Heft 3/2013 - Apparate Maschinen
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„Was die Barbarei betrifft, so steht sie der Zivilisation, damit auch der Bürokratie, gegenüber. Unsere barbarischen Vorfahren – die Glücklichen – besaßen keine Organisationssysteme auf Grundlage (ach, alter Engels) zweier Elemente: ein abgegrenztes Territorium und eine bestimmte herrschende Klasse. Es gab den Clan, den Stamm, noch keine Civitas. Civitas heißt Stadt, und auch Staat; Zivilisation im Gegensatz zur Barbarei heißt staatliche Organisation und zwangsläufig Bürokratie. Immer mehr Staat, mehr Zivilisation, mehr Bürokratie, und das, solange Klassengesellschaften einander ablösen. Das ist, was der Marxismus sagt. Was uns aufs Kreuz legt, ist nicht die Rückkehr der Barbarei, sondern der Anbruch der Superzivilisation in allen von den Ungeheuern der staatlichen Superorganisationen beherrschten Ländern.“ (Amadeo Bordiga, Die Lehre vom „Teufel im Leib“, 1951)
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Zwei Aussagen von Marx – zeitlich weit auseinander liegend und in Schriften von ganz unterschiedlichem Charakter – setzen den entscheidenden Akzent seiner Kapitalismuskritik. 1848 konstatiert er im Manifest der Kommunistischen Partei (so heißt es korrekt, vom Kommunistischen Manifest zu sprechen, ist zwar geläufig, birgt aber auch eine Verfälschung), die Gesellschaft besitze „zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel […]. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums.“1
20 Jahre später konstatiert er im Kapital, der ausgeführten Kritik der politischen Ökonomie: „Die Maschinerie wirkt jedoch nicht nur als übermächtiger Konkurrent, stets auf dem Sprung, den Lohnarbeiter ,überflüssig‘ zu machen. Als ihm feindliche Potenz wird sie laut und tendenziell vom Kapital proklamiert und gehandhabt. Sie wird das machtvollste Kriegsmittel zur Niederschlagung der periodischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des Kapitals. Nach Gaskell war gleich die Dampfmaschine ein Antagonist der ,Menschenkraft‘, der den Kapitalisten befähigte, die steigenden Ansprüche der Arbeiter niederzuschmettern, die das beginnende Fabriksystem zur Krise zu treiben drohten. Man könnte eine ganze Geschichte der Erfindungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel des Kapitals wider Arbeiteremeuten ins Leben traten. Wir erinnern vor allem an die selfacting mule, weil sie eine neue Epoche des automatischen Systems eröffnet.“2
Das Zitat findet sich im Kapitel über den relativen Mehrwert, den zentralen Passagen, in denen Marx die Methoden und Techniken innerbetrieblicher Herrschaft – das eigentliche Thema des ersten Bandes – auf dem Gipfel ihres Triumphes darstellt. Denn die Produktion relativen Mehrwerts basiert nicht länger auf schierer Repression (willkürliche, also größtmögliche Ausdehnung des Arbeitstages), sondern auf dem unendlich subtilen Produktivmachen der Arbeitskraft. Und diesem entspricht unmittelbar die Niederhaltung von „Arbeiteremeuten“, die Entwicklung der „Kriegsmittel des Kapitals“. Es sind dies zwei Seiten der Medaille: Repression wird zur „wissenschaftlichen Betriebsführung“, Ausbeutung zum Fortschritt. In dieser Fluchtlinie ist es zum heutigen „Arbeitskraftunternehmer“ nicht mehr weit, dem sich permanent selbst optimierenden, aber immer tiefer in der Lohnabhängigkeit sich verstrickenden produktiven Arbeiter.
Was bringt die angeführten Zitate in eine gemeinsame Perspektive? Die Entdeckung der grundsätzlichen Kapital konformen Bestimmung der Technologie, wie Marx sie im Kapital unternimmt, ist das Fundament oder vielleicht besser: die exakte materialistische Bestimmung der Fortschrittskritik, wie sie im Manifest noch aphoristisch formuliert ist. Und es ist der kommunistische Standpunkt, der sie in eine Perspektive bannt: Vom Standpunkt der Überwindung der Klassengesellschaft, der Abschaffung des Geldes, der Warenproduktion, der Staatsmaschinerie, erscheint der Fortschritt als ein blindes, letztlich sich selbst bedrohendes Zuviel, gegründet auf einen permanenten Klassenkrieg, der selbst dann fortbesteht, wenn die eine Klasse die Fahnen gestreckt hat und vom Manifest der Kommunistischen Partei schon lange nichts mehr hören will.
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Warum das Selbstverständliche noch mal so klar und kategorisch aussprechen? Weil es eben nicht selbstverständlich war für mindestens zwei Generationen von SozialistInnen und KommunistInnen nach Marx und selbst heute Technik- und Fortschrittskritik – blendet man beide Begriffe übereinander, kann man von Technologiekritik sprechen – immer noch die Domäne konservativer Zeitdiagnostiker und reaktionärer Melancholiker ist, an denen, wie Wolfgang Pohrt einmal luzide bemerkte, nichts so reaktionär ist wie ihre Halbherzigkeit.
Kommunismus gilt vielen MarxistInnen als Übertreffen des bürgerlichen Überflusses, als Einlösung des angeblich gebrochenen bürgerlichen Glücksversprechens. Fortschritt, zumal technischer Fortschritt steht dementsprechend außerhalb der Kritik: Sein, wenn man so will, „Umfeld“ – das Privateigentum an den Produktionsmitteln – ist schädlich, er selbst erweist sich als unzerstörbarer Garant kommunistischer Produktivkraftentwicklung. Zwar stören Atomkraftwerke schon länger dieses spätbürgerlich-kommunistische Technikidyll, allerdings kann man sich beruhigt abwenden: Atomenergie wird ja längst auch von bürgerlicher Seite als unberechenbar kritisiert.
Eine radikale marxistische Technologiekritik ist erst wieder Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert worden, mitten in den Jahren des Sputnik-Schocks und des endlos expandierenden Wohlfahrtstaats, zu einem Zeitpunkt also, als die Systemkonkurrenz sich auf quantitative und technokratische Parameter – Chruschtschows „Einholen und Überholen“ des Kapitalismus – beschränkte. Formuliert wurde sie am Nullpunkt der revolutionären, gleichermaßen antistalinistischen wie antikapitalistischen Bewegung, und zwar von einem neapolitanischen Ingenieur (Brückenbauer) namens Amadeo Bordiga.
Diese Mitteilung erscheint ebenso glaubhaft wie Behauptungen, Trotzki wäre in Wirklichkeit der größte russischen Dramenautor nach Gorki und Toni Negri hätte einmal beinahe den AC Milan trainiert. Im Gegensatz zu Letzteren stimmt sie allerdings, unglaublich bleibt sie trotzdem. Es ist jener Bordiga, der den Marx’schen Doppelklang von Fortschrittskritik und Dechiffrierung des Maschinensystems als Teil des Klassenkampfs von oben wieder aufnimmt und in einer Reihe von Reden, Polemiken und Seminaren ausarbeitet. Bordiga ist in den 1950er-Jahren vermutlich die am meisten stigmatisierte und ausgegrenzte Gestalt des Weltkommunismus. Anders als Trotzki, von Moskau zum diabolischen Antibolschewisten schlechthin aufgebaut, der aber weltweit immer auch Fürsprecher auf seiner Seite hatte, wird Bordiga konsequent verschwiegen. Selbst seine wenigen KritikerInnen machen sich kaum die Mühe, seine Schriften tatsächlich zu lesen.
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How come? Amadeo Bordiga, geboren 1889 in eine piemontesische Patrizierfamilie, zeit seines Lebens in Neapel ansässig, 1970, gezeichnet von einem Schlaganfall, verstorben – Bordiga avanciert schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Sprecher des linken Flügels des sozialistischen Jugendverbandes. Während des Ersten Weltkrieges wird der gerade 25-Jährige zum Wortführer der militanten KriegsgegnerInnen – es ist auch sonst kein anderer da, Mussolini hat bereits die Fahnen gewechselt. Ab 1917 baut Bordiga, der Lenin bewundert, aber nie viel von der russischen Revolution erwartet hat, eine kommunistische Fraktion in der sozialistischen Partei Italien auf, die organisatorisch so stark ist, dass er den Bruch wagen kann: In Livorno gründet sich im Januar 1921 die Kommunistische Partei in Italien (nicht: die Kommunistische Partei Italiens – der antinationale Akzent ist bei Bordiga stets dominant), Bordiga ist ihr erster Sekretär. Von Antonio Gramsci, dem Turiner Journalisten, der bis dahin alle Maßnahmen der Gruppe Bordigas brav mitträgt, ist noch gar nicht die Rede. Sein Aufstieg beginnt erst nach einer Verhaftung Bordigas im Februar 1923, die Moskauer Zentrale baut ihn durchaus intrigant als Gegenfigur zum zunehmend suspekt erscheinenden Bordiga auf. Suspekt wird er durch seine Unbeugsamkeit: Er verweigert alle Zusammenarbeit mit bürgerlichen Institutionen – keine Teilnahme an Wahlen, keine demokratische Forderungen oder Rhetorik, keine Koalitionen mit anderen linken Parteien; lehnt die Moskauer Hegemonie über die kommunistische Bewegung ab; will den Kampf gegen den Faschismus aus proletarischer Perspektive führen und spricht der Einheitsfront jegliche Schlagkraft ab. Gleichzeitig, und darin liegt seine Tragik, beugt er sich strikt der Parteidisziplin – er spielt nicht den Dissidenten, akzeptiert seine manipulativ zustande gekommenen innerparteilichen Niederlagen, ZeitgenossInnen schildern ihn als übertrieben uneitlen und aufrichtigen Parteiarbeiter, unfähig zu jeder Hinterzimmermauschelei. Die Ausgrenzung gelingt, weil Bordiga sich nicht als Gegenzar à la Trotzki inszeniert, vielmehr wird er zur kuriosen Randnotiz einer kommunistischen Regionalgeschichte. Die Parteiarchive, wie gleich mehrere HistorikerInnen in den 1960er- und 1970er-Jahre feststellen müssen, werden von seinem Namen gesäubert, dagegen sind die Polizeiarchive voll, und es finden sich Spitzelberichte, wonach noch nach 1945 des treuen Stalinisten Palmiro Togliatti erste Sorge ist, ob „der Ingenieur“, seit 1930 aus der Partei verstoßen, im Faschismus erst inhaftiert, dann isoliert, ein Comeback plane.
Tatsächlich gründet sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Internationalistische Kommunistische Partei aus LinkskommunistInnen, Bordiga wird dieser Partei jedoch formell nie beitreten. Zwischen 1946 und 1965 entfaltet er eine immense publizistische Tätigkeit, all seine Texte und Reden erscheinen anonym und gelten als Kollektivwissen der Partei. Erst in den 1970er-Jahren wird er als Autor der meisten Grundsatzpapiere geoutet. Wobei – auch ein aparter Kult – die Reste der „bordigistischen“ Zirkel und Kleinstparteien in Italien und Frankreich sich bis heute eisern daran halten, seinen Namen nicht zu nennen.
In seiner Sprache, seinem „Sound“ gibt es unbestreitbar einen harten, triumphalistischen Zug (vielleicht ist das aber auch alles ein Problem der Übersetzung ins Deutsche). Da klingen die aufgewühlten 1920er-Jahre nach, als die Revolution auf der Tagesordnung stand, es schimmert aber auch die erzwungene Unabhängigkeit des Außenseiters durch, der mit keinem Widerhall mehr rechnen kann – und will. Sein Werk ist mittlerweile archiviert, aber noch lange nicht verdaut. Bruchstücke sind über abtrünnige Schüler wie Jacques Camatte oder Gilles Dauvé bis in die Green-Anarchy-Bewegung eingedrungen. Das rührige Wildcat-Kollektiv lobt seine „Demokratiekritik von links“ und spricht vom Bordigismus als süßem Gift. Kürzlich gab es noch ein Outing: Als Vorsitzender des Neapler Kollegium der Ingenieure und Architekten nahm Bordiga in den 1950er- und 1960er-Jahren aktiv an Kämpfen gegen Gentrifizierung teil.
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Die Strategie, die Bordiga seinen theoretischen Anstrengungen zugrunde legt, ist paradox: Eigentlich gibt es nichts zu sagen, denn das kommunistische Programm steht fest, ist von Marx und Engels eindeutig fixiert worden. Bordiga hat die erwartbaren Beschimpfungen – er sei ein schematischer, doktrinärer Dogmatiker – nie bestritten, immer akzeptiert: Da spricht der Ingenieur aus ihm, dem es nicht um Originalität gehen kann, sondern um sichere Grundlagen.
Gleichzeitig steht aber nichts fest: Das kommunistische Programm ist von der westlichen Sozialdemokratie in Form eines „pluralen Marxismus“ und den Moskau treuen KommunistInnen als „Marxismus-Leninismus“ erst okkupiert und dann um seine kommunistische Pointe gebracht worden. Auch wenn nichts Neues mehr zu sagen ist – es muss doch neu geschrieben werden. Und es kann nur von einer Warte aus neu geschrieben werden, jener nämlich, die jeden Rückbezug zur sozialdemokratisch-stalinistischen Politik, für Bordiga in Europa die Hauptkräfte der Konterrevolution, unmöglich machen.
Wir sind hier schon auf dem Weg zu seiner Technologiekritik. Denn dieser positive Rückbezug wird zerstört, wenn klargestellt wird, dass die Revolutionäre nicht die Erben der bürgerlichen Gesellschaft sind und die Befreiung der Subalternen und Lohnabhängigen nicht in einem Übertrumpfen des Kapitalismus bestehen kann. Das setzt die Attacke auf den herrschenden Begriff des Fortschritts und den Schein seiner Neutralität voraus:
„Hier müssen wir unseren Kampf gegen den Einfluss weiterführen, den der angebliche Fortschritt der kapitalistischen Technik und Wissenschaft stets auf das Proletariat ausgeübt hat. Dass sie sich weiterentwickeln, ist falsch, es ist total falsch. Es ist eine absolute, den gesellschaftlichen Tatsachen geschuldete Illusion; d.h. um die Menschen dazu zu bringen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, indem sie eine vollkommen nutzlose und zu neun Zehnteln schädliche Produktion konsumieren, rühmt man sich jener Hilfsmittel, durch die diese Produktion zustande gekommen ist.“3
Bordiga bindet den Begriff der Technologie zurück an die Produktionsverhältnisse: Fortschritt ist immer der Fortschritt der Ausbeutung; Innovation immer die Illusion, die eingesetzten Mittel verfolgten einen nützlichen Zweck. So weit, so bekannt: Bereits in den 1920er-Jahren gab es aus offiziell-kommunistischer Sicht eine Rationalisierungskritik, ParteitheoretikerInnen wie Jakob Walcher (Ford oder Marx, 1925), Hilde Weiss (Rationalisierung und Arbeiterklasse. Zur Rationalisierung der deutschen Industrie, 1926), oder Günter Reimann (Technische Revolution in Deutschland. Herr oder Sklave der Technik, 1929) arbeiteten sich an der „Ford-Revolution“ ab, der Einführung vermeintlich hocheffektiver und gleichzeitig arbeiterfreundlicher Produktionsmethoden in den Schlüsselindustrien des 20. Jahrhunderts. Aber ihnen geht jede Formbestimmung ab: Ihre Rationalisierungskritik kippt in dem Moment, wo es um die Sowjetunion geht – unter sozialistischer Herrschaft diene der Fordismus tatsächlich dem Fortschritt. Der Einsatz der Technologie scheint demnach als ein politisches Problem, das entkoppelt ist von der inneren Struktur der Produktionsverhältnisse selbst. Auf diese will aber Bordiga hinaus.
Riccardo Bellofiore und Massimiliano Tomba enthüllen in ihrem 2009 auf Deutsch erschienenen Essay Lesarten des Maschinenfragments. Perspektiven und Grenzen des operaistischen Ansatzes und der operaistischen Auseinandersetzung mit Marx den Einfluss, den seine Kritik an Fortschritt und Technologie offensichtlich auf den frühen Operaismus, insbesondere auf Raniero Panzieri ausübte. Amadeo Bordiga war wohl der Erste, der in Italien die Marx’schen Grundrisse im Hinblick auf die in ihnen enthaltene Technologiekritik auswertete. Jenen Text also, der zu einem wichtigen Bezugspunkt des frühen Operaismus wurde.
An zentraler Stelle in seinem 1957 gehaltenen Grundsatzreferat Traiettoria e catastrofe della forma capitalistica nella classica monolitica costruzione teorica del marxismo (Katastrophischer Verlauf der kapitalistischen Produktionsweise im klassischen, in sich geschlossenen theoretischen Bauwerk des Marxismus, vollständige Übersetzung liegt noch nicht vor) zitiert Bordiga aus den Marx’schen Grundrissen: „Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschinerie zwingt, durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschine als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst.“4
Bellofiore und Tomba erläutern im Anschluss: „Die verschiedenen Glieder des Maschinensystems wirken wie ein einziger Automat, denn eben das ist das Ziel, um dessen willen die Maschinen entworfen und gebaut werden. Es ist die Funktion der Maschinen, ,durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken‘. Dieses Ziel, das mit der Herstellung von Maschinen, die die Arbeit zugleich potenzieren und intensivieren, verfolgt wird, existiert nicht nur nicht im Bewusststein des Arbeiters, sondern es ist ihm sogar entgegengesetzt: Die Maschinen sollen zu einer ,fremden Macht‘ werden.“
An anderer Stelle hält Bordiga lakonisch fest: „Ist die Maschinerie zunächst Arbeitsmittel, wird sie bald Triebkraft sein.“ Ist diese Verkehrung erst einmal eingetreten, hat sich das System geschlossen, für Marx der Zeitpunkt des Umschlags der absoluten in die relative Mehrwertproduktion, ein Prozess, den er im England der 1850er-Jahre wahrzunehmen beginnt: Die „fremde Macht“ der Maschinerie treibt den Abhängigen vor sich her, um dadurch von ihm gefüttert zu werden. Es ist dies für Bordiga das Signum der Megamaschine „Zivilisation“: Fortschritt als permanente „Involution“ seiner selbst, die Möglichkeiten der Mittel steigen ins Unendliche – aber sie haben keinen Gebrauchswert mehr für uns. Überraschend – oder eben: konsequent – ergreift Bordiga Partei für die metaphysisch-theologische Spekulation: „Es waren gerade die Alten, die dem Denken keine Grenzen gesetzt sahen. Sie teilten den Menschen in Leib und Seele auf, der denkende Mensch als unwägbare Einheit von beidem, und das gab ihm die Freiheit, im Weltenall umherzuschweifen. Er war dort im Himmel, auf Planeten und Sternen, die von den Göttern, die unser Handeln leiteten, an ihre Plätze gestellt waren; es waren die Sterne, die uns lenkten. Aber heute wissen wir uns nicht mehr von der Erdkugel zu erheben, auch wenn die Sputniks und Pioniers davon abheben.“5
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Was bleibt? Die Zukunft der Revolution besteht in der Entzifferung der Spuren der Vergangenheit, der Subversion der ersten ProletarierInnen – es ist dies eine Rehabilitation der MaschinenstürmerInnen: „dass sie die Maschinen stürmen wollten, […] war damals die richtige Haltung. Dies ist wahrhaft revolutionär gegenüber der Epoche der Inversion, der Degeneration und Verdummung, in der wir uns als proletarische Partei befinden. Im Vergleich zu der Situation, in der wir den Mut hatten, die Neuerungen zu missachten, haben wir viele Rückschritte gemacht“6 – also Destruktion, Abwendung vom Fortschritt. Das klingt mehr nach Wilhelm Weitling als nach Marx (was Bordiga auch weiß, weswegen er sein Plädoyer für die Maschinenstürmerei zu relativieren versucht, aber in diesen Passagen verliert seine Prosa ihre Kraft) – nach jenem ersten deutschen Handwerkerkommunisten, der den 1848er-Revolutionären hinterherrief: Ihr – die Bürger – sollt schön auf die Barrikaden gehen, wir gehen stattdessen in eure Villen und plündern sie. Dem bourgeoisen Marx hat das übrigens nicht gefallen.
Bordigas Sozialismus-Bestimmung ist negativ, der einzige Plan, den er akzeptiert, wäre ein Plan der Unterproduktion: „Dem Reproduktionsgesetz [des Kapitals] wird sofort die Luft ausgehen, wenn es die Marxsche ,Abteilung II‘ (Produktion von Lebensmitteln) endlich schafft, die ,Abteilung I‘ (Produktion von Produktionsmitteln) knock-out zu schlagen.“7 Er dechiffriert den Ausdruck „Aufbau des Sozialismus“ als von erlesen kapitalistischer Güte; entspricht er doch dem wirklichen Moment der kapitalistischen Dynamik und seinem Antrieb: Wichtig ist nicht, ein Haus zu bewohnen und zu nutzen, sondern es zu bauen; und ein Geschäft, das die Leistungsfähigkeit der Fabrik auf gleichem Niveau hält, lockt keinen hinterm Ofen hervor, sondern erst das Geschäft, Kapital in fortschreitender Akkumulation anzulegen, in erweiterter Reproduktion, damit in einem neuen Geschäft: „Der Sozialismus wird nicht aufgebaut: Die Warenproduktion wird zerstört“, dekretiert Bordiga. Sozialismus heißt weniger: „Der Inhalt (wenn man dieses metaphysische Wort verwenden will) des Sozialismus wird nicht die Selbstbestimmung des Proletariats, wird nicht die proletarische Kontrolle und Verwaltung sein, sondern das Verschwinden des Proletariats; der Lohnarbeit; des Tauschs und auch des am längsten Überlebenden: des Tausches zwischen Geld und Arbeitskraft; und schließlich des Betriebs. Es wird nichts zu kontrollieren und verwalten da sein; niemanden, demgegenüber Selbstbestimmung zu verlangen wäre.“8
Hinweise
Parteistrategische Schriften von Amadeo Bordiga kursierten in den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum nur als graue Literatur, noch dazu in fragwürdigen Übersetzungen. Diese wurden in den letzten Jahren komplett auf der Seite sinistra.net ins Netz gestellt (dieser Website entnommen ist das Zitat aus Grundlagen des revolutionären marxistischen Kommunismus).
Seit vier Jahren erscheinen auf alter-maulwurf.de revidierte Fassungen der Übersetzungen, und viel wichtiger zahlreiche Erstübersetzungen, darunter vor allem die kommunismustheoretischen Texte. Alle weiteren Zitate von Bordiga stammen von dieser Website.
In Italien ist der Bann längst gebrochen, und es existiert eine umfassende Bordiga-Rezeption, wie man den zahlreichen Dokumenten auf avantibarbari.it entnehmen kann. Im deutschsprachigen Raum wurde Bordiga ernsthaft bislang nur von dem 1993 verstorbenen Hannoveraner Politologen Christian Riechers diskutiert (Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus, hg., eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek. Münster, Unrast Verlag 2009).
Über Bordiga als Engagierter gegen Gentrifizierung informiert Luigi Gerosa, L’ingegnere „fuori uso“. Vent’anni di battaglie urbanistiche di Amadeo Bordiga, Napoli 1946–1966. Formia, Fondazione Amadeo Bordiga, 2006.
Der Aufsatz von Bellofiore/Tomba (Übersetzung: Max Henninger) ist im Sammelband Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, hg. von Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth, Berlin/Hamburg, Assoziation A 2009 erschienen.
Der Autor arbeitet an einer längeren Einführung zu Leben und Werk Amadeo Bordigas.
1 MEW 4, S. 468.
2 MEW 23, S. 459.
3 Bericht zur Erkenntnistheorie, Rede auf der Parteiversammlung in Casale Monferrato, Juli 1960.
4 MEW 42, S. 539.
5 Bericht zur Erkenntnistheorie, 1960.
6 Ebd.
7 Dialog mit Stalin, 1952.
8 Grundlagen des revolutionären marxistischen Kommunismus, 1957.