Heft 1/2012 - Bon Travail


Prekärer SM

»Anarkink« und Arbeit in der türkischen Gegenwartskunst

Süreyyya Evren


Wir alle wissen, wie einfach es ist, für die Rechte unterdrückter ArbeiterInnen einzustehen. Für ArbeiterInnen in prekären Arbeitsverhältnissen zu sprechen, ist dagegen nicht so leicht. Dies ist stets kompliziert. Der türkische Künstler Burak Delier machte vor Kurzem mit ein paar erfrischenden Arbeiten über das Wesen des zeitgenössischen Kapitalismus, wie er sich in prekärer Arbeit und in der Gegenwartskunst manifestiert, von sich reden. Deliers Interesse gilt den widersprüchlichen Beziehungen der Verhaltensinstrumentarien, welche im Kapitalismus (dessen Technologie, Werkzeugen, Prozessen), in der Kunst und in der Politik zum Einsatz kommen.
In »Required Skills« (2011) beschäftigt sich Delier mit dem Thema Bewerbung. Wenn sich KünstlerInnen für eine Stelle in einer Firma bewerben würden, wie groß wären ihre Chancen, genommen zu werden? Ausgehend vom Typus des »Teamkollegen« bzw. der »Teamkollegin« in einem wirtschaftlichen Kontext sollte diese fiktive Fragestellung die ambivalente Funktion von Kunst in der heutigen Gesellschaft hinterfragen, indem sie parallele Arbeitsweisen im Kunstbereich und im Wirtschaftsleben herausstellt.
Delier entwarf ein »Bewerbungsformular«, um die subjektiven Attribute des Kulturschaffenden mit jenen in der Wirtschaft gefragten zu vergleichen. Dazu suchte er aus 100 Bewerbungsformularen die am häufigsten und die am seltensten nachgefragten Eigenschaften heraus. So war zum Beispiel die gefragteste Qualität »Kommunikationsfähigkeit« und die zweithäufigste »akademischer Abschluss«. Delier bewertete nun die KünstlerInnen anhand dieser Parameter. Letztendlich bildete er damit einen zeitgenössischen »SklavInnenmarkt« ab und zeigte etwa die HerrInnen beim Begutachten von Zähnen. Allerdings wird niemand zu einem Dasein als KünstlerIn gezwungen. Und es gibt auch keinen Schmuggel von KünstlerInnen. Alles geschieht einvernehmlich.

In seiner Einzelausstellung »I slowly come to discover that it is more meaningful and subversive to engage in experimental investigations on art than carrying out some self-content, easily commoditized anarchist gestures« (Ich habe nach und nach erkannt, dass es bedeutungsvoller und subversiver ist, Kunst experimentell zu erforschen, als irgendwelche selbstzufriedenen, leicht zu kommodifizierenden anarchistischen Gesten auszuführen) 2011 in der Galerie Outlet in Istanbul führte Delier unter anderem eine »found performance« mit dem Titel »At Work« durch, die darin bestand, Büro- und Galerieangestellte in den Kunstraum zu verlagern und die leeren Bürobereiche zu nutzen, um Kunstwerke zu zeigen. Ziel dieser Vertauschung war es, die Arbeitsweise unserer heutigen Gesellschaft zu hinterfragen, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit (oder Kunst und Spiel) zeitlich wie räumlich immer mehr verwischen.
Delier sagt, er wolle anstelle »anarchistischer Gesten« lieber »anarchistische Experimente mit Formen« durchführen, welche die neuen Beziehungen zwischen HerrInnen und SklavInnen in der Welt der Kunst, die sich in einem Dialog befindet mit den Beziehungen zwischen HerrInnen und SklavInnen in der Welt des Kapitalismus, hinterfragen. Sein anarchistisches Projekt ist in der Tat ungewöhnlich, denn obwohl sexuelle Emanzipation ganz allgemein auch in der anarchistischen Politik sehr wichtig ist, sorgen BDSM-Praktiken, welche auf einer HerrInnen-SklavInnen-Beziehung beruhen, selbst bei AnarchistInnen für Verwirrung.

De Sade: Ein Gründungsvater des Anarchismus?
Robert Desnos schrieb Anfang 1923, all unsere gegenwärtigen Aspirationen seien von de Sade formuliert worden. Er sei der Erste gewesen, der die Integrität der eigenen Sexualität als unverzichtbar für das sinnliche und das intellektuelle Leben erklärte.1
Der bekannte britische Autor und Anarchist Nicholas Walter verteidigt Marquis de Sade in seinen Schriften und stellt eine Verbindung her zwischen de Sades Bemühungen und der anarchistischen Politik sexueller Freiheit. Zunächst erinnert Walter daran, dass de Sade selbst nicht einfach Sadist gewesen sei, sondern ein Sadomasochist, dem die passive Rolle (»unten«) genauso lag wie die aktive (»oben«), und lobt ihn dafür, dass er sich dessen, »was er begehrte und was ihm Vergnügen bereitete«, so bewusst war2. Laut Walter brachten seine Aktivitäten (und seine Fantasien) seine innersten Gefühle zum Ausdruck, wodurch er kein Verlangen hatte, ihnen zu widerstehen, sie zu unterdrücken, zu verlagern, zu übertragen oder zu projizieren. Walter impliziert damit ganz offen, dass ein anarchistischer sexueller Standpunkt gleichfalls nicht auf der Unterdrückung, Verlagerung, Übertragung oder Projektion unserer Wünsche oder den Widerstand gegen selbige basiert. Außerdem verortet er de Sades politische Ansichten in Anbetracht seiner Opposition zu allen autoritären Traditionen im libertären anstatt im autoritären Lager. Und er erinnert uns daran, dass der Anarchismus großen Wert auf Spaß und Freude legt und eine lebensbejahende Politik darstellt. Walter ist der Ansicht, Vergnügen verursache weniger Schmerz als Prinzipien, und fügt hinzu, dass SadistInnen weniger gefährlich seien als StaatistInnen3. Zudem stellt er heraus, dass de Sade zu den Ersten gehörte, die eine Gleichstellung der Frau befürworteten. De Sade kritisierte das Klassensystem und die Institution des Eigentums (in seinem Werk »Juliette« definierte er Eigentum noch vor Proudhon als »Diebstahl«); er stand dem Staat wie der Kirche, dem Gesetz wie der Religion, dem Gebrauch von Gewalt im Strafvollzug wie im Krieg, der Macht der Familie wie den Gefahren der Überbevölkerung kritisch gegenüber. Und er trieb den Republikanismus in eine radikale und libertäre Richtung.

Tatsächlich standen diese Ansichten vollkommen im Einklang mit der anarchistischen Politik und der sexuellen Freiheit, die darauf folgten und die für die Gestaltung der Bewegung und der »Normen« einer anarchistischen Identität eine wichtige Rolle spielen sollten. Walter merkt an, dass selbst de Sades pornografische Fantasien quasi-libertäre Passagen beinhalten, welche eine »Missachtung konventioneller Verhaltensweisen und Moral« rechtfertigen4. Des Weiteren erklärt er, viele seiner (de Sades) Schriften beinhalteten implizit anarchistische Ideen, und in seiner »Juliette« liefere er gar die erste explizite Verteidigung der Anarchie in der Literatur. Indem er de Sade als wegweisenden Vertreter des philosophischen Libertarismus darstellt, »Justine« und »Juliette« als Extremversionen von William Goodwins »Caleb Williams« und de Sades politische Ansichten als Extremversionen von Goodwins »Politische Gerechtigkeit«, fragt Walter, ob wir Marquis de Sade nicht als einen Vorreiter des Anarchismus betrachten sollten, der neben und zeitgleich mit Godwin wirkte? Eine sehr bedeutsame Frage, wenn es um den anarchistischen Kanon geht. Würde der anarchistische Kanon schon »ein wenig verrückt«, wenn wir Emma Goldmann ernster nähmen, so könnte man auch argumentieren, dass er sich noch viel weiter verschieben würde, wenn wir de Sade darin einschlössen (neben und zeitgleich mit William Godwin). Andersrum ließe sich argumentieren, dass, wenn wir Emma Goldmann hinzufügten und den Kanon damit ein wenig verrückten, der Vorschlag, den Marquis des Sade mit einzuschließen, gar nicht mehr so radikal wäre. Alle von Nicholas Walter erwähnten Aspekte des Marquis de Sade sind im Wesentlichen Themen anarchistischer Politik, und in Anbetracht ihrer entscheidenden Rolle bei der Bildung einer anarchistischen Bewegung besteht kein Grund, Walters Vorschlag zurückzuweisen. Auch Marie Louise Berneri verweist in ihrem Buch »Reise durch Utopia«, veröffentlicht ein Jahr nach ihrem Tode im Jahre 1950 und mit einem Vorwort von George Woodcock, auf die befreiende Kraft der utopischen Ideen de Sades. In Bezug auf die antireligiösen und antistaatlichen Ansichten de Sades erklärt sie: »[Wä]hrend wiederum die meisten Utopisten annahmen, die einzige Aufgabe der Ehe wäre, dem Naturgesetz zufolge, die Reproduktion, erblickte Sade in der Befriedigung körperlicher Liebe eine natürliche Handlung, die nicht an förmliche Ehe oder Vorurteile gebunden sein darf.«5
Wahrscheinlich hatte de Sade auch Einfluss auf Max Stirner. Laut Karl Orend erfreute sich de Sade zu der Zeit, als Stirner »Der Einzige und sein Eigentum« schrieb, gerade neuer Aufmerksamkeit6. Wie Nicholas Walter bemerkt, gibt es in de Sades Politik vieles, das ihn als frühe anarchistische Figur ausweist. Auch war de Sade der Ansicht, »Menschen können nur in einem Zustand der Anarchie frei sein«7. Orend ist der Ansicht, de Sades Politik könne nur als »kommunistischer Anarchismus« bezeichnet werden – ein interessanter Aspekt angesichts des viel beschriebenen Gegensatzes zwischen kommunistischem und individualistischem Anarchismus. Auch in Anbetracht des gewaltigen Einflusses, den Stirner auf spätere anarchistische und queere Strömungen haben sollte, ist es wichtig, de Sades Wirkung auf Stirner hervorzuheben.

»Anarkink«
Andererseits war BDSM in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Sicherheit kein vorrangiges Element anarchistischer Sexualpolitik. In ihrer maßgeblichen Anthologie »Reinventing Anarchism« über den Anarchismus dieser Zeit sagen Ehrlich, Ehrlich, DeLeon und Morris, dass AnarchistInnen »natürlich« für einen sexpositiven Ansatz einstehen, aber nicht für »Sex, der zu Schmerz oder Erniedrigung führt oder Dominanz und Unterwürfigkeit beinhaltet«8. In ihrer Anthologie gibt es einen ausführlichen Teil zum Anarcha-Feminismus, aber nichts zum Queer-Anarchismus, was darauf hindeutet, dass diese Themen erst nach den 1980ern Teil der anarchistischen Identität wurden. Pat Califia betont im Vorwort zur zweiten Ausgabe der Kurzgeschichtensammlung »Macho Sluts«, wie sie und ihre lesbischen SM-Freundinnen in lesbischen und feministischen Kreisen kämpften, um ihre lesbische SM-Identität zu verteidigen9. Califia wurde später FTM (Frau-zu-Mann-Transsexueller), was in lesbischen Kreisen zu weiteren Konflikten führte.
Heute sind sich anarchistische AktivistInnen ziemlich sicher, dass eine anarchistische Identität durch anarchistische Sexualbeziehungen geschaffen werden sollte, was für gewöhnlich nicht geschlechtsspezifische Polyamorie und Queerness bedeutet. Es gibt gewisse AnarchistInnen, die BDSM-Sexualpraktiken nachgehen und die langsam damit anfangen, dies in verschiedenen Blogs zu verteidigen. Aber wie gesagt, die Frage ist bisher in anarchistischen Kreisen noch nicht entschieden. Vor allem weil es nicht so einfach ist, BDSM auf die Gegensätze unterdrückte und freie Liebe zu reduzieren.
In dieser Beziehung sind die Kategorien polyamor/monogam und queer/hetero viel leichter zu handhaben. Aber wohin dann mit BDSM? Wenn ein sexueller Akt einvernehmlich geschieht und sicher ist, sollte die Freiheit dazu dann von AnarchistInnen ohne Weiteres verteidigt werden? Was, wenn diese Wahl auf »Lust durch Autorität« basiert? BDSM macht das Thema komplizierter, er zwingt AnarchistInnen dazu, über »das Wesen der Begierde« zu diskutieren sowie über die Rolle der Lust, um die es bei der anarchistischen Genderidentifikation nicht wirklich geht. Eine »devote« anarchistische Bloggerin sagt: »Nirgendwo steht, dass eine BDSM-Beziehung, selbst eine 24/7-Beziehung, also eine rund um die Uhr in den Alltag integrierte, auf der Vorstellung beruhen muss, dass ein Geschlecht dem anderen von Natur aus überlegen ist.«10
Selbst eine auf klaren Machtverhältnissen basierende 24/7-Beziehung lässt sich also als anarchistische Haltung zur Sexualität verteidigen. Die Bloggerin fährt fort: »BDSM ist für Leute, die es kinky mögen, nicht ›attraktiv‹, nur weil es tabu ist. Eine Menge Kink-Leute macht BDSM genauso stark an wie das eigene oder das andere Geschlecht; das heißt, es ist nicht nur eine Wahl unter vielen, sondern macht eine sexuelle Identität aus. Für viele von uns ist es etwas, ohne das wir keine wirkliche sexuelle Lust erleben können.« Und in einem anonymen Kommentar dazu stand zu lesen: »Wahrer BDSM beinhaltet sehr viel Diskussion und Respekt, und ich würde sagen, wahren BDSM kann es nur geben, weil unsere Gesellschaft versucht hat, Frauen und Männer gleichzustellen. Von daher sollten dominante oder devote Frauen und Männer nicht als Perversionen angesehen werden, man sollte ihnen vielmehr dafür applaudieren, dass sie den Mut und die Gelegenheit haben, zu sagen, so bin ich. Ich unterwerfe mich oder ich befehle, weil es mir Spaß macht, und nicht, weil die Gesellschaft es von mir verlangt.«11
Gavin Brown zeigt, wie es war, radikal, anarchistisch und queer zu werden: »Es stimmt sicherlich, dass innerhalb dieser (radikal queeren) Netzwerke die Tendenz besteht, die Bedeutung des Radikal- und Queer-Seins mit einem sehr speziellen Sexradikalismus zu assoziieren, der die Verwischung von Geschlechterrollen und Identitäten ebenso beinhaltet wie die Bereitschaft, öffentlich sexuell aktiv zu werden (was häufig auch BDSM beinhaltet) sowie eine Offenheit für polyamoröse Beziehungen.«12 Die von Brown aufgelisteten Merkmale stehen im Einklang mit denen, die Portwood-Stacer in zeitgenössischen anarchistischen Kreisen beobachtet13.
Im Rahmenprogramm eines aktuelleren »Queeruption«-Meetings gab es eine Sexparty, bei der in unterschiedlichen Räumen eine Vielzahl von Alternativen geboten wurde, darunter auch ein »Verlies« für BDSM-Spiele. Außerdem gab es reine Männer- und reine Frauenräume, einen Orgienraum und einen Vanillaraum für Blümchensex. Selbst in einem solchen Raum, so Gavin Brown über ein derartiges Event im Jahr 2003, »entwickelten sich die Sexspiele im Laufe des Abends von Körpermassagen in voller Bekleidung zu einer polymorph-perversen, polysexuellen Orgie«14. In seinem Kommentar zu dem Queeruption-Event 2003 meint Brown, die »Sexparty war für viele der TeilnehmerInnen ein zutiefst kathartisches und transformatives Ereignis«. Wobei hier vor allem der Begriff »kathartisch« erwähnenswert ist.

In Verteidigung des »prekären SM«
Für politische Aktivistinnen und kritische KünstlerInnen ist die Verteidigung unterdrückter ArbeiterInnen so etwas wie die Verteidigung von Frauenrechten, während die Verteidigung von prekären ArbeiterInnen eher so etwas ist wie die Verteidigung von BDSM – schlüpfrig.
In seiner Serie »Businessman« (2001) spielt Bashir Borlakov mit den neuen AkteurInnen des zeitgenössischen Kapitalismus, während er in »Long Live The Proletariat!« (2008) die alte industrielle Arbeiterklasse in einer postsowjetischen Umgebung verortet. Borlakovs »Businessman«-Serie zeigt kleinere Geschäftsleute, die wie in »Conan der Barbar« als zeitgenössische Gladiatoren vor der Kulisse riesiger Wolkenkratzer miteinander kämpfen. Sein Augenmerk gilt der »Primitivität« hinter den schicken Klamotten und Gebäuden, über die er sich offen mokiert. Wenn er hingegen IndustriearbeiterInnen zeigt, die in einen LKW gesteckt werden, vollkommen entfremdet und offen zur Schau gestellt als VerliererInnen des Spiels, mokiert er sich mit dieser Ironie (Lang lebe das Proletariat!) nicht über die ArbeiterInnen selbst, sondern unterstreicht damit vielmehr eine äußerst traurige Situation. Was wiederum bestätigt, dass prekären ArbeiterInnen stets weniger Respekt entgegengebracht wird, wurden sie doch noch nicht für kritische Betrachtungsweisen normalisiert. Dies ist einerseits ein Kompliment: Man hält sie für mitverantwortlich für das, was ihnen passiert, während man sich die IndustriearbeiterInnen stets als Opfer vorstellt. Aus dieser Perspektive sind die IndustriearbeiterInnen die modernen, noblen ArbeiterInnen (die edlen Wilden), während die prekären ArbeiterInnen verwilderte ArbeiterInnen sind (animalische Wilde). Die edlen ArbeiterInnen entsprechen der alten mythischen Arbeiterklasse, die organisiert war, rein, unterdrückt und das Volk repräsentierte. Auf der anderen Seite haben wir die degenerierten ArbeiterInnen – prekär, unzuverlässig, unordentlich, nicht aus dem Volk, entfremdet, unorganisiert, versprengt, individualistisch. Eine komplexe Situation für jeden kritischen Ansatz: Während die edlen ArbeiterInnen für modernistische linke Bewegungen liebenswert und respektabel sind, braucht und benutzt der moderne Kapitalismus immer mehr verwilderte ArbeiterInnen.
In einer anderen Arbeit, »Tersyön Feasibility Research« (2011), wendet Burak Delier eine andere Strategie an und infiltriert damit die Logik der Geschäftswelt. Er macht diese Logik nicht zu einem Kunstgegenstand, und er macht sich auch nicht darüber lustig; aber er lässt ihre Mechanismen eine parodistische Rolle spielen. Was sich als Unternehmen ausgibt, ist in Wirklichkeit ein Kunstwerk. Was uns sofort an Arbeiten denken lässt, die sich als Kunstwerke ausgeben, tatsächlich aber reine Geschäftemacherei sind! So gelingt es Delier, sich der prekären ArbeiterInnen mittels einer Vertauschung zu bemächtigen.
In »Tersyön Feasibility Research« beschäftigt er sich mit dem Prozess einer Durchführbarkeitsanalyse in einem fiktiven Unternehmen namens »Tersyön«, gegründet von Burak Delier selbst. »Parkalynch« ist das erste Produkt der Firma. Es ist ein Kleidungsstück, das vor Lynchattacken schützt und auch der Einwirkung von Steinen, Stöcken, Schlagstöcken und Faustschlägen standhält. Die Installation ist in drei Bereiche aufgeteilt. Zwei Bereiche bestehen aus Videoloops, der dritte ist eine Art Versammlungsraum, unterteilt durch Glaswände, wo die Rechercheergebnisse präsentiert werden. Ton hat man in diesem Raum nur über Kopfhörer. Eines der Videos ist ein Zusammenschnitt der »ausführlichen Interviews«, Ausgangspunkt der Marktanalyse. Das andere wird in einem »Fokusgruppen«-Raum unter Mitwirkung von Unternehmensprofis gedreht.
Formen wie das »ausführliche Interview« und die »Fokusgruppe« hat Delier den »Geschäftsleuten« geklaut, über die Borlakov sich lustig macht. Doch Delier nimmt sie sehr ernst. Während Borlakov in dieser Serie seine sichere Position nicht verlässt, wenn er die schlechten Eigenschaften dieser Geschäftsleute kritisiert, weist Delier sichere Positionen zurück, um sie allesamt zu destabilisieren. Es ist wie ein Spiel mit dem Verlangen: wie anarchistische Devote oder anarchistische SadistInnen, die anarchistische Positionen in Bezug auf Macht ins Wanken bringen, oder jemand wie Pat Califia, die/der als lesbische Dominatrix beginnt, für ihre Rechte in der feministischen Bewegung kämpft, in Beziehungen zu anderen Frauen die Dominatrix ausleben zu können, dann zu einem Transmann wird und schließlich alle Positionen noch weiter destabilisiert, indem sie/er »pornografische Geschichten« schreibt.
Bülent Sangars und Aydan Murtezaoglus Arbeit »Unemployed Employees – I found you a new job!« (Arbeitslose Angestellte – ich hab einen neuen Job für Sie!) aus dem Jahr 2009 lohnt in dieser Hinsicht ebenfalls einen Blick. In diesem Gemeinschaftswerk hinterfragen die beiden die Bedeutung von Arbeit in Form einer Installation. Während am einen Ende eines an ein Fließband erinnernden Tisches einige Leute damit beschäftigt sind, Kleider auseinander- und wieder zusammenzufalten, wird am anderen Ende des Raums in Anlehnung an die Verkaufsstrategien von Kaufhäusern und Parfümerien Parfüm versprüht. Die ArbeiterInnen haben diesen Job durch ein Bewerbungsverfahren bekommen; sie haben auch einen Pausenraum, der gleichzeitig als Raum für Gespräche und Diskussionen mit den BesucherInnen dient. In einer »Anleitung«, die an der Wand hängt, haben die KünstlerInnen ihre Gedanken und Fragen zum Thema wirtschaftliche, gesellschaftliche und künstlerische Produktion formuliert. Die TeilnehmerInnen sind junge, arbeitslose HochschulabsolventInnen, die einen in einer Zeitung inserierten bezahlten Job angenommen haben. Die Installation ähnelt einem Geschäft oder einer Fabrik, wo junge Leute sinnlose Tätigkeiten verrichten. Die ArbeiterInnen werden ermutigt, ihre Ideen und Gedanken im Dialog miteinander und mit dem Publikum zum Ausdruck zu bringen. Für die KünstlerInnen besteht das Ziel des Projekts darin, die Niederlagen und den Rückgang sozialer Gerechtigkeit im Kapitalismus, gefördert durch »den Übergangsprozess vom Proletariat zum Prekariat«, zu hinterfragen.
In diesem Kunstwerk ist alle Arbeit bedeutungslos, hat keinen Sinn. Die KünstlerInnen wollen in das Reich der prekären ArbeiterInnen vordringen, sie destabilisieren auch die Position der BetrachterInnen, behalten ihre eigene aber als distanzierte, sichere Position bei, von der aus sie alle Prozesse analysieren, »Wahrheiten« zum Ausdruck bringen, Geschichte schreiben und wichtige Fragen stellen können. Die ArbeiterInnen dagegen verrichten sinnlose Arbeit und generieren sinnlose, undokumentierte Gedanken. Die ArbeiterInnen sind einvernehmliche SklavInnen, nicht nur des Systems schlechthin, sondern auch des Kunstsystems.
Mit seinem postanarchistischen Blick auf prekäre ArbeiterInnen beleuchtet Delier die Auswahl ebendieser nach Art eines SklavInnenmarkts. Dabei zeigt er erfolgreich, woran die HerrInnen-SklavInnen-Beziehung scheitert: Sie scheitert am »Vertrauen«, selbst wenn sie vorgeblich »einvernehmlich« ist! Denn eine einvernehmliche Beziehung zwischen HerrIn und SklavIn basiert »idealerweise« auf Vertrauen, was hier nicht herrscht. Und doch ist es eine »Pseudo«-BDSM-Beziehung. Dadurch entsteht die widerliche Situation, die sich als »prekärer SM« bezeichnen lässt.
Deliers »Anarkink« bietet eine Möglichkeit, in dieses System einzudringen und zu zeigen, wie seine Strategie der Vertauschung funktioniert. Dominante, die zu Devoten werden, und Devote, die zu Dominanten werden, das ist keine so radikale Sache, es ist vielmehr Standard, wie Nicholas Walter in Anspielung auf de Sades Sadomasochismus bemerkt. Delier hingegen macht sich die Hyperunterwürfigkeit der ArbeiterInnen/KünstlerInnen zunutze und zugleich ihr hyperdominantes Dasein. Das ist zwar kompliziert, aber so funktioniert das Prekariat. Und es wäre nicht möglich gewesen, in das System einzudringen, hätte Delier versucht, eine sichere Position zu verteidigen, von der aus er alles in einem binären System »versteht und erklärt«.
Ahmet Ögüts »Black Diamond« (2010) sollte in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt werden. Für die Arbeit wurde ein kleines Stück Wand aus der Galerie ARTER in Istanbul entnommen und unter neun Tonnen Kohle begraben. Wer das Institutionsstückchen wiederfindet, sollte es an seinen Ursprungsort zurückbringen und dort Anspruch auf den Diamanten erheben, der an seiner Stelle in der Wand steckt. »Black Diamond« ist ein ganz und gar nicht Santiago-Sierra-artiger Einsatz von Arbeit. Ögüt lässt die Leute höllenmäßig und unter fürchterlichen Bedingungen für eine Belohnung arbeiten, hat sie aber nicht angeheuert. Niemand zwingt die Leute dazu, zu arbeiten und sich ihre Belohnung zu verdienen. Sie tragen freiwillig die eigenen Klamotten, begeben sich in die fürchterliche Kohlenhölle, werden schmutzig und müde und schuften für ihre Belohnung. Am Mittwoch, den 2. Dezember, um genau 18:36 Uhr fanden Ümit Sarigül und Ahmet Can Bayrak das 1 cm³ große Mauerstück und holten sich den Diamanten. Die erste Ausgabe von Ahmet Ögüts »Black Diamond« ist immer noch im Van Abbemuseum in Eindhoven zu sehen. Denn niemand hat das in Eindhoven unter Tonnen von Kohlen begrabene Institutionsstückchen je gefunden. In Istanbul wurde das Stück der Galerie ARTER fünf Tage nach der Ausstellungseröffnung entdeckt.
Ögüt spielt hier mit Erniedrigungsspielchen und mit dem Bild einer der symbolträchtigsten aller klassischen Arbeiterfiguren: dem Bergarbeiter. Auch er arbeitet mit mehreren Vertauschungen. Das Prekariat (die auf die Belohnung scharfen Studierenden) nehmen den Platz des Proletariats ein. Die Kunst hat die dominante Position und befiehlt den Devoten, erniedrigende Tätigkeiten zu verrichten, während sie sich am Zusehen ergötzt. Und die Belohnung (Befriedigung) ist in den Mauern (im Schoß) einer Kunstinstitution vergraben. Er schafft so eine sehr komplizierte Atmosphäre, die zu analysieren nicht einfach ist.
Wir enden also da, wo wir begonnen haben: In Nalan Yirtmaçs »Workers« (2008) sehen wir IndustriearbeiterInnen, wie sie auf ihrem Weg nach Deutschland nach einer Blutabnahme die Arme heben. In ihrer gesamten Serie zeigt sie respektierte und schikanierte ArbeiterInnen. Das destabilisierende Element, das sie anbietet, versteckt sich im Medium selbst: Sie verwendet Schablonen. Die Botschaft steckt im Graffiti. Das Proletariat ist das Prekariat und umgekehrt.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Vgl. Sonn 2005, S. 115.
2 Vgl. Walter 2007, S. 55.
3 Vgl. ebd.
4 Vgl. ebd., S. 57.
5 Berneri 1982, S. 168.
6 Vgl. Orend 2009, S. 61.
7 Ebd., S. 64.
8 Ehrlich/Ehrlich/DeLeon un/Morris 1979, S. 24.
9 Vgl. Califia 2009, S. 13ff.
10 Vgl. http://subversivesub.wordpress.com/2008/07/21/leave-the-analysis-to-us-thank-you/
11 Vgl. http://sm-feminist.blogspot.com/2008/07/bdsm-and-anarchism.html/ und http://en.wikipedia.org/wiki/Anarchism_and_issues_related_to_love_and_sex/
Es gibt außerdem eine »Anarkink«-Webseite, die BDSM-Events organisiert: http://anarchistbdsm.wordpress.com/ und http://anarchistnews.org/?q=node/6637
Und hier ein Interview mit einer anarchistischen Dominatrix: http://theanarchistlibrary.org/HTML/Organise___Interview_with_an_anarchist_dominatrix.html
12 Brown 2007, S. 2695.
13 Vgl. Portwood-Stacer 2010.
14 Brown 2007, S. 2694.