Heft 1/2013 - Artscribe


Newtopia: The State Of Human Rights

1. September 2012 bis 10. Dezember 2012
Kulturzentrum Mechelen, Alte Fleischmarkthalle, Stadtmuseum Hof van Busleyden, LAMOT Kongress & Heritage Centre / Mechelen

Text: Hedwig Saxenhuber


Mechelen. 10. Dezember 2012, letzter Ausstellungstag von Newtopia: The State Of Human Rights in Mechelen, einer Ausstellung zum Thema Menschenrechte mit Arbeiten von über 70 internationalen KünstlerInnen, von denen die Hälfte aus Staaten kommen, die nicht der westlichen Hemisphäre zuzurechnen sind. Auf den Tag genau 64 Jahre zuvor wird in Paris die UN-Charta der Menschenrechte verkündet.
In der beschaulich schmucken Kleinstadt, die zwischen Brüssel und Antwerpen gelegen ist, sollte Newtopia die geplante Eröffnung der in ein Memorial, Museum und Dokumentationszentrum des Holocaust und der Menschenrechte umgewidmeten Kazerne Dossin mit zeitgenössischer Kunst begleiten. In dieser Kaserne befand sich im Zweiten Weltkrieg ein Durchgangslager der SS, von dem aus belgische Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti nach Auschwitz und Birkenau gebracht wurden. Mechelen blickt aber auch auf eine große humanistische Tradition zurück, etwa Hieronymus van Busleyden, der von hier aus in regem Austausch mit Thomas More und Erasmus von Rotterdam stand. Auch das Zentrum der Gerichtsbarkeit der habsburgischen Niederlande befand sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in der Stadt. Gute Gründe also, um Katerina Gregos, die 2011 im dänischen Pavillon der 54. Biennale von Venedig mit Speech Matters, einer Reflexion auf das Thema politische Artikulation, reüssiert hatte, einzuladen, einen Ausstellungsparcours durch die Kunstinstitutionen der Stadt zum Thema Menschenrechte zu inszenieren.
Thomas Lochers postkonzeptuelle Analyse des Artikel 33 der UN-Menschenrechtscharta, welcher sich auf den Status der AsylantInnen bezieht, kann als Schlüsselarbeit von Newtopia gelten. Die dem universalistischen Projekt der westlichen Moderne verpflichtete Charta, die heute zu Recht oft als Ausdruck spezifischer kultureller, historischer und sozialer Umstände und Herrschaftsverhältnisse kritisiert wird, unter anderem weil sie dem Pluralismus der Kulturen nicht gerecht werde, gilt dennoch bis heute als internationaler Maßstab; und Menschenrechtsverletzungen stehen nicht nur in Ländern, die eine schwach ausgeprägte bis keine entwickelte Demokratie haben, immer noch an der Tagesordnung.
Zum schwierigen Unterfangen, den Status quo der Menschenrechte weltweit durch Gegenwartskunst zu repräsentieren, ohne als Kuratorin in die Schusslinie zu geraten, kam in diesem Sommer der Kunstgroßausstellungen mit documenta, Manifesta (Gregos war dort Kokuratorin) und Triennale jenes, gegen die in ihrer Megalomanie die BesucherInnen doch bisweilen überfordernden Events anzutreten. Man schien die vier Ausstellungsorte und sechs Solopräsentationen in Mechelen nicht genug zu finden, und so gab es noch eine inhaltliche Verbindung zu Let There Be Light von Alfredo Jaar im ING Cultural Centre in Brüssel. In Mechelen überzeugten vor allem Jaars frühe konzeptuelle Arbeiten wie September 11 (1973), die vom blutigen chilenischen Militärputsch handelt, sowie das jüngst entstandene Three Women (2010), ein direkter Verweis auf drei Frauen: die mosambikanische Politikerin Graça Machel, Ela Bhatt, eine indische Anwältin und Aktivistin der Mikrofinanzbewegung, und die burmesische Oppositionspolitikerin Aaung San Suu Kyi. Winzig kleine Porträts der drei Menschenrechtsaktivistinnen auf einer großen weißen Wand, angestrahlt von vielen Scheinwerfern, fokussieren mit einfachen Mitteln die außerordentlichen Leistungen dreier Persönlichkeiten als medialen Präsenzraum.
Bei Gregos enzyklopädischer Vorgehensweise – die einen Fokus auf Arbeiten aus den 1970er-Jahren bis heute in verschiedenen Medien versammelt (auch Plakate und Graffiti von Alternativ-, Grass-Roots- und politischen Bewegungen) – scheint es, als hätte sie Mühe gehabt, die Menge an Arbeiten unterzubringen. Überspitzt formuliert gelangen geübte AusstellungsbesucherInnen schneller zu einem Überblick, wenn sie sich die Frage stellen, welche KünstlerInnen thematisch gefehlt haben und nicht wer ausgestellt wurde. Unter den Einzelpräsentationen machten Krysztof Wodiczkos Projektion von Augen auf das Rathaus, die auf filmischen Interviews mit MigrantInnen vor Ort basieren, und die 19-teilige Filminstallation von Amar Kanwar über einen burmesischen Buchhändler, der bei allen Büchern, die er verkaufte, die erste Seite herausriss, da sie Propaganda des Militärregimes enthielten, und der dafür zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, den spektakulärsten beziehungsweise stärksten Eindruck. In den Ausstellungen gab es hin und wieder bizarre Anordnungen und das waren mitunter die einprägsamsten Momente: Wilhelm Werners Wand ungelenker Zeichnungen aus der Prinzhorn-Sammlung, die den Akt der Kastration wiedergeben, den Werner im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis erlebt hatte, und schließlich selbst nicht überlebte. In unmittelbarer Nähe befand sich Picassos Frauenkopf, eine Studie zu Guernica von 1937 und vis-à-vis eine komisch absurde Aneinanderreihung von Teilen kaputter Porzellanfigürchen Fragmented Virginity (The Act Of Rape In Wartime) von Satch Hoyt, die sich auf die Vergewaltigungen der Trümmerfrauen in Berlin durch die Rote Armee bezieht. Die Entdeckung im dänischen Pavillon war der tschechische Filmemacher Jan Švankmajer mit einem ganz der surrealistischen Tradition verhafteten Film The Flat (BYT) (1968), wo es kein Entrinnen des Darstellers gibt, weil alle Dinge lebendigerweise sich gegen ihn verschworen haben.
Wo Objekte sich auch auf ganz seltsame Weise verselbstständigt haben und berührten, das waren die fragilen Glaskleidchen Christian Dresses (1999–2012) von Lieve Van Stappen, mit denen sie die leidvolle unterdrückte Geschichte des Missbrauchs in der katholischen Kirche aufzeichnet und die Verletzungen symbolisch darstellt. Newtopia handelt nicht nur vom Leid der Einzelnen, sondern auch von politischen Subjekten, von einer Reihe von Auslöschungen und Gedächtnisverlusten, wie sie etwa der Kongolese Sammy Baloji in den schrecklichen Spuren der Expedition von Charles Lemaire als Dialog mit dem Heute zeigt, oder Nikita Kadans mit den mit Folterpraktiken gegen politische Gefangene in der Ukraine dekorierten Porzellantellern. Ein probates Festgedeck für einen der vielen Politgipfel.