Heft 2/2013 - Unruhe der Form


Anthropologie des Aufführens

Zur Unterscheidung von Schauspiel, Aufführungshandlung und Performance

Keti Chukhrov


Eine künstlerische Aufführung (performing) lässt sich als prozessorientierte Entfaltung dessen, was aufgeführt wird, definieren. Im Hinblick auf performative Praktiken stellt sich auf theoretischer und philosophischer Ebene häufig die Frage, ob eine Aufführung (als Darbietung einer Theaterrolle oder eines Musikstücks) im Kontext ihrer Aktualisierung überhaupt als Ereignis gilt oder als untergeordnete Praxis der Wiederholung eines vorgängigen „Texts“ keine eigenständige Bedeutung hat. Jacques Derrida betrachtete die aufführende Aktualisierung beispielsweise als Effekt eines Erregungszustands des Bewusstseins, das nach Idealisierung und metaphysischer Durchdringung strebt. Im Unterschied dazu fasste Gilles Deleuze performative Akte als komplexe Handlungen auf, die einerseits eine elementare Verbindung zum Sein wahren, andererseits über die menschliche Existenz hinausweisen und selbst zu einem Ereignis werden. Im Folgenden wird den konträren Ansätzen zu einer Anthropologie des Performativen bei Derrida und Deleuze nachgegangen und gezeigt, inwiefern Theatralität erst aus der Verknüpfung mit dem Ereignis entsteht.

Das Schweigen der différance1
In seinem Werk Grammatologie kritisiert Derrida Funktion und Stellenwert der Stimme vor dem Hintergrund, dass jeder Äußerungsakt im Prinzip kryptisch sei. Einem Geschehen im Hier und Jetzt kann, so Derrida, kein Ereignisstatus zukommen, da es nur Supplement der totalitären Beharrlichkeit der différance und der écriture, der geschriebenen Sprache, ist. Alle performativen Praktiken, die mit Stimme arbeiten (vor allem Theateraufführungen und musikalische Darbietungen), erzeugen somit nur die Illusion eines Ereignisses. Singuläre Bedeutung kommt ihnen im Unterschied zur écriture nicht zu, denn mündliche Äußerungen stehen in einem bloß ergänzenden Verhältnis zur différance. Die Aussage ist „unsagbar“, daher muss es in der Kunst mit den ihr jeweils eigenen Ausdrucksmitteln des Theaters, der Musik oder der Malerei stets um diese Unsagbarkeit gehen.
Im Vergleich der beiden Ausdruckssubstanzen des Grafischen und Phonetischen erkennt Derrida keinen Mehrwert des stimmlichen Zeichens gegenüber der écriture. Die Stimme ist eine Täuschung, denn jenseits von Semiologie, außerhalb der Sprache, gibt es sie nicht. Weder die Aufführungszeit oder die Situation noch die Kontingenz in der Entwicklung weisen nach Derrida eine spezifische Form der Temporalität auf, die sie der Intensität nach von der allgemeinen Zeit unterscheiden würde. All das steht für Derrida im Widerspruch zum performativen Ereignis und zieht die Möglichkeit des Ereignisses überhaupt in Zweifel.
Der autobiografische Film Derrida, Anderswo (1998) von Safa Fatih enthält ein anschauliches Beispiel für Derridas antiperformative Haltung. An einer Stelle reflektiert er über den Akt der Vergebung. Bittet man um Verzeihung, muss man zwar bestimmte Wörter äußern, doch die Absicht, um Verzeihung zu bitten, ist letztlich entscheidender als der Sprechakt oder die Formulierung. Diese Entscheidung vollzieht sich auf der Hinterbühne des Sprechens, jenseits des performativen Hier und Jetzt. Wie aber lässt sich der Akt der Vergebung kommunizieren, wenn er nicht in einer Sprechhandlung vollzogen wird? Derridas Antwort lautet, dass eine Inszenierung der Bitte um Vergebung nicht nötig ist. Sollte überhaupt eine Entscheidung darüber möglich sein, fiele sie ohnehin im aufschiebenden Grenzraum der différance, der weder durch Präsenz noch durch Aktualisierung gekennzeichnet ist. Obwohl er sich hier ausdrücklich auf theatrale Inszenierungen bezieht, gilt sein Interesse nicht dem eigentlichen Bühnengeschehen, stattdessen ist sein Augenmerk auf die Szene hinter dem noch geschlossenen Vorhang gerichtet, bevor das Schauspiel beginnt. Diesem kurzen Augenblick des Verharrens in der Falte zwischen Darstellung und Nichtdarstellung gilt sein künstlerisches Interesse. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Stimme als Beweis für Vergebung und einer juristisch verbindlichen Unterschrift, einem Siegel oder anderen Formen des geschriebenen Worts, die denselben Zweck erfüllen könnten. Derrida behauptet also, dass, so die Entscheidung zu fällen wäre, ihre performative Aktualisierung überflüssig und redundant sei.
Es ist jedoch gerade das von Derrida verworfene performative Zufällige, welches Deleuze in seinen Arbeiten als „Theater“2 definiert und ihm geeignet scheint, um das Ereignis zu entschlüsseln. Theatralität entsteht dann, wenn das Geheimnis offengelegt, die Entscheidung gefällt und der Entschluss nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Schauspieler und Ereignis
In Differenz und Wiederholung analysiert Deleuze die Art und Weise der Hervorbringung jener spezifischen Zeitlichkeit und Zufälligkeit von Aufführungshandlungen. Für gewöhnlich wird Wiederholung als Spiegelung und nachahmende Repräsentation einer bereits gegebenen Seinswirklichkeit verstanden. Deleuze versucht jedoch nachzuweisen, dass vermittels des performativen Charakters der Wiederholung eine zweite Seinsweise etabliert wird, die über die menschliche Existenz hinausweist. Dabei kommt sowohl der genetischen Verbindung zum Sein (zu dem, was ist und wiederholt werden kann) als auch dem besonderen Stellenwert der Aktualisierung des performativen Akts als Wiederholung dieses Seienden zentrale Bedeutung zu.
Deleuze bezieht sich dabei auf Immanuel Kants Kritik des kartesianischen Cogito,3 das heißt der von René Descartes beschriebenen Verlagerung von „Ich denke“ zu „Ich bin“, die laut Kant nicht automatisch gelingen kann. Man könne nicht übergangslos von „Ich denke“ zu „Ich bin“ springen. Der Wechsel funktioniere nur über die transzendentale Form der Zeit. Zudem könnten das denkende und das seiende Ich nicht ein und dasselbe Ich sein. Das „Ego“ sei folglich von einem Riss durchzogen. Die auf der Trennung von Anschauung und Denken beruhende Prämisse, dass das transzendentale Subjekt synthetische Urteile fällt, während die Anschauung von einem passiven empirischen Ich geleistet wird, übernimmt Deleuze. Er kritisiert allerdings, dass Kant die eben aufgedeckte Spaltung des Ichs sogleich wieder mit einer neuen Form synthetischer Identifikation auffüllt, in welcher die empirische Anschauung von der transzendentalen Operation beherrscht wird. Genauer gesagt: Der Dualismus von Anschauung und Denken wird bei Kant durch die Macht des transzendentalen Subjekts erneut aufgehoben. Deleuze lehnt diese Subjektivitätstheorie ab und schlägt stattdessen vor, an der Spaltung des Ichs festzuhalten. Zum einen kann so die Trennung von Transzendenz und Empirie erhalten bleiben, gleichzeitig wäre aber eine Verbindung von transzendentaler Synthese und empirischer Dissipation hergestellt. Die Zeit, die sich zwischen Anschauung und Denken ereignet, wäre demnach keine bloß theoretische Hinzufügung zu „Ich denke“ und „Ich bin“, sondern produktive „leere“ Zeit, in der sich die Performativität des Ereignisses entfalten kann und die paradoxe disjunktive/ausschließende Verbindung von Transzendentalem und Empirischem stattfindet.
„Die leere Form der Zeit“, auf die Deleuze hier verweist, ist eine Zeit nach der Narration; eine Zeit, die sich jenseits dessen ereignet, was sich während ihr ereignet. Friedrich Hölderlin folgend spricht Deleuze von der Ordnung des Rhythmus – Zäsur –, bei der Zeit nicht linear in eine Richtung verläuft, sondern sich ungleichmäßig um die Zäsur herum verteilt.
Im Hamlet beschreibt William Shakespeare dies als Zeit, die „aus den Fugen“ ist. (Deleuze nennt sie „Äon“.) Als seine (Lebens-)Inhalte sich plötzlich als fiktiv erweisen und er durch eine Phase der metanoia4 gegangen ist, steht Hamlet vor der leeren Zeit. Hamlet wird zum Schauspieler, und der Schauspieler in der Rolle des Hamlet führt nun auf, wie die Figur Hamlet vor dem Hintergrund des Ereignisses zum Schauspieler wird.
Deleuze bezeichnet die leere, ungleich um die Zäsur herum verteilte Zeit der Schauspielerei als dritte Wiederholung. Die erste Wiederholung erfolgt mechanisch, bleibt der Gegenwart verhaftet und ist typisch für die chronologisch verlaufende Zeit. Die zweite Wiederholung ist die auf die Vergangenheit gerichtete Synthese des Gedächtnisses, die „Synthese von Eros und Mnemosyne“. Die dritte Wiederholung ist, Deleuze zufolge, die Wiederholung des Todes. Sie verläuft jenseits des Lustprinzips und aktualisiert sich in der leeren Zeit oder Extrazeit. Die dritte, künstlerische Wiederholung, mithin die leere Zeit der Performativität, verläuft als Ereignis, das gleichzeitig den unvermeidlichen Effekt eines ihm vorgängigen Ereignisses darstellt. Mit anderen Worten: Im sich aufführend entfaltenden Ereignisverlauf, genannt Ereignis, bleibt die genetische Verbindung zum tatsächlich geschehenen Ereignis erhalten.

Nietzsches „ästhetisches Spiel“
Ein früher Versuch, die Rolle von Klang, Tonlage und Wiederholung als Parameter des Performativen und Theatralen zu definieren, findet sich in Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie. In diesem Frühwerk vergleicht er die hellenistische mit der vorsokratischen Kultur, um der apollinischen Ordnung des Gestaltenden das dionysische Prinzip des Rauschhaften in der Musik entgegenzusetzen. Dabei erkennt er, dass die Rolle der Musik tatsächlich eine dritte Möglichkeit darstellt, die er in Anlehnung an Kant und Schiller als „ästhetisches Spiel“ bezeichnet und mit Bezug auf Goethe folgendermaßen definiert: „Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige Ahnung Goethes. ‚Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse‘, sagt er, ‚ist es auch mir niemals gelungen, irgendeine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre […]?‘.“5
Nietzsche verwendet den Begriff „ästhetisches Spiel“, um die Tragödie von der Katharsis-Hypothese, von der seelischen Reinigung sowie von der Entladung des Traumas zu trennen. „Ästhetisches Spiel“ hat hierbei jedoch nur wenig mit Schönheit im Sinne von Kant zu tun. Eher ist es als die paradoxe Nebenerscheinung der Nähe zum Schreckensereignis zu verstehen, als ästhetische Komponente, die über musikalische Klänge und Singstimmen inmitten des Schreckensgeschehens aufscheint.
Für gewöhnlich gilt, dass das Tragische durch die erschütternde Gewalt eines unvorstellbar schrecklichen Ereignisses hervorgerufen wird, was wiederum zu einer exaltiert „hohen Stimmung“ führt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Nietzsche weder den Schrecken selbst noch das durch Figuren und Geschichte erzeugte Pathos der Erhabenheit als konstitutives Moment der Tragödie definiert. Viel entscheidender als die aus Mythen und Epen hinlänglich bekannten Geschehnisse ist, dass das Tragische über dem Schrecken, über Tod und Trauer steht. Dieses „Überhöht“-Sein ist jedoch nicht in der Geschichte selbst angelegt. Es entsteht einzig und allein aus dem Modus der theatralen Performanz – aus der Art und Weise des Aufführens dieses „Überhöht“-Seins. Ein solcher Zustand kann nur durch die sich wiederholende, performative Kraft der Stimme, über Tonhöhe und Klangfarbe erzeugt werden. Obwohl Nietzsche Musik also zunächst als ursprünglich zur Tragödie gehörend definiert, erkennt er schließlich, dass die performative Folgewirkung, der Effekt vielmehr denn der Ursprung des Tragischen, weitere Funktionen der Musik sind. Durch Musik können tragische Erzählung und seelische Erschütterung überwunden werden, ermöglicht durch den performativen Überschuss der sich entfaltenden Darbietung.
Es ist allein performative Zufälligkeit, die es den ProtagonistInnen erlaubt, sich durch das Wagnis des Theaterspielens an andere zu wenden und so über die grausame Erzählung hinauszuweisen. Es sei angemerkt, dass der Aufführungscharakter des Spiels nicht eine von außen an den Theatertext herangetragene Komponente darstellt, die sich quasi posttextuell durch die Inszenierung ergibt. Im Gegenteil, das performative Moment ist dem dramatischen Text bereits vor jeder Aufführungspraxis eingeschrieben und meist eine Komponente der tragischen Erzählung selbst, die vorgibt, an welcher Stelle die ProtagonistInnen auf der Bühne Theater spielen. Gegen die These, dass aufführende Aktualisierung dem dramatischen Text äußerlich ist und SchauspielerInnen die Intention des Autors/der Autorin jeweils interpretieren, lässt sich also einwenden, dass die Potenzialität der Performativität dem Text nicht durch die interpretierenden SchauspielerInnen hinzugefügt wird, sondern das Drängen zur stimmklanglichen Aufführung und Intonation diesem Text bereits vom Autor/von der Autorin eingeschrieben ist. Nur in dem Fall sind Stücke genuin dramatisch und aufführungstauglich. Das heißt, die Intonation und Tonlage ist unabhängig von den jeweiligen SchauspielerInnen und deren Interpretationen, weil sie als Aufführungsweise vom Autor/von der Autorin im „Text“ hinterlegt wurden. Der Autor bzw. die Autorin ist somit stets der/die wichtigste „AkteurIn“ seines/ihres dramatischen Texts. Bei dieser Form des Theaters handelt es sich also nicht um Regietheater, sondern um SchauspielerInnentheater. Das spielt bei Nietzsche, Deleuze sowie bei Artaud und Jerzy Grotowski eine entscheidende Rolle.
Um noch einmal auf Hamlet zurückzukommen: Unabhängig davon, ob die Figur Hamlet tatsächlich dem Wahnsinn anheimfällt oder ob er diesen Zustand nur mimt, kann er die Geschichte von Betrug und Verrat nicht einfach nur darstellen (wie zum Beispiel in dem „Stück im Stück“ Die Mausefalle). Ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als gleichzeitig zum Schauspieler und Performer zu werden, weil er mit dem Ereignis, das sein Leben so unwiderruflich verändern sollte, aufs Engste verbunden bleibt. Das künstlerisch-performative Ereignis entwickelt sich hier genetisch aus dem existenziellen Ereignis heraus, das es jedoch gleichzeitig übersteigt. In ähnlicher Weise beginnt auch König Lear seinen Wahnsinn aufzuführen, nachdem er von seiner Tochter Regan aus dem Haus gejagt und vom Sturm überrascht wurde. Bereits in dieser Ordnung von performativem Ausagieren und Aufführungshandeln inszeniert er den theatralischen Abrechnungsprozess mit seinen Töchtern. Solche Momente des Aufführens sind exzessiv, sie weisen über das Sein hinaus oder richten sich gegen es, und doch bleiben sie in der Genese an ein aktuelles Ereignis gebunden.

Der Unterschied zwischen Aufführung und Performance
Da sich nun zeigt, wie stark Aufführungsakt und Ereignis miteinander verknüpft sind, kann auch methodologisch zwischen Performance als Praxis in der zeitgenössischen Kunst und Aufführungshandlung als Verfahrensweise des Theaters und der musikalischen Darbietung unterschieden werden.
Performances entstehen und entfalten sich quasi ex nihilo. Obwohl es sich bei Performances durchaus um prozesshafte Vorgänge handelt, bleiben sie doch gleichsam ausgestellte „Objekte“. Die Außenwelt und die sich in ihr vollziehenden Ereignisse werden auf den Körper oder ein Konzept des/der Performenden reduziert. Sie zeichnen sich in der überwiegenden Zahl der Fälle durch konzeptuelle und institutionelle Selbstbezüglichkeit aus, durch welche die ausführenden KünstlerInnen auf kunsthistorische Positionen und ihre eigene Verortung in Bezug zu ihnen verweisen. Eine Performance muss nicht unbedingt eine genetische Verbindung zu einem Ereignis außerhalb ihrer selbst aufweisen. Mit anderen Worten: Trotz ihrer Entfaltung in Raum und Zeit bleibt die Performance ein konzeptuelles Kunstobjekt. Außerdem besteht ein Unterschied zwischen dem zeitlichen Charakter einer Performance und der spezifischen Zeitlichkeit einer Aufführungshandlung. Performances von Bruce Nauman und Marina Abramovic oder auch Filme von Andy Warhol können sich zwar über viele Stunden erstrecken, doch das Erkennen der konzeptuellen Idee verläuft nicht parallel zur tatsächlichen Dauer der Performance. (Die neuesten Reenactments der Arbeiten von Marina Abramovic verdeutlichen, dass es sich tatsächlich um „Ausstellungsstücke“ handelt, ungeachtet ihrer zeitlichen Dauer.) Der Sinn einer Performance artikuliert sich also im Gegensatz zu einer Aufführungshandlung in einer zeitlichen Dimension, die sich von der an Rhythmus orientierten Zeitspanne einer Theater- oder Musikaufführung wesentlich abhebt. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist der Umstand, dass sich in der Aufführungshandlung durch das Bestreben, zum anderen zu werden, eine Bewegung weg vom Ego des Performers bzw. der Performerin vollzieht. Dieser Prozess, durch die Aufführungshandlung zum anderen zu werden, ist weniger eine mimetische denn eine ethische Verfahrensweise.
Wie bereits erwähnt, wird der ontologische Impuls zum Theaterspielen von dem der aufführenden Handlung vorangegangenen Ereignis ausgelöst. Dieser Bezug zum Ereignis wird jedoch nicht dadurch hergestellt, dass professionelle SchauspielerInnen eine Geschichte veranschaulichen, in der dieses oder jenes Ereignis stattfindet. Eine genuin theatrale Dimension können nur solche Stücke entwickeln, die eine Bruchstelle aufweisen (die man als metanoia bezeichnen könnte), welche den Beweggrund offenbart, der die ProtagonistInnen (Hamlet, Lear, Richard) dazu bringt, innerhalb des Stücks eine theatralische Handlung „aufzuführen“. In fast allen Shakespeare-Dramen wird innerhalb des Theaters Theater gespielt. Doch der tatsächliche Schauspieler bzw. die tatsächliche Schauspielerin X stellt dabei nicht einfach nur die metanoia der Figur im Stück dar, sondern erreicht darüber hinaus einen Zustand, an dem man sich nicht nur fragen sollte, warum beispielsweise Lear an dieser Stelle ein Schauspiel mimt, sondern auch, warum dieser bestimmte Schauspieler bzw. diese bestimmte Schauspielerin X überhaupt die metanoia eines anderen aufführt. Genau an diesem Punkt überschneiden sich Lears Wandlung zum Schauspieler innerhalb des Stücks und dieselbe Wandlung im Schauspiel des Lear-Darstellers. (Und in diesem Sinne sollte man das von Deleuze formulierte Diktum vom Aufführen des Aufführens auch verstehen.)
Das tragische Theaterstück, welches einerseits den Bewusstseinswandel der Figur (metanoia) als Rahmenerzählung beinhaltet, wirft gleichzeitig die Frage nach Ereignis und metanoia im Leben des realen Menschen auf, der als SchauspielerIn X diese oder jene Figur spielt. Diese performative Verquickung von Theaterspiel und wirklichem Leben auf dem Höhepunkt des Ereignisses war ein zentraler Bestandteil der Schauspielmethode von Grotowski, dem Leitgedanken folgend, dass der Schauspielende immer zuerst ein Mensch ist und dieser Mensch gleichzeitig eine Figur im Stück darstellt. Gemeint ist damit, dass eine Anthropologie des Performativen sich daher nicht bloß auf den Kunstgriff der Rollenkonstruktion stützen kann, sondern vor allem nach der Geisteshaltung fragen muss, in der man den anderen wiederholt und aufführt.

Übersetzung aus dem Englischen: Bettina Seifried

Die ungekürzte Fassung dieses Texts ist erschienen in: Siegrid Gareis/Georg Schöllhammer/Peter Weibel (Hg.), Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten, Ausstellungskatalog, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe 2012, Verlag der Buchhandlung Walther König. Köln 2013.

 

Übersetzt von Bettina Seifried

 

[1] Derrida änderte die Schreibweise des französischen Substantivs différence ab, um den endlosen Prozess der Differenzierung hervorzuheben: différance.
[2] Vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns. Frankfurt am Main 1993, S. 186–192; ders., „Ein Manifest weniger. Das Theater und seine Kritik“, in: ders., Kleine Schriften. Berlin 1980, S. 37–74; ders., Differenz und Wiederholung. München 1992.
[3] Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 118f., zit. nach: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. 4, W. Weischedel (Hg.). Frankfurt am Main 1968, S. 358.
[4] „Metanoia (griechisch) Reue, Änderung der Auffassung des eigenen Ich, des Lebenszieles; Gewinnung einer neuen Sicht der Welt, des Objektiven, die zur Hingabe führt.“ Lemma „Metanoia“, in: Heinrich Schmidt (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, 22. Aufl. Stuttgart 1991.
[5] Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, in: ders., Nachgelassene Schriften 1870–1873. München 1988, S. 9–156.