Editorial
Eine Zeit lang schien es, als würden weltweit, unzusammenhängend und verstreut, immer neue, schier unerschöpfliche Protestformen aus dem Boden sprießen. Zuletzt jedoch entstand der Eindruck, als würde das „alte System“ oder eine gerade im Entstehen begriffene, nicht minder autoritäre Ordnung in dieser Auseinandersetzung um gerechtere Lebensbedingungen die Oberhand behalten. Für das künstlerisch-kulturelle Feld, das sich mit derlei Protestbewegungen solidarisieren will, stellt sich somit eine Reihe von neuen, brisanten Fragen: Auf welche Weise kann die aktuelle Kunst den Widerstand gegen ökonomische Strukturen befördern, an denen sie nolens volens selber teilhat? Sind hinter den Fassaden ihrer als frei gedachten Räume die Potenziale des „Schwierigen“ und Nonkonformen nicht längst liquidiert worden? Muss das Projekt einer politischen Ästhetik jenseits eines medial verwertbaren Aktivismus nicht als abgebrochen oder verdrängt gelten? Und schließlich: Lässt sich diese „historische Aporie“ (wie man berechtigterweise sagen könnte) dergestalt zuspitzen, dass sich daran auch die künstlerische Imagination von politischer Subjektivität neu entfachen kann?
Fragen wie diese bilden den Ausgangspunkt des Projekts Unruhe der Form, das die Wiener Festwochen im Frühjahr 2013 an verschiedenen Schauplätzen in Wien realisieren. Eingebunden in das genreübergreifende Projekt sind die Räume der Secession sowie die benachbarten Ausstellungsflächen der Akademie der bildende Künste und des MuseumsQuartiers. Zusammen bilden diese Räume einen Parcours, der durch künstlerische Beiträge, Lectures, Konzerte und Performances temporär belebt wird und – zwischen bildender und darstellender Kunst changierend – eine mögliche Agora der Zukunft ermisst. Zudem setzt sich eine Reihe von AutorInnen in Form von Reden mit blinden Flecken der gegenwärtigen politischen Lage auseinander und versucht anzusprechen, was im öffentlichen Diskurs fehlt oder schlichtweg stört.
All dies erstreckt sich über einen Zeitraum von fünf Wochen und geht in großteils zeitgebundenen Formaten über die Bühne. Das vorliegende, in Kooperation mit dem Festwochen-Projekt entstandene Heft, versteht sich im Verhältnis dazu als begleitender Reader und versucht ausschnitthaft Schlaglichter auf die darin aufgeworfenen Problematiken zu werfen. Da ist zunächst das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen bildender Kunst, Performance und Theater, dem ein Roundtable mit Teilnehmenden am Projekt Unruhe der Form nachgeht. Weit davon entfernt, zu einer einhelligen Einschätzung einer selig machenden Crossover-Praxis zu kommen, werden darin gerade die Differenzen betont: etwa der selbstbezügliche Rahmen, dem die Gegenwartskunst nicht wirklich entkommen kann; die Kreation „aus dem Nichts“, wie sie die Performancekunst lange charakterisiert hat; schließlich das gemeinschaftsgenerierende Moment des Theaters. All diese, die Disziplinen nach wie vor trennenden Aspekte werden in dem multifokalen Gespräch nicht zu überspielen, sondern für den gemeinsamen, Entlegenes zusammenführenden Projektrahmen produktiv zu machen versucht.
Keti Chukhrov, eine der Gesprächs- und Projekteilnehmerinnen, hat sich intensiv mit den epistemologischen Grundlagen von Performance und Theater befasst und führt diese Unterscheidung in ihrem Essay weiter aus. Chukhrovs theoretische Auffächerung dessen, was „Aufführen“ entlang philosophischer Parameter alles bedeutet, macht unter anderem deutlich, wie schwer sich darstellende Formate letztlich dem gegenwartskünstlerischen Diskurs einpassen lassen. Dass die Frage nach darstellerischen Formen – Aspekte wie Adaptierbarkeit, Plastizität und Formbarkeit betreffend – noch ganz andere Dimensionen hat, dies unterstreichen die Heftbeiträge von Catherine Malabou und Brian Massumi. Malabou geht, in Anschluss an Derrida und Lévinas, der Problematik nach, inwiefern der Aspekt der Formbarkeit im Zusammenhang mit Gastfreundschaft und der Aufnahme des bzw. der „Anderen“, also zentrale politische Themen unserer Zeit, eine Rolle spielen. Malabous Fazit und abschließendes Plädoyer gehen dahin, eine plastische Art von Gastlichkeit anzuerkennen und diese konsequent vom neoökonomischen Schreckgespenst der Flexibilität abzugrenzen.
Brian Massumi, langjähriger Exeget und einer der besten Kenner der Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari, greift deren beharrliche Skepsis gegen jegliche Form von Ideologie auf. Seine ausführliche Darlegung widmet sich der Ebene elementarster Affektbegegnungen, sprich der Frage, wie sich das Soziale von Grund auf selbst strukturiert, ohne dass dabei irgendeine Form von ideellem Überbau im Spiel ist. Dies hat nicht nur weitreichende Implikationen, was gegenwärtige Regierungs- und Beherrschungstechniken betrifft, sondern auch dahingehend, worin die den aktuellen Protestformen inhärente Widerständigkeit genau liegt.
Derlei „unruhiges“ Formverständnis wieder auf die Gegenwartskunst und ihr Verhältnis zu Protest- und Widerstandsansinnen umzulegen, dies nehmen sich die Beiträge von Süreyyya Evren und Nicolas Siepen vor. Beide machen in ihren Essays auf jeweils unterschiedliche Weise geltend, dass der Ansatz einer dezidiert politischen Kunst stets auch impliziert, eine entsprechende, zuvor nicht existente Form zu finden – ja dass diese unabschließbare, stets von Neuem zu ergründende Suchbewegung eines ihren ureigensten Merkmale bildet.
Schließlich enthält der Thementeil abschließend eine der literarischen Reden, mit denen Teilnehmende an Unruhe der Form, in diesem Fall Judith Nika Pfeifer, die blinden Flecken der real existierenden Politik adressieren. Wie in den übrigen Beiträgen geht es auch darin um zeitgemäße Formen – gleichsam Ventile, die Auswege aus der heute herrschenden politischen Subjektivierung andeuten. Auswege, die sich keinem verordneten Format fügen und in denen sich zugleich auch eine Schärfung der künstlerischen Imagination ankündigt.