Heft 4/2012 - Netzteil


Digitale Weltklassen

Über Neuauslegungen des »Digitale Divide« und wie die englische Sprache langsam Konkurrenz bekommt

Vera Tollmann


In den späten 1990er-Jahren hatte die Internetweltkarte eindeutig noch einen Westüberhang: Wenn auf Infografiken Datenautobahnen über eine Weltkarte gezogen wurden, dann war es in den USA hell erleuchtet, breite Seestraßen führten hinüber nach Japan und auf der anderen Seite nach Europa. Analog zu Visualisierungen des weltweiten Stromverbrauchs sah es in Südamerika, Afrika und weiten Teilen Asiens zu der Zeit noch düster aus. Als vor etwa 15 Jahren der Begriff »Digital Divide« in Wissenschaft, Medien und Politik zum ersten Mal auftauchte, war damit das Bewusstsein für diese ungleiche Verteilung des Zugangs zu Informationen und digitalen Kommunikationsmitteln gemeint. VertreterInnen der Cultural Studies, die stets von den RezipientInnen oder in diesem Fall den NutzerInnen ausgehen, kritisierten, dass genau diese Ausschlüsse die ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Ungleichheiten noch verstärkten.
Richtig einordnen lässt sich der Begriff »Digital Divide« nicht. Schnell wurde das beschriebene Problem von Weltorganisationen adoptiert. Dort fand er Eingang in den Diskurs rund um Zivilgesellschaft, in politische Papers und die NGO-Sprache. Wofür steht »Digital Divide« also heute? Über die Jahre hat sich die Bedeutung von der eindeutigen Zugangsfrage, also der Möglichkeit, technologische Mittel zu nutzen, hin zur Frage nach Geschwindigkeiten von Datenpaketen bzw. der generellen Fähigkeit verschoben, durch den Informationskosmos zu navigieren. Trotzdem stand 2010 in 46 Prozent der ärmsten Haushalte der USA kein Computer, und noch heute wählen sich in wenig bewohnten Ecken mancher Bundesstaaten Leute mit dem Modem ein. Man denke aber bloß nicht, dass nach der schrägen Tonabfolge die symphonischen Jingles von Nachrichtensendungen oder Soaps zu hören wären – für das Abspielen von Internetvideos reicht die Datenrate eines Modems nicht aus. Wer über Glasfaserkabel mit dem Internet verbunden ist, kann sich wohl zu den Happy Few zählen.
Aktuellere Auffassungen der digitalen Kluft begleiten kompliziertere Fragestellungen: Wie soll das Internet klug genutzt werden? Wer mit Online-Spielen die Zeit totschlägt, lernt wenig. Deswegen sprechen bemühte PädagogInnen mit Blick auf die Gaming-Teenager von einem »Time-wasting Gap«. Inzwischen sind Initiativen entstanden, um »digital literacy« zu vermitteln. In dem Zusammenhang spricht der Medienwissenschaftler und Autor des Buchs »Convergence Culture« (2006), Henry Jenkins, von »Participation Gap« – online gehen sie alle gelegentlich, aber wer nimmt wirklich teil an sozialen und kulturellen Projekten? »Das neue ›hidden curriculum‹ (heimlicher Lehrplan, gemeint sind die sozialen Mechanismen in einer Schulklasse, die Anpassung an die Institution und deren Regeln, Anm. d. A.) beeinflusst, wer sich ermächtigt und berechtigt fühlt zu partizipieren.«
Dass das Verweigern von Teilhabe auch ein politischer Akt sein kann, gibt Alejo Duque, Mitinitiator der jährlich in einem anderen südamerikanischen Land stattfindenden Konferenzreihe »labSurlab«, die ein Netzwerk von Medienlaboren adressiert, zu bedenken. Für ihn ist freiwilliger Selbstausschluss von Netzwerken, die »nichts ›Wertvolles‹ zu unseren lokalen Interessen beisteuern, eine widerständige Praxis«. Dazu gehört, erst gar nicht in die großen sozialen Netzwerke einzusteigen. In einer Diskussion mit Xaver Ansgar vom Kollektiv la direkta, die letztes Jahr im Rahmen von »labSurlab« in Medellín, Kolumbien stattfand, musste er feststellen, dass das Verständnis des »Digital Divide« von einem großen Durcheinander geprägt ist. Für Ansgar werden damit Analphabetentum und Zugang zu Technologien beschrieben, für Duque Mediencamouflage und medialen Einfluss. Duque hat den Begriff dialektisch gewendet und ins Positive angeeignet. Er macht aus der Situation eine »Verteidigung«: »Ich denke, es geht darum, die Unterschiede anzuerkennen und in der Lage zu sein, die Anwendungen zu konfigurieren, die für einen bestimmten Kontext und in einer bestimmten Situation besser funktionieren.«
Denn Technologien beinhalten immer kulturelle Ausrichtungen, die wiederum ihre Brauchbarkeit limitieren. So wie Wikipedia keine objektive Enzyklopädie sein kann – denn von wo aus schreiben die meisten AutorInnen? Aus Australien, der USA, Kanada und Deutschland.
Der Medientheoretiker und Datenliebhaber Lev Manovich stellte an ganz anderer Stelle eine Form von »Divide« fest: Als »Data Analysis Divide« bezeichnet er die Differenzen beim Zugang zu großen sozialen Datensätzen. In seinem Aufsatz »Trending: The Promises and the Challenges of Big Social Data« beschreibt er die Kluft zwischen DatenexpertInnen und ForscherInnen ohne Computerkompetenzen. Laut Manovich lassen sich Leute und Organisationen in drei Kategorien einteilen: »diejenigen, die Daten erstellen/anlegen (sowohl bewusst als auch indem sie digitale Spuren hinterlassen), diejenigen, die die Mittel haben, sie zu sammeln, und diejenigen, die die fachliche Kompetenz haben, um sie zu analysieren. Die erste Gruppe umfasst so ziemlich jeden in der Welt, der das Web und/oder Mobiltelefone nutzt, die zweite Gruppe ist kleiner, und die dritte Gruppe ist noch viel kleiner. Wir können uns auf diese drei Gruppen als neue ›Datenklassen‹ unserer ›großen Datengesellschaft‹ beziehen.«
Als »Digital Divide« noch die Unterscheidung in online und offline beschrieb, war Englisch die im Netz am weitesten verbreitete Sprache. Laut Wikipedia und Weltinternetstatistiken ist Englisch zwar immer noch die am häufigsten geschriebene Sprache – diesbezüglich kommt die Kolonialgeschichte ins Spiel, da Englisch etwa in Indien am zweitmeisten gesprochen wird. Asien ist allerdings durch China inzwischen der größte Internetkontinent. Je nachdem, ob nach Sprachen oder nach Ländern in Kombination mit Sprachen gelistet wird, stehen China oder die USA an erster Stelle. Nachdem Englisch lange Zeit die Sprache war, mit der weite Gebiete des Internets zu erkunden waren, gibt es heute große Daten-Bubbles auf Russisch, Chinesisch oder Spanisch. Was tun mit dem »Language Divide«?
Natürlich gibt es Tools: Mit dem Google-Übersetzungsdienst lässt sich trotz eines gewissen Grads an semantischer Unordnung immer genauer herausfinden, wovon ein Text handelt. Dieses Service wird auf mehr und mehr Webseiten integriert. Die UserInnen wissen, dass sie sich auf diese Weise einen Eindruck davon verschaffen können, worum es grob geht. Um die Unschärfen zu überbrücken und präziser in eine Thematik einzusteigen, entstanden in letzter Zeit Blogs, die thematische Threads nach Kommentaraufkommen auswählen, übersetzen und den jeweiligen Hintergrund vermitteln – Diskussionen, die besonders viel Traffic im Internetkosmos verursachen. Für chinesische Weibos – Twitter-Blog-Hybride mit zig Millionen NutzerInnen – übernehmen Websites wie »Tea Leaf Nation« oder »Shanghaiist« die redaktionelle Arbeit und übersetzen Gerüchte, User-Nachrichten und Videos aus dem teils ziemlich bildlichen Weibo-Mandarin – einem Jargon, der spezifisch auf die chinesische Internetzensur mit ihren ideologischen Filtern angepasst ist – ins Englische. Im russischen Internet, kurz RuNet, dem größten Netz in Europa, hat der Basiseffekt auch die Nutzung geprägt. Derzeit erzeugen die Anti-Putin-Proteste erheblichen Datenverkehr.
Und es gibt offensichtlich laute Stimmen in immer neuen Teilen der Internetsphäre: Seitdem internetfähige Handys auf dem Markt sind, scheint sich die digitale Kluft immer mehr zu schließen. Der Propagandafilm »Kony 2012« bekam 100 Millionen Klicks und löste mit seiner einseitigen Darstellung heftige Reaktionen in der ugandischen Webgemeinde aus. »Ein Kontinent schreibt zurück«, titelte eine Berliner Tageszeitung. Kritisiert wurde vor allem, dass der Anführer der Lord’s Resistance Army schon seit über 20 Jahren erfolglos mit militärischen Mitteln gesucht werde und er sich vermutlich inzwischen in einem Nachbarland aufhalte. Obwohl Englisch die Standardsprache für die internationale Kommunikation darstellt, haben sich im RuNet, innerhalb der chinesischen Firewall und in afrikanischen Ländern aktive Netzwerke gebildet, die wegen mangelnder Sprachkompetenzen nicht ohne Weiteres zugänglich sind, von der Teilhabe ganz abgesehen.
Vice versa: Wie die in Hongkong lehrende australische Cultural-Studies-Theoretikerin Meaghan Morris in ihrem Aufsatz »On English as a Chinese Language: Implementing Globalization« festhält, gibt es mehr und mehr Situationen, in denen Englisch gesprochen wird, ohne dass dabei amerikanische oder britische Interessen eine Rolle spielen. So ist das Englische eine Lingua franca, mit der chinesische Institutionen ihr Business in Indien, Thailand, Korea, dem Südpazifik oder Mexiko betreiben, während am anderen Ende des Spektrums chinesische Bachelor-StudentInnen Seminare in englischer Sprache besuchen.
Morris war schockiert, als sie von Hongkong aus wieder in den aktuellen angloamerikanischen Cultural-Studies-Diskurs einstieg, um ihre verspätete Antrittsvorlesung an der dortigen Lingan Universität vorzubereiten, dass in der amerikanischen Zeitschrift »New Left Review« ihrem Fach »eine eng gefasste, nationale methodische Disposition und angloamerikanische Globalisierungsmission« vorgeworfen wurde. Ihre Unterrichtsmethode in Hongkong definiert sie als »lokal engagierter Internationalismus«, eine schöne Formel für das Umdenken, das doch bereits eingesetzt hat.

 

 

labSurlab: https://n-1.cc/pg/groups/22816/labsurlab/
Lateinamerikanische Alternative zu Facebook: https://n-1.cc/
Alejo Duque und Xaver Ansgar bei labSurlab 2011: http://youtu.be/TQ7_4E5nH8Q?t=21m20s
Lev Manovich, »Trending: The Promises and the Challenges of Big Social Data«; http://lab.softwarestudies.com/2011/04/new-article-by-lev-manovich-trending.html
Tea Leaf Nation: http://tealeafnation.com/
Shanghaiist: http://shanghaiist.com/
Meaghan Morris, »On English as a Chinese Language: Implementing Globalization«; http://usyd.academia.edu/MeaghanMorris/Papers/370161/On_English_as_a_Chinese_Language_implementing_globalization