Heft 3/2013 - Lektüre
Anarchistische Theorie (und Praxis) erkennt zwar neben Eigentumsverhältnissen schon von klein auf (Bakunin, Goldmann, Mujeres Libres) Sexualität als Moment gesellschaftlicher Unterdrückung und Ort der Befreiung. Doch ist diese Perspektive im anarchistischen „Malestream“ nicht zwingend verankert. Zeit also, Anarchismus zu „queeren“ (Queering Anarchism), wie ein neuer Sammelband vorschlägt.
Queer bezeichnet Kritik an normierter und normierender straighter Sexualität sowie deren Folgeerscheinungen und Institutionen. Etwas zu queeren heißt unter anderem, Körperform („sex“), Identität („gender“) und Begehren aus einem als natürlich postulierten bipolaren, normativ heterosexuellen und daher hierarchischem Verhältnis oder dessen Selbstverständnis zu lösen. Aber queer, wenn auch aus lesbisch-schwulen-bi-transgender-Aktivismen und dekonstruktivistischem Feminismus hervorgegangen, umfasst mittlerweile noch weit mehr als Geschlechterpolitiken. Queer fungiert, wie die HerausgeberInnen eingangs feststellen, als Raum, „um Identitäten zu kritisieren und mit Theorien, Körpern, Macht und Begehren zu spielen“. Darin bestehe bereits eine erste Übereinstimmung mit anarchistischen Konzepten. Denn Anarchismus ziele auf die Zerstörung von Macht über andere, auf die Zerschlagung der Mittel, mit denen Menschen ausgebeutet werden. Neben dieser „destruktiven“ habe der Anarchismus aber auch „konstruktive“ Seiten: nicht-hierarchische soziale Beziehungen, Autonomie, Solidarität und gegenseitige Hilfe. In beiden Grundzügen verbindet sich die wichtigste Gemeinsamkeit von anarchistischen und queeren Politiken, eine, wie die HerausgeberInnen es für queer formulieren, „antagonistische Beziehung zum Normalen“.
Der Band verfährt also angenehm mehrdimensional: Einerseits werden neben Unterschieden – und dem Queerungsbedarf des Anarchismus – auch Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Dabei unterscheiden sich die Texte sehr in ihrer akademischen Explizitheit. Das mag die einen oder anderen AkademikerInnen irritieren, gehört aber zum Plan – quasi „queering in practice“. Andererseits soll nun nicht nur Anarchismus gequeert werden, auch queer wird mit Anarchismus konfrontiert.
Queere Politik müsse etwa – wenn sie anarchisch/gesamtherrschaftskritisch sein will – eingebunden sein in eine antikapitalistische Klassenanalyse. Und die wiederum ziele nun einmal darauf ab, die Ausbeutung der Arbeit und zuletzt auch die Kategorie der Arbeiterklasse abzuschaffen. So argumentiert zumindest Gayge Operaista.
Auch auf die Vernachlässigung der materiellen Bedingungen von Gender und Sexualität innerhalb queerer Kritik wird hingewiesen. Stephanie Grohmanns Analyse zufolge ist die Verbindung von „Basis“ und Gender viel tiefgreifender, als es Fragen um Sexismus und Homophobie am Arbeitsplatz nahelegen. Viel mehr seien Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität Ergebnisse von kapitalistischen Verhältnissen: Das System der Erwerbsarbeit erfordere einerseits rationale, berechnende, aggressive und konkurrierende Individuen. Andererseits verlange das reproduktiv und unbezahlt Private wiederum nach sanften, handhabbaren, emotional unterstützenden und fürsorglichen AkteurInnen. Die Exklusion von Frauen, Lesben, Women of Color et al. ist demnach kein externes (sexistisches), sondern ein im Kapitalismus fußendes Grundproblem.
Neben den gemeinsamen bzw. einander durchkreuzenden Defiziten in den Analysen werden aber auch die positiven Ansätze vor allem in den sich oft überschneidenden Praktiken besprochen.
Eine besondere Beziehung zwischen queer und Anarchismus stellen BDSM-Verhältnisse dar („Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“). HEXE beschreibt in ihrem kinky Aufsatz Konsens als den größten gemeinsamen Nenner von BDSM als Teil queerer Praxis und anarchistischem Anspruch. BDSM als ein Bereich, in dem Macht und Unterwerfung genossen werden können, da sie spielerisch und freiwillig eingesetzt werden, sei eine Praxis, bei welcher es – wider manche Erwartung – besonders auch um eines geht: aufeinander aufzupassen. Und darin, so HEXE, unterscheide sich die dominante (Herrschafts-)Kultur von BDSM. Diese sei nämlich „furchtbar, was Konsens anbelangt“ („terrible at consent“).
Dass sich die beiden Formen der Herrschaftskritik besonders gut für wechselseitige Synergien eignen, zeigt sich in der Praxis bereits seit Längeren. Die Überschneidung subkultureller Szenen, die Existenz von Veranstaltungen, Organisationen und Orten mit queeren wie anarchistischen Ansprüchen und/oder AkteurInnen ist aus linkem Aktivismus schon lange nicht mehr wegzudenken. Das Erscheinen dieses Sammelbands ist schlichtweg ebenso folgerichtig wie erfreulich.