Die Grenze von Kunst und Leben aufheben. Theorie in Revolution umsetzen. Ideen wie diese können wir von den Avantgarden übernehmen. Nicht aber als Fahrscheine zu einem hochklassigen Mausoleum. Mir geht es hier nicht um die Frage, wie wir das »Leben als Form« ästhetisieren, sondern darum, wie wir unsere Lebensweise ändern können.
Soziale Bewegungen sind die Vehikel dafür. Mitunter bringen sie historische Ereignisse hervor, wie das Besetzen öffentlicher Plätze, das 2011 weltweit Schule machte. Indem sie den »gewohnten Gang« der Dinge unterbrechen, verändern sie Lebenswege, Arbeitsroutinen und Karriereaussichten nebst Gesetzen und Regierungen und tragen zu anhaltenden philosophischen und affektiven Umgestaltungen bei. Doch sind die Quellen sozialer Bewegungen trotz ihrer historischen Dimensionen persönlich und ideell: Sie erwachsen aus kleinen Gruppen, kristallisieren sich um »nicht-diskursives, pathisches Wissen«, wie Félix Guattari es nennt. Ihre Fähigkeit, Veränderungen anzustoßen, ist weithin gefragt. PR-StrategInnen sind unaufhörlich dabei, Mikrobewegungen in Form von Trends, Moden und Wellen in Gang zu bringen, zu kanalisieren und anzuheizen. Doch gibt es nach wie vor Basisgruppen, Vorreiterprojekte und Gesinnungsgemeinschaften, die sich ihres eigenen Lebens als Rohmaterial bedienen, alternative Zukunftsvisionen erfinden und hoffen, Modelle, Möglichkeiten und Hilfsmittel für andere zu schaffen.
Von weit zurückreichenden historischen Erfahrungen zehrend, haben sich die sozialen Bewegungen auf mindestens vier Dimensionen ausgeweitet. Zunächst ist kritische Forschung grundlegend für die heutigen Bewegungen, die immer mit komplexen rechtlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Zweitens ist partizipatorische Kunst lebenswichtig für jede Gruppe, die ihr Anliegen auf die Straße trägt, denn sie betont das gleichzeitige Engagement für Repräsentation und gelebte Erfahrung. Drittens zählen auch Netzwerkkommunikation und Strategien zur Durchdringung der Massenmedien zu den Merkmalen zeitgenössischer Bewegungen, denn ohne Megafon verschwinden Ideen und konkrete Bemühungen einfach wieder. Viertens schließlich macht die gemeinschaftliche Koordination bzw. »Selbstorganisation« all dieser Praktiken die Politik sozialer Bewegungen aus. Sie muss alle Kräfte bündeln, alle Bemühungen koordinieren, Ereignisse ins Rollen bringen und dann mit den Konsequenzen umgehen. Diese verschiedenen Stränge verweben sich, verdichten sich zu Gesten und Ereignissen, lösen sich wieder auf und erzeugen so die Dynamik der Bewegung. Diese vierfache Matrix ersetzt einzelne, leicht zu definierende Initiativen. Für diese komplexe Vorgehensweise verwende ich den Begriff »Eventarbeit«.1
Um zu erklären, wie sich diese aus zuvor eigenständigen Disziplinen entwickelt hat, beginne ich mit den internen Widersprüchen der Avantgardekunst der späten 1960er-Jahre und umreiße im Anschluss die Entstehung eines erweiterten Aktivismusbereichs in der postfordistischen Ära.
Geschichte
Kommen wir gleich zum eindrucksvollsten historischen Beispiel von Eventarbeit, das sich nicht in New York, London oder Paris abspielte, sondern in Argentinien. Seit Mitte des Jahres 1966 befand sich das Land in den Händen der Militärdiktatur. Damals begann in Buenos Aires und Rosario ein Kreis selbstbewusster »avantgardistischer« KünstlerInnen, die Sinnlosigkeit der raschen Zyklen formaler Erneuerungen wahrzunehmen, die das Jahrzehnt der Pop-Art, der Op-Art, der Happenings, des Minimalismus und der Konzeptkunst geprägt hatten. Ihnen wurde bewusst, dass Erfindungen, die zur Erschütterung bürgerlicher Normen gedacht waren, nun von den Eliten als Zeichen für Prestige und intellektuelle Überlegenheit genutzt wurden, und zwar in einem Ausmaß, dass, wie León Ferrari schrieb, »die von KünstlerInnen geschaffene Kultur ihnen zur Feindin wird«2. Aus diesem Grund kam es unter den KünstlerInnen zu immer radikaleren Brüchen mit dem Galerie- und Museumsbetrieb, indem sie mittels transgressiver Arbeiten, Aktionen und Erklärungen ihre eigene Teilnahme an offiziell abgesegneten Ausstellungen einschränkten.
Im Hochsommer 1968 beschlossen sie, einen unabhängigen Kongress zu organisieren, das »erste nationale Treffen zum Thema Avantgardekunst«. Ziel des Kongresses war es, ihre Unabhängigkeit vom Kulturbetrieb der Elite zu definieren, ihr gesellschaftliches Ideal zu formulieren - eine »guevaristische« Revolution - und die Umsetzung einer Arbeit zu planen, die ihre Ziele verkörpern würde.3 In dieser Arbeit würde das ästhetische Material, wie von Ferrari beschrieben, nicht länger im Sinne formeller Erneuerungen zum Ausdruck gebracht, sondern mit eindeutigen Bezügen und unmittelbar verständlichen »Bedeutungen« (significados) versehen, die ihrerseits einer transgressiven Profanierung ausgesetzt würden, um die bestehenden gesellschaftlichen Umstände machtvoll anzuprangern. Ganz im Sinne von Ferrari bestand Nicolás Rosa darauf, dass diese Arbeit nur dann experimentell sei, wenn sie zum »Bruch des kulturellen Vorbilds« beitrüge. Außerhalb der Eliteinstitutionen angesiedelt und mit dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Umsetzung verbunden würde die Arbeit »einen ähnlichen Effekt erzeugen wie politische Aktionen«, so Juan Pablo Renzi. Und weil ideologische Statements leicht absorbiert würden, fuhr er fort, verwandle die revolutionäre Arbeit die Ideologie aus ihren eigenen Strukturen heraus in ein reales Ereignis. So der theoretische Hintergrund von Tucumán Arde (Tucumán brennt).
Die Gruppe wollte den Umstrukturierungsprozess offenlegen, welcher der Zuckerindustrie in der Provinz Tucumán auferlegt worden war, infolgedessen die Arbeitslosigkeit angestiegen war und viele ArbeiterInnen hungern mussten. Sie wollte auch das umfassende Programm zur wirtschaftlichen Rationalisierung bloßstellen, das von der nationalen Bourgeoisie unter diktatorischem Befehl mitgetragen wurde und im Einklang stand mit den Interessen Europas und der USA. Zu diesem Zweck mussten »Gegeninformationen« produziert werden, und zwar unter Verwendung sachlicher Analysen, mit denen man der staatlichen Propagandakampagne für die Restrukturierung begegnen konnte. Eine effektive Bloßstellung würde aber auch die Produktion von etwas erfordern, das die KünstlerInnen als »Überinformationskreislauf« (circuito sobreinformacional) bezeichneten. Dieser sollte auf der Wahrnehmungsebene operieren, um die Überzeugungskraft der offiziellen Propaganda quantitativ wie qualitativ zu übertreffen.4
Nach der Erkundungsphase des Projekts formulierten sie eine vielschichtige Ausstellungsstrategie, beginnend mit Werbekampagnen, die einer potenziellen Öffentlichkeit die Worte »Tucumán« und »Tucumán Arde« auf Plakaten, in Begleitheften, auf Kinoleinwänden und durch Graffitiinterventionen näherbringen sollten. Dann organisierten sie in Gewerkschaftshäusern in Buenos Aires und Rosario zwei Multimediainstallationen und versuchten dabei, nicht nur einen Raum, sondern jeweils das ganze Gebäude mit einzubeziehen. Sie hingen Zeitungsausschnitte und Bilder der staatlichen Propagandakampagne auf und setzten diesen Wirtschafts- und Gesundheitsstatistiken entgegen sowie Schaubilder, welche die Verbindungen zwischen den Interessen der Industrie, lokalen und nationalen FunktionärInnen und ausländischem Kapital deutlich machten. Sie zeigten dokumentarisches Fotomaterial, Filme, hielten Reden und brachten eine kritische Studie in Umlauf, die von SoziologInnen verfasst worden war, welche mit ihnen zusammenarbeiteten.
In Rosario zog die Eröffnung am 3. November allein am ersten Abend mehr als 1.000 Menschen an, was der Ausstellung eine Verlängerung von einer auf zwei Wochen einbrachte. Am 25. November wurde sie in Buenos Aires wiederholt; diesmal wurde auch der heimlich produzierte Film des Tercer Cine, des sogenannten dritten Kinos, »La Hora de los Hornos« (Die Stunde der Hochöfen, 1968) von Octavio Getino und Fernando Solanas gezeigt, wobei die Projektion halbstündlich für eine unmittelbare Diskussion unterbrochen wurde. Man kann sich kaum vorstellen, wie viel Mut dieses Vorgehen den Leuten unter den Bedingungen einer Militärdiktatur abverlangt haben muss. Die Ausstellung in Buenos Aires wurde am zweiten Tag unter Drohungen gegen die Gewerkschaft zensiert, was den repressiven Charakter des Regimes bloßstellte und eine weitere Radikalisierung der Kulturschaffenden im Land begünstigte.
Aufgrund seiner kollektiven Organisationsform, seines experimentellen Wesens, seiner investigativen Vorgehensweise, seiner undurchlässigen Formulierung analytischer und ästhetischer Mittel, seiner oppositionellen Haltung und seiner vorzeitigen Schließung wurde das Projekt Tucumán Arde in Argentinien und international zum Mythos. Die amerikanische Kritikerin Lucy Lippard behauptete wiederholt, sie sei durch ihr Zusammentreffen mit Mitgliedern der Gruppe während eines Besuchs in Argentinien im Oktober 1968 radikalisiert worden.5 Die französische Zeitschrift »Robho« widmete dem Projekt 1971 ein Dossier, worin der Bruch mit der bürgerlichen Kunst und sein revolutionäres Potenzial hervorgehoben wurden. In der jüngeren Wahrnehmung wurde das Projekt mit »globaler Konzeptkunst« in Verbindung gebracht sowie mit einer interventionistischen, auf einer semiotischen Analyse basierenden Form von Medienkunst. In der am gründlichsten dokumentierten Analyse verteidigt die argentinische Kunsthistorikerin Ana Longoni die Ziele des Projekts mit einer entschiedenen Frage: »Wo ist die Avantgardekunst in ›Tucumán Arde‹«? Sie antwortet: »Wenn ›Tucumán Arde‹ für einen politischen Akt gehalten werden kann, dann weil es ein politischer Akt ›war‹. Die KünstlerInnen hatten ein Werk geschaffen, das die Grenzen der Kunst auf Bereiche ausweitete, die nicht dazugehörten, die außerhalb lagen.«6
Das Ergebnis war eine Veränderung in Bezug auf die Finalität, das heißt den Gebrauchswert kultureller Produktion. Wie ein Statement von damals andeutet, wurde das Projekt ins Leben gerufen, um die Schaffung einer »alternativen Kultur«, die Teil des revolutionären Prozesses werden könnte, zu ermöglichen.7 Oder, wie es im Dossier von »Robho« heißt: »Die zusätzliche Vorstellungskraft, die einem, verglichen beispielsweise mit der üblichen Agitationskampagne, in ›Tucumán Arde‹ begegnet, entstammt ausdrücklich einer Praxis, die Vorstellungen von Ereignis, Partizipation und der Verbreitung ästhetischer Erfahrungen umsetzt und im Vorfeld darüber reflektiert.«8 Das ist die perfekte Definition von Eventarbeit.
Aktualität
Die vier Vektoren der Eventarbeit verbinden sich unter dem Druck von Ungerechtigkeit und dem quälenden Bewusstsein eines Risikos, und zwar in Situationen, in denen die eigene Disziplin, der eigene Berufsstand oder die eigene Institution sich einer Reaktion als unfähig erweist, so dass man auf andere Weise aktiv werden muss. »Ich weiß nicht, was, aber irgendwas werde ich tun«, wie meine GenossInnen im Kollektiv Ne Pas Plier zu sagen pflegten. Aktivismus heißt, einen Wunsch zur Gemeinsamkeit zu erklären und fest entschlossen zu sein, seine Lebensweise zu ändern, unter ungewissen Bedingungen und ohne Garantien. Werden dieser Wunsch und diese Entschlossenheit geteilt, trägt das intensive Zusammenrücken einer sozialen Bewegung sowohl die antagonistische als auch die utopische Dimension in den Alltag hinein, in die Freizeit, in leidenschaftliche Beziehungen, ins Zuhause, ins Bett, in unsere Träume. Sie verbindet persönliche Leidenschaft mit öffentlicher Verantwortung. Das ist Leben als politische Form.
Ähnliches ließe sich über Bewegungen in den USA sagen. Wer sich seinerzeit in der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung und schließlich in einem viel breiteren Spektrum an Belangen engagierte, musste neue Themen, Schauplätze und Handlungsstrategien mit heiklen Fragen zu Wahrnehmung, Wissen, Kommunikation, Motivation, Identität, Vertrauen oder gar Selbstanalyse in Einklang bringen; Fragen, die nur noch akuter wurden, je mehr die unmittelbare materielle Not in den Konsumgesellschaften an Bedeutung verlor. Der künstlerische Ausdruck erschien nun wie ein zwangsläufig unklarer Vermittler zwischen persönlicher Überzeugung und öffentlicher Darstellung. Die Schnittstellen von Theorie und Alltag wurden enger und verstrickter, was dazu führte, dass jede Bewegung, ja, jede Kampagne sich in etwas Einzigartiges und Überraschendes verwandelte und zur kurzlebigen Kristallisierung eines einmaligen Gruppenprozesses wurde. Die gleichzeitige Unfähigkeit und Notwendigkeit dieser Art des Politikmachens wurde bestimmend für die gesamte Ära des Postfordismus: Sie ist »unsere« Aktualität, unsere Gegenwart.
Die Ähnlichkeiten und Unterschiede werden augenscheinlich, wenn wir an die einflussreichste soziale Bewegung der postfordistischen Zeit zurückdenken, den Aktivismus im Kampf gegen Aids. Beeindruckend ist hier die kollektive Reaktion auf eine extreme Risikosituation, bei der es weniger um die technischen Fähigkeiten als um den »Willen« einer demokratischen Gesellschaft geht, auf Gefahren zu reagieren, die ungleich schwerer auf stigmatisierten Minderheiten lasten. Anders als in einer Diktatur sind es hier nicht umfassende polizeiliche und militärische Repressionen, welche die Basis für militante Aktionen bilden, sondern die Wahrnehmung einer persönlichen Bedrohung. Wer man ist, für wen man gehalten wird, welche Rechte einem zugebilligt werden und welche Rechte man zu fordern bereit ist, bei all diesen Fragen geht es um Leben und Tod.
Allerdings können Empörung und Wut gepaart mit Solidarität und Liebe für unsere Mitmenschen nur das unmittelbare Fundament für eine soziale Bewegung sein. Die operativen Vektoren des Aids-Aktivismus waren kritische Forschung, symbolischer Ausdruck, Medien und Selbstorganisation. Zunächst mussten die Themen definiert werden, und die waren äußerst komplex, weil sie die sozialen Rechte zur Förderung bzw. Veranlassung bestimmter Forschungsrichtungen, zur Legalisierung bzw. Anerkennung bestimmter Arten der Medikation, zum Erhalt bzw. zur Verabreichung bestimmter Formen öffentlich geförderter Pflege betrafen. Wissenschaftliche und juristische Untersuchungen, häufig durchgeführt von Aids-Patienten, machten einen wesentlichen Bestandteil dieser Bemühungen aus. Gleichzeitig wurde offensichtlich, dass das Recht auf Behandlung und Pflege nicht nur von wissenschaftlichen und rechtlichen Argumenten abhing, sondern auch davon, wie die Risikogruppen in den Medien dargestellt wurden und wie PolitikerInnen diese Darstellung überwachten, einforderten oder bestärkten, um ihre eigene Politik voranzutreiben und ihre Wiederwahl zu sichern.
Der Kampf musste also auf die Bereiche Erziehung und kulturelle Produktion ausgedehnt werden, Bereiche, deren Einfluss auf die Ebene von Gefühlen und Überzeugungen nicht zu unterschätzen ist. Gleichzeitig musste er jedoch die Massenmedien erreichen. Dieser Durchbruch in die Massenmedien erforderte die Inszenierung eindrucksvoller Events an der Basis, oft mit Ressourcen, die man der visuellen und der Performancekunst entlieh. Und all das umfasste die Koordination einer breiten Arbeitsteilung unter mehr oder weniger anarchischen Bedingungen, da es keine Leitung geben konnte, keine Hierarchie, keinen Ablaufplan etc.9 Auf diese Weise wurde die Eventarbeit in den USA neu erfunden.
Viele Jahre später begann auch ich, mich im Zusammenhang mit Bewegungen für globale Gerechtigkeit und gegen die finanziell motivierte Globalisierung an diesen Protesten zu beteiligen. Um 1994 begannen sie überall zu sprießen, in Mexiko, Indien, Frankreich, Großbritannien, Amerika etc. Die Interaktion dieser Bewegungen war von Anfang an sehr intensiv, zunächst durch die Vernetzungen von Arbeiterorganisationen, NGOs und anarchistischen Netzwerken, dann durch Gegengipfeltreffen, organisiert als Reaktion auf die Treffen transnationaler Institutionen wie der WTO und dem IWF, dann durch den offenen Wissensaustausch der Weltsozialforen. Das Verhältnis zwischen kritischen und philosophischen Untersuchungen, künstlerischen Prozessen, direkter Aktion und taktischen Medien eröffnete ein riesiges neues Praxisfeld. Der argentinische Aufstand im Dezember 2001 war ein kulminierendes Moment dieses globalen Aktionskreislaufs. Für alle, die mit Kunst zu tun hatten, schien nicht nur die Geschichte, sondern auch die Aktualität der sozialen Bewegungen in Argentinien die Idee zu bestätigen, dass ästhetische Aktivitäten in einem neuen Rahmen verortet werden konnten, einem Rahmen, der nicht länger mit den strikten Trennungen der modernistischen Institutionen überfrachtet war. All das überzeugte mich davon, dass die zeitgenössische Kunst in ihren anspruchsvollsten Ausprägungen in der Tat unter der »kulturellen Beschränkung« litt, die Robert Smithson bereits vor Jahren diagnostiziert hatte, und dass ihr wahres Potenzial sich in interessanteren Bereichen entfaltet, zu denen ihnen die institutionellen Korsetts der Museen, Galerien, Magazine, universitären Fachbereiche etc. den Zugang verwehrt hatten.10
Nichtsdestotrotz ist offensichtlich, dass die Bewegungen für globale Gerechtigkeit nicht in der Lage waren, den herrschenden Konsens zur kapitalistischen Entwicklung und zum Wirtschaftswachstum zu kippen. Tatsächlich hat die jüngste Finanzkrise die Argumente, die wir bereits vor 15 Jahren angeführt haben, nicht nur bestätigt, sondern auch ihre politische Machtlosigkeit und Unfähigkeit demonstriert, zu irgendeiner konkreten Veränderung beizutragen. Ein ähnliches Urteil wurde UmweltaktivistInnen durch das Debakel des Kopenhagener Klimagipfels geliefert.
All das fügt sich in einen größeren Zusammenhang. Müsste ich in einem Satz zusammenfassen, was ich seit 1994 über die Gesellschaft gelernt habe, würde das so klingen: »Dieses ganze Gebilde aus spekulativer, computergesteuerter, gentrifizierender, militarisierter, megaverschmutzter, termingehetzter, schuldengetriebener neoliberaler Globalisierung hat sich seit den 1980er-Jahren als Möglichkeit manifestiert, die institutionellen Veränderungen zu blockieren, die ursprünglich von den neuen sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre in Gang gebracht wurden.« Mit anderen Worten: Kulturelle Einengung beeinträchtigt nicht nur die experimentelle Kunst. Sie betrifft vielmehr alle egalitären, emanzipatorischen und ökologischen Bestrebungen in der postfordistischen Ära.
Zukunft
Die Frage lautet: Wie werden kulturelle Praktiken zu politischen Handlungen? Oder, um es etwas schärfer zu formulieren: Wie durchbricht die operative Kraft einer kulturellen Betätigung oder gar einer Disziplin die normativen und rechtlichen Beschränkungen, die ihr ein Beruf auferlegt?
Nehmen wir das Foto der Protestwelle, die den US-Bundesstaat Wisconsin überrollte, als es dessen Gouverneur Scott Walker gelungen war, eine Sparpolitik durchzusetzen, die unter anderem das Ende jeglicher Tarif- und Lohnverhandlungen beinhaltete. Das Foto ist ein Schnappschuss mit einer Digitalkamera, der anschließend im Netz verbreitet wurde. Es zeigt eine weiße Frau aus der Mittelschicht, die vor einer amerikanischen Flagge und neben einer Statue steht. Sie hält ein Plakat hoch, auf dem in großen Lettern steht:
I AM NOT REPLACEABLE
I AM PROFESSIONAL11
Wer ist diese Frau? Eine Künstlerin? Eine Kuratorin? Eine Kunsthistorikerin? Eine Kulturkritikerin? Warum verkündet sie ihre Sicherheit auf diese Art und Weise? Hat sie noch einen Job? Hat sie noch Rechte? Und wie steht es mit uns? Woher kommen unsere Rechte? Wie werden sie aufrechterhalten? Wie werden sie geschaffen?
Wie in vielen anderen Ländern wächst auch in den Vereinigten Staaten das Gefühl der existenziellen Bedrohung. Endlose Kriege, in die Privatsphäre eingreifende Überwachungsmaßnahmen, ökonomische Unsicherheit, zunehmender Raubbau an der Umwelt, wachsende Korruption: All das kennzeichnet den Eintritt in ein Zeitalter globaler Spannungen − Spannungen, die es seit den 1930er-Jahren so nicht mehr gegeben hat. Mit dem fortschreitenden wirtschaftlichen Zusammenbruch und dem ständig akuter werdenden Klimawandel werden diese Gefahren sehr viel konkreter. Wir sollten uns unbedingt auf den Moment vorbereiten, an dem die Beteiligung an einer sozialen Bewegung nicht nur wünschenswert wird, sondern unausweichlich.
* * *
Ein Großteil dieses Texts wurde im Sommer 2011 verfasst, während sich über Europa und dem Nahen und Mittleren Osten bedeutende soziale Bewegungen ausbreiteten und in Amerika absolute Ruhe herrschte. Noch im Herbst desselben Jahres sollte sich das ändern. In ganz Amerika gingen Hunderttausende auf die Straße, errichteten Zeltlager auf öffentlichen Plätzen und begannen, alle ihnen zur Verfügung stehenden sozialen, intellektuellen und kulturellen Ressourcen zu mobilisieren, um fundamentale Kritik an der herrschenden Ungerechtigkeit zu üben. Dies setzt sich bis heute fort. Dabei haben KünstlerInnen an der Seite von OrganisatorInnen, ForscherInnen und MedienaktivistInnen eine bedeutende Rolle gespielt, die stetig wächst, da immer mehr Menschen die Grenzen ihrer disziplinären Identität überschreiten. Fortan sieht man überall im Land einen völlig anderen Slogan, einen, der auf etwas hinweist, was nunmehr als prekäres Schicksal erscheint:
LOST MY JOB, FOUND AN OCCUPATION12
Dieser Text ist die abgewandelte Version eines längeren Artikels, dessen englische Originalversion erschienen ist in: Nato Thompson (Hg.), Living as Form: Socially Engaged Art from 1991 to 2011. Cambridge/London 2012. Der komplette Text kann (auf Englisch) nachgelesen werden auf http://brianholmes.wordpress.com/2012/02/17/eventwork
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Konzepte zur Eventarbeit wurden bereits von Suely Rolnik entwickelt, siehe »Politics of Flexible Subjectivity: The Event Work of Lygia Clark«, in: Terry Smith (Hg.), Antinomies of Art and Culture. Durham 2009; sowie bei Sylvia Maglione und Graeme Thomson in deren Ausstellung »Blown Up! Eventwork« (2009), dokumentiert auf http://facsoflife.wordpress.com/blown-up. Der hier entwickelte Gedanke ist etwas anders, aber ich bin für beide Inspirationen dankbar.
2 Vgl. León Ferrari, The Art of Meanings (1968), in: Inés Katzenstein (Hg.), Listen Here Now! Argentine Art of the 1960s: Writings of the Avant-Garde. New York 2004, S. 312.
3 Vier Schreibmaschinenmanuskripte von Texten, die bei diesem Treffen vorgetragen wurden, befinden sich im Archiv von Graciela Carnevale; sie dienen als Quellen für diesen Absatz. Drei davon (darunter der oben zitierte Text von León Ferrari) wurden für »Listen Here Now!« (siehe Fußnote 2) ins Englische übersetzt; der vierte Text von Nicolás Rosa wurde auf Spanisch abgedruckt in: Ana Longoni/Mariano Mestman, Del Di Tella a »Tucumán Arde«: Vanguardia artística y política en el 68 argentino. Buenos Aires 2008, S. 174–178.
4 Vgl. María Teresa Gramuglio/Nicolás Rosa, »Tucumán Arde« (1968), eine Erklärung, die während der Ausstellung in Rosario kursierte und in »Del Di Tella a Tucumán Arde« (siehe Fußnote 3) abgedruckt wurde. Ins Englische übersetzt wurde der Text unter dem Titel »Tucuman Burns«, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.), Conceptual Art: A Critical Anthology. Cambridge 1999, S. 76–79; allerdings wird der Begriff »circuito sobreinformacional« dort mit »informational circuit« wiedergegeben und verliert damit eine entscheidende Gewichtung.
5 Zu Lippards Besuch in Argentinien und ihrer Erklärung vgl. Julia Bryan-Wilson, Art Workers: Radical Practice in the Vietnam War Era. Berkeley 2009, S. 132–138.
6 Vgl. Ana Longoni/Mariano Mestman, Del Di Tella a Tucumán Arde, S. 216.
7 Vgl. »Frente a los acontecimientos políticos …«, unsigniertes Dokument im Archiv von Graciela Carnevale (zwei Seiten), offenbar der Entwurf eines Handzettels, der während der Ausstellung in Rosario verteilt werden sollte.
8 Vgl. Dossier Argentine, Les fils de Marx et de Mondrian, in: Robho, Nr. 5–6, 1971, S. 16.
9 Vgl. die Rekapitulation des Aids-Aktivismus bei Tina Takemoto, The Melancholia of Aids: Interview with Douglas Crimp, in: Art Journal, Vol. 62, No. 4 (Winter 2003).
10 Vgl. Robert Smithson, Cultural Confinement (1972), in: Nancy Holt (Hg.), The Writings of Robert Smithson. New York 1979.
11 Ich bin nicht ersetzbar, ich bin ein Profi.
12 Habe meinen Job verloren und eine Beschäftigung gefunden.