber auch mit dem Buzzword der Kreativität des Neoliberalismus assimiliert werden.
Paolo Virno, der in der »Grammatik der Multitude« die Aktivitäten von postfordistischen ArbeiterInnen mit der Tätigkeit von KünstlerInnen vergleicht, hat darauf hingewiesen, dass das Kapital nicht nur das Potenzial der Arbeitskraft, sondern auch das Potenzial des schöpferischen Arbeitsvermögens beansprucht und somit versucht, den gesamten Lebensprozess von Individuen zu regulieren. Er spricht von einer Politik als Produktivkraft.8 Virno geht von einer substanziellen Homogenität von Arbeit und Nicht-Arbeit aus: »Mit gutem Grund lässt sich also genauso gut behaupten, dass man nie zu arbeiten aufhört, wie man sagen kann, dass immer weniger gearbeitet wird.«9
Kai van Eikels hat jüngst im Anschluss an Virno den Begriff der Nicht-Arbeit in die Debatte über die Entgrenzung von Arbeit und Leben ins Spiel gebracht. Er beschreibt die Nicht-Arbeit als das Andere der Arbeit und fordert, auch Nicht-Arbeit als Übung im politischen Handeln zu begreifen.10
Dass das Selbst kein Rückzugsort, sondern Produktivkraft geworden ist, betont auch Diedrich Diederichsen in seinem Essay »Mehrwert und Kunst«. Nicht mehr nur gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeit, sondern auch all die Investitionen der KünstlerInnen in Ausbildung, experimentelle Exzesse, Kneipen-, Ausstellungs- und Konzertbesuche fließen in den Wert künstlerischer Arbeiten mit ein. Mehrwert erzielen KünstlerInnen, »indem sie als self-employed Kulturarbeiter in der Lage sind, unbezahlte Extrazeit und oft informelles Extra-Wissen von anderen täglichen, darunter ökonomischen und überlebensnotwendigen Tätigkeiten abzuziehen und in die Konzeption, Entwicklung und Produktion von Kunstwerken zu stecken. Je mehr sie dabei eine Form von Kunstwerken entwickeln, die ihre (möglichst) permanente und oft performativ vermittelte Anwesenheit erfordern, desto höher wird der Mehrwert, den sie erzielen – auch wenn der sich nicht zwingend immer auch in einem entsprechenden Preis realisieren lässt.«11
Die Tatsache der Entgrenzung von Arbeit und Freizeit wird in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften, und hier vor allem in der Arbeitsmarktsoziologie, die sich nicht für postoperaistische Theoriebildung interessiert, ebenfalls festgestellt. In Teilen der deutschsprachigen Arbeitsmarktforschung werden Künstlermärkte als ein mögliches Modell für andere Teilarbeitsmärkte gesehen. Kulturelle Arbeitsorganisationen wie hohe Flexibilität, Mobilität und Risikobereitschaft und die künstlerischen Subjektivitäten einer kompromisslos wertrationalen Bindung an die eigene Arbeit sollen auf andere Arbeits- und Produktionsbereiche übertragen werden.12

Widerstands- und Artikulationsformen gegen Prekarisierung
Welche Artikulationen und Widerstandsformen gibt es gegen Selbstverwirklichungspraktiken wie eben Flexibilität oder Eigenverantwortung und spätkapitalistische Legitimationsdiskurse? Welche zeitgenössischen Formen (künstlerischer) Gesellschaftskritik, die als gegenhegemoniale Antworten auf die neue, projektartige Form des Kapitalismus verstanden werden können?
In Frankreich hat die Ausweitung von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen bereits 2006 zu einer Bewusst- und Mobilmachung geführt. So führten die zahlreichen und massiven Proteste gegen den neoliberalen Ersteinstellungsvertrag (CPE) ohne Kündigungsschutz dazu, dass die Regierung de Villepin diesen Vertrag zurücknehmen musste. Toni Negri begrüßte bereits 1995 die damaligen Streiks gegen die Deregulierungspläne der Regierung Juppé in einem Interview in der poplinken Zeitschrift »Die Beute« euphorisch und sah schon früh im Kampf »eine tiefe Identifikation des gemeinsamen Interesses zwischen dem metropolitanen Proletariat, den TeilzeitarbeiterInnen, den prekär Beschäftigten und den ›sans papiers‹, die die Prekären und Flexibilisierten auf internationalem Niveau sind«.13 Die Widerstandsformen der im Kultursektor beschäftigten TeilzeitarbeiterInnen bei Theater- und Musikveranstaltungen (»intermittants du spectacle«14), die sich gegen die Reform ihrer Arbeitslosenversicherung wehrten und zahlreiche Festivals im Sommer 2003 lahmlegten, führten zusätzlich zu neuen Koalitionen zwischen unterschiedlich von der Prekarisierung Betroffenen. An den zahlreichen universitären Vollversammlungen 2006 waren vor allem auch KulturarbeiterInnen beteiligt, die sich seit den Aktionen vom Juli 2003 immer besser organisiert hatten und inzwischen zu SpezialistInnen in Sachen Arbeitsrecht geworden waren. So wurden im Umfeld der Konflikte neue rahmende Diskurse und kollektive Positionen entwickelt, mit der Folge, dass in kohärenter Weise Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausgeübt werden konnte. Entscheidend war, dass die neuen Bündnisse zwischen verschieden Prekarisierten ihre sozialen Kämpfe nicht nur auf einen bestimmten Bereich begrenzt wissen wollten. So nannten sich zum Beispiel die studentischen Streikkomitees »Koordination der Studierenden, jungen Arbeitenden, Kulturprekären und prekär Beschäftigten«.
Im Zuge der breiten Studierendenproteste des Jahres 2009 in Österreich, der Schweiz und in Deutschland, die von der Akademie der bildenden Künste in Wien ausgingen, kam es zu neuen Praktiken selbstorganisierter Produktion von politischer Kritik gegen das ideologische Leitbild der »Wissensgesellschaft«. Selbstreflexiv konstatierte ein »Wiener Kollektiv« von Lehrenden der Akademie der bildenden Künste, dass man »teilweise und prekär beschäftigt, selbst initiativ werden und für eigene Finanzierung zu sorgen, Drittmittel einwerben und sich als mobilisierter Netzwerker in eigener Regie profilieren«15 müsse.
Eine ähnliche Konstellation ergab sich auch in den jüngsten Debatten um Gentrifizierung und die »kreative Stadt« als ideologisches Leitbild. Der Stadtforscher Klaus Ronneberger hat darauf hingewiesen, dass es ein geschickter Schachzug der Hamburger KünstlerInneninitiative war, ihre Intervention mit der »Kreativitätsmetapher« zu verknüpfen, die sowohl mit künstlerischem Handeln als auch mit unternehmerischer Produktivität assoziiert wird. Den KünstlerInnen gelang es aber auch, den Diskurs der »kreativen Stadt« als Widerspruchsbeziehung zu artikulieren und damit den herrschenden Sinneffekt zu durchbrechen. Dazu trug auch die politische Vernetzung der KünstlerInneninitiative mit anderen Gruppen und Organisationen bei, die unter dem Label »Recht auf Stadt« organisiert wurden.16 Dass die Koalition von KünstlerInnen und PolitaktivistInnen nicht überall funktioniert, zeigt sich wiederum in Berlin, wo im Zuge der Diskussionen um Gentrifizierung immer noch ein ziemlich gespanntes Verhältnis zwischen linken AktivistInnen und der kritischen Kunstszene (was sich real in der »Verwüstung« des Künstlerhaus Bethanien manifestierte) vorherrscht. Das rührt nicht nur daher, dass AkteurInnen verschiedener Felder unterschiedlichen Regeln ausgesetzt sind, sondern auch an den Empfindsamkeiten einer Politfraktion, die, wie dies Andreas Siekmann pointiert selbstreflexiv in Bezug auf die »Zeichen-Entleerungsmaschine Kunst« auf den Punkt bringt, einen Generalverdacht gegenüber KünstlerInnen hegt, die »aus einem politischen oder sozialen Engagement oder einer Thematik (heraus) billigen Urlaub im Elend anderer Leute (Greil Marcus)«17 macht.

Soziologische Herangehensweise – militante Untersuchung
Diedrich Diederichsen brachte gegen die Kooptation durch die kapitalistische Kreativwirtschaft und die »Ökonomisierung des Kulturellen«18 jüngst folgende Forderungen ins Spiel: »Die Wieder-Versachlichung der personalisierten Techniken, das Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die nicht vom Zwang zur Reproduktion aufgefressen werden, die Wieder-Aneignung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivierung, Re-Reifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen.«19 Wie könnten diese Forderungen konkret umgesetzt werden?
Bis jetzt gibt es im Diskurs über die Prekarisierung unter Kulturschaffenden immer noch wenige empirisch gesättigte Studien, die auch die subjektiven Dimensionen der Arbeits- und Lebensbedingungen von KünstlerInnen in die Analyse mit einbeziehen. Demgegenüber existieren einige Versuche, die sich an Pierre Bourdieus sozioanalytischer Herangehensweise aus »La misère du monde« orientieren.20 Der Sammelband »La France invisible«21 soll, wie die HerausgeberInnen, der Soziologe Stéphane Beaud und die beiden Journalistinnen Jade Lindgaard und Joseph Confavreux, im Vorwort schreiben, Ausgegrenzten, Verstoßenen und Herabgesetzten ein Gesicht und eine Geschichte geben. Entscheidend ist bei dem Buch »La France invisible«, dass das unsichtbare Frankreich nicht nur die Situation von Armen und Anteilslosen sichtbar macht, sondern auch das System zeigen will, das sie hervorbringt. Das Buch begnügt sich nicht damit, subjektive Zeugnisse und Interpretationen einzuholen, sondern weist auch auf die Lücken der Repräsentation der sozialen Wirklichkeit in verschiedenen Feldern hin.
Anne und Marine Rambach sorgten ihrerseits 2001 in Frankreich mit dem Buch »Les intellos précaires« für Aufsehen.22 Sie verfolgen einen ähnlichen Ansatz. Es handelt sich um eine Studie, die ausschließlich die Prekarisierung unter Kulturschaffenden behandelt. In einem (noch unveröffentlichten) Referat beschrieben sie ihre Herangehensweise und ihr Erkenntnisinteresse folgendermaßen:
»Als wir unsere Untersuchung begonnen haben, hatten wir bereits ein Konzept im Kopf, dem wir den Namen ›les intellos précaires‹, die prekarisierten Intellektuellen, gaben. Das wurde dann der Titel unseres Buchs. Prekarisierte Intellektuelle, das waren zunächst vor allem wir selbst: Personen, die im kulturellen und intellektuellen Feld arbeiten und auf eine Art und Weise leben, die als unüblich gilt, ohne fixe Arbeit und ohne fixes Gehalt [...]. Unserer Definition nach werden die prekarisierten Intellektuellen aus jener Population von Kultur- und MedienarbeiterInnen gebildet, die weder Angestellte noch Beamte sind. In dieser Phase der Konzeption unserer Untersuchung dachten wir vor allem an prekarisierte JournalistInnen, an die vielen Prekarisierten im Verlagswesen, an AutorInnen wie wir es sind, an VertragslehrerInnen, an ArbeiterInnen im Multimedia-Bereich, an den Non-Profit-Sektor. Und an ForscherInnen ohne Planstelle [...]. Wir sind keine Soziologinnen und wir haben keinerlei wissenschaftliche Qualifikation, um dieses Thema zu behandeln; wir sind Schriftstellerinnen. Unsere zentrale Qualifikation ist die persönliche Involviertheit in das Thema: Was Prekarität betrifft, so sind wir zweifellos ›ExpertInnen‹ – in dem Sinn, in dem zum Beispiel Organisationen von AIDS-PatientInnen eingefordert haben, eine Expertise zu ihrer Krankheit liefern zu können. Unser Vorgehen sollte also ein dezidiert subjektives und empirisches sein. Die Forschungen mussten sich jedoch umso mehr an die Empirie halten, als es in dramatischer Weise an Bezugspunkten mangelte.«23
Bei den von Bourdieu inspirierten Untersuchungen wird selten die Frage nach Potenzialen politischer Subjektivitäten, welche über die widrigen Umstände hinausweisen, gestellt. Da die Prekarisierung von Subjektivitäten mit postmodern-postideologischem Habitus durchaus auch als Emanzipation von starrer fordistischer Routine erfahren wird (man denke nur an die affirmative »digitale Boheme«, aus deren Reihen sogar kurzfristig über eine Idee von »linkem Neoliberalismus« fantasiert wurde), sollten Analyse und Kritik davor bewahren, prekarisierte Künstlerinnen nur als isolierte und fragmentierte Opfer neoliberaler Politik wahrzunehmen. Dies würde Betroffene auch zu sehr entsubjektivieren und erneut einen »Blick von oben« installieren.
Bei den meisten Studien zur Prekarisierung gibt es keine Bezugnahme auf die Konzepte der »témoignage« der Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelias Castoriadis, Claude Lefort und Daniel Mothé24 oder zur »militanten Untersuchung« des Operaismus25. Dies mag zum einen feldinterne Gründe haben und mit Bourdieus Konzeption des Intellektuellen zusammenhängen (die sich grundlegend von militanten Konzeptionen unterscheidet), aber zum anderen auch auf Rezeptionsschwierigkeiten und Missverständnissen der internationalen Zirkulation von Ideen beruhen.
Dabei könnte das Wissen um die »con-ricerca« (Mituntersuchung), ein Konzept, das im Italien der Nachkriegsjahre von kommunistischen und sozialistischen Parteidissidenten im Zuge des Operaismus entstanden ist, zur Erweiterung der Prekarisierungsdebatte beitragen. Auch die Wurzeln des »Operaismus« liegen bekanntlich in den Anfängen der Soziologie, nämlich der italienischen Industriesoziologie. Der linksliberale Unternehmer Olivetti hatte um 1960 junge SoziologInnen und PsychologInnen eingeladen, die Arbeitsbedingungen, auch im Hinblick auf die »Humanisierung der Arbeit«, in seinem Unternehmen zu untersuchen. Das war der Ausgangspunkt der Studien der frühen Operaisten wie Romano Alquati, die ausgezeichnete Beschreibungen des industriellen Arbeitsprozesses und der damit zusammenhängenden Denk- (und Widerstands-)Formen lieferten.26
Im Gegensatz jedoch zu den klassisch soziologischen Herangehensweisen fallen in den »militanten Untersuchungen« die teilnehmende und die politisch intervenierende Position mit der theoretischen Analyse zusammen. Die Abgrenzung von der klassischen Untersuchung wissenschaftlich-objektivistischer Leseart und Analyse der stark veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen von FabrikarbeiterInnen könnte wichtige Impulse für Praktiken und Artikulationen von Kognitivproletariern bieten: Fragen der Zusammensetzung der Orte, an denen man tätig ist, die Fragmentierung des Sozialen, politische Haltungen und die Möglichkeit autonomer (Selbst-)Organisierung stehen im Zentrum der »militanten Untersuchungen«.
Alain Ehrenburg hat in seinem jüngsten Buch »Das Unbehagen der Gesellschaft« darauf hingewiesen, wie »Ungleichheiten als persönlicher Misserfolg« verarbeitet und »Prekarität, Ausgeschlossenheit und Arbeitslosigkeit [...] narzisstische Wunden zu(fügen), deren Hauptkennzeichen eine Abnahme der Selbstachtung und in der Folge die Erschütterung des Selbstvertrauens« seien.27 Obwohl er nicht Organisierung fordert oder zu widerständigen, kollektiven Aktionsformen aufruft, trifft er einen wunden Punkt mit seiner Zeitdiagnose, die recht anschaulich macht, wie kollektiv erfahrene Probleme oft individualisiert im Therapieraum verarbeitet werden.
Dass es in einem Feld, das seinen Subjekten extrem nomadenhafte, transnationale Existenzformen und Arbeitsweisen mit entsprechenden Mobilitäts- und Flexibilitätszwängen abverlangt, äußerst schwer ist, sich gegen selbsttechnologische Kontrollformen zu wehren, liegt auf der Hand. Das (nicht nur idiosynkratische) Sprechen über Produktions- und Arbeitsverhältnisse im kulturellen Sektor könnte also helfen, gegen eine Politik der »Dethematisierung« von sozialen Kämpfen vorzugehen und vielleicht sogar kollektive, klassen- und fraktionsübergreifende Widerstandspotenziale gegen die Zumutungen des flexiblen Kapitalismus freizusetzen.

 

 

1 Vgl. Isabell Lorey, Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion. Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität. Wien 2007, S. 121–136; Sønke Gau/Katharina Schlieben (Hg.), Work to do! Selbstorganisation in prekären Arbeitsbedingungen. Nürnberg 2009.
2 Vgl. Angela McRobbie, »Jeder ist kreativ«. Künstler als Pioniere der New Economy?, in: Jörg Huber (Hg.), Singularitäten – Allianzen. Wien/Zürich 2002, S. 37–60.
3 Vgl. Comité Invisible, L’insurrection qui vient. Paris 2007; Alain Badiou/Slavoj Žižek, L’Ideé du Communisme. Conférence de Londres 2009. Paris 2010; Levi Bryant/Nick Srnicek/Graham Harman (Hg.): The Speculative Turn: Continental Materialism and Realism. Melbourne 2011.
4 Der Versichertenbestand auf Bundesebene nach Berufsgruppen, Geschlecht und Alter zum 1. Januar 2011: www.kuenstlersozialkasse.de/wDeutsch/ksk_in_zahlen/statistik/versichertenbestandaufbundesebene.php. Durchschnittseinkommen der aktiv Versicherten auf Bundesebene nach Berufsgruppen, Geschlecht und Alter zum 1. Januar 2011: www.kuenstlersozialkasse.de/wDeutsch/ksk_in_zahlen/statistik/durchschnittseinkommenversicherte.php.
5 Vgl. Ulf Wuggenig, »Künstlerin: ›Ich kann sagen: Nächstes Jahr ist okay! Mehr kann ich nicht sagen‹«, in: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Michael Gemperle (Hg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch. Konstanz 2010, S. 509–510.
6 Vgl. Oliver Marchart, Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft. Zur Analyse des Definitionskampfs um die zunehmende Prekarisierung von Arbeit und Leben, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 36 (3), 2010, S. 413–429.
7 Ebd., S. 415.
8 Vgl. Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Wien 2005, S. 84.
9 Ebd., S. 45.
10 Vgl. Kai van Eikels, Nichtarbeitskämpfe, in: Jörn Etzold/Martin J. Schäfer (Hg.), Nicht-Arbeit. Politik, Konzepte, Ästhetiken. Weimar 2011, S. 16–39.
11 Diedrich Diederichsen, On (Surplus) Value in Art. Rotterdam/Berlin/New York 2008, S. 69 f.
12 Vgl. Carroll Haak/Günther Schmid, Arbeitsmärkte für Künstler und Publizisten – Modelle der künftigen Arbeitswelt, in: Leviathan 2, 2001, S. 156–178; Sophie-Thérèse Krempl, Paradoxien der Arbeit, oder: Sinn und Zweck des Subjektes im Kapitalismus. Bielefeld 2011.
13 »Verlangt das Unmögliche, mit weniger geben wir uns nicht zufrieden«. Interview mit Toni Negri, in: Die Beute. Politik und Verbrechen, Winter 1996/97, S. 101.
14 Pierre-Michel Menger, Les intermittents du spectacle. Sociologie du travail flexible. Paris 2011.
15 Wiener Kollektiv, »Spät im Wintersemester«, in: Unbedingte Universität (Hg.), Was passiert. Stellungnahmen zur Lage der Universität. Zürich 2010, S. 39.
16 Vgl. »Es geht um ein urbanes Rauschen. Klaus Ronneberger im Gespräch über die Proteste im Hamburger Gängeviertel, in: Jungle World, 41/2010; http://jungle-world.com/artikel/2010/41/41881.html; vgl. Christoph Twickel,
Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für alle.
Hamburg 2010.
17 »Auf der Suche nach den Keimen des Möglichen«. Alice Creischer und Andreas Siekmann: Interview mit Klaus Ronneberger am 25.10.1999, in: Andreas Siekmann, Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. From: Limited Liability Company. Köln 2000, S. 451.
18 Pierre Bourdieu, Kultur in Gefahr, in: ders., Gegenfeuer 2. Konstanz 2001, S. 82–99; Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993, S. 260.
19 Diedrich Diedrichsen, Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2011, S. 128.
20 Vgl. Daniela Böhmler/Peter Scheiffele: Überlebenskunst in der Kultur der Selbstverwertung, in: Franz Schultheis/Kristina Schulz (Hg.), Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Sozioanalyse alltäglichen Leidens in Deutschland. Konstanz 2005; Pascal Jurt, Musikerin: »Ich habe zwei Jahre nur von der Band gelebt«, in: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Michael Gemperle (Hg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch. Konstanz 2010, S. 397–411; Wuggenig, »Künstlerin: ›Ich kann sagen: Nächstes Jahr ist okay! Mehr kann ich nicht sagen‹« (siehe Fußnote 5).
21 Stéphane Beaud/Joseph Confavreux/Jade Lindgaard (Hg.), La France invisible. Paris 2006.
22 Anne et Marine Rambach, Les Intellos précaires. Paris 2001.
23 Prekarisierte ForscherInnen, Vortrag gehalten bei der Veranstaltung der IG Externe LektorInnen und freie WissenschafterInnen »Intellektuelle zwischen Autonomie und Ausbeutung. Zur Prekarität wissenschaftlicher und kultureller Produktion« am 6. Dezember 2002. Übersetzung: Eva Krivanec.
24 Andrea Gabler, Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe »Socialisme ou Barbarie« (1949–1967). Hannover 2009.
25 Vgl. Christian Frings, Organisationskritik im Operaismus. Zum Andenken an Romano Alquati, 1935–2010, in: Michael Bruch/Wolfram Schaffar/Peter Scheiffele (Hg.), Organisation und Kritik. Münster 2011, S. 185.
26 Vgl. Romano Alquati, Klassenanalyse als Klassenkampf. Arbeiteruntersuchung bei FIAT und OLIVETTI. Frankfurt am Main 1974; Steve Wright, Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin/Hamburg 2005.
27 Alain Ehrenburg, Das Unbehagen der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2011, S. 429–430.