Paris. „Eine Entschuldigung des Terrorismus im Zentrum von Paris“, so heißt es empört auf der Website des Conseils Représentatif des Institutions Juives de France zur Ausstellung von Ahlam Shibli. Tageszeitungen berichten, dass die Galerie an mindestens einem Tag wegen Bombendrohungen geschlossen und evakuiert wurde. Zionistische Organisationen rufen zu Protesten vor der Galerie auf, Organisationen, die an der BDS-Kampagne (Boykott von israelischen Produkten oder auch offiziellen Veranstaltungen) teilnehmen, zur Gegendemo. Das Ministère de la Culture reagiert mit einer Anweisung an die Galerie und einer Erklärung, die einerseits die Redefreiheit hervorhebt, andererseits zugesteht, dass die „Neutralität“ der Künstlerin in Bezug auf die „MärtyrerInnen“ der zweiten Intifada schockieren könne. Deshalb möge die Galerie mehr Informationen bereitstellen, aber auch deutlich machen, dass die Äußerungen der Künstlerin nicht jene der Institution sind.
Die Ausstellung, eine Koproduktion mit dem MACBA in Barcelona und der Fundação de Serralves in Porto wurde bereits in Barcelona ohne öffentliche Empörung, Polemiken und Drohungen gezeigt. Wie kann man hier noch von den Werken an sich reden, so das je möglich wäre? Und was sagt diese Reaktion ebenso wie die Arbeiten von Shibli über ihren Hintergrund, über nicht so sehr die etwaige Realität in Nablus, in Israel und Palästina/den besetzten Gebieten, sondern jenen auch im Kulturbereich in Frankreich? Die Empörungsreaktionen haben, so scheint es, mehr mit dem aktuellen politischen Klima gerade auch in Frankreich zu tun als mit den Details der künstlerischen Arbeiten.
Die Kritik daran, dass das Jeu de Paume diese Ausstellung zeigt, bezieht sich auf eine der Fotografieserien, Death (2011–2012), eine neu für die Ausstellung produzierte Arbeit. Zu sehen ist darin, wie MärtyrerInnen der zweiten Intifada dargestellt werden, wie ihr Gedenken funktioniert, in Plakaten und Wandbildern, in Schreinen in den Wohnzimmern ihrer Angehörigen und auch auf den Grabsteinen selbst. Mit 68 Bildern und begleitenden Wandtexten der Künstlerin, die jeweils die Geschichte des Todes der MärtyrerIn kurz festhalten, verdichten sich so die spezifischen Ereignisse und Darstellungen zu einer Flut an einander gleichenden Bildern.
MärtyrerInnen sind genauso SelbstmordattentäterInnen wie in israelischen Angriffen Getötete, die bildliche Darstellung bleibt ähnlich, die Funktion der Bilder liegt im Gedenken genauso wie Weiterleben der bestimmten Idee des gewalttätigen Widerstands, die sie verkörpern. Wie auch in Shiblis anderen Serien stehen die Texte und Bilder in ungewisser Spannung zueinander. Während Information gegeben wird, bleibt doch gerade unklar, aus welcher Position Bilder und Texte sprechen. Gerade mit dem absoluten Fokus und Vokabular vom MärtyrerInnentod für Palästina scheinen sie keinerlei kritische Distanz zu den Inhalten zu haben. Andererseits, gerade auch in der Darstellung von Bildmaterial aus Palästina, bieten sie keine einfache Identifikation und daraus folgende Sympathieforderung für eine bestimme Position, keine korrekte Haltung zu den abgebildeten AkteurInnen und ihren Handlungen.
Ebenso wie in Shiblis früheren Serien kreist die Arbeit um Fragen von Identität und ihrer Beschaffenheit in der Spannung von historischem Gedenken, räumlichen, örtlichen, materiellen kollektiven Umständen und weiteren politischen Ereignissen und kollektiven Handlungen. Gezeigt wird eine bestimmte Gruppe in dem, was sie zur Gruppe macht.
Die Foto-Text-Serien sind im Jeu de Paume chronologisch angeordnet, mit Self Portrait (2000) vor dem Eingang. Kinder spielen in Wiesen, am Fluss, am Straßenrand, die Bilder wirken wie Schnappschüsse, auch ein bisschen wie eine Verfolgung von außen, die Kinder bewegen sich oft von der Kamera weg oder schauen in eine andere Richtung, sind verschwommen. Die abgebildeten Orte sind jene, an denen Shibli als Kind selbst gespielt hat. Ein Selbstporträt als Ort, als Stellvertretung durch die NachfolgerInnen, die jetzt hier spielen, als Erinnerung.
Die Perspektive in den Fotografien – wie auch in den anderen Serien – ist eine von widersprüchlichem Abstand und Nähe, die AkteurInnen scheinen kaum zu posieren, sondern wirken mitten im Handeln festgehalten, wobei sie sich gleichzeitig der Kamera bewusst scheinen, sich abwenden oder auf etwas zeigen. Spürbar präsent bleiben so auch die Anwesenheit der Fotografin, der konstruierte Charakter der Fotografie und die von ihr festgehaltene Momentaufnahme.
Es folgen die Serien Trackers (2005) zu Beduinen, die Freiwillige in der israelischen Armee sind, Eastern LGBT (2004/06), die LGBT-MigrantInnen aus dem arabischen Raum und ihre Aktivitäten zeigt, Dom Dziecka. The House Starves When You Are Away (2008), eine Serie zum Alltag von polnischen Kindern im Waisenhaus, sowie Trauma (2008–2009).
Trauma zeigt die BewohnerInnen der französischen Kleinstadt Tulle und wie sie ihre Identitäten sowie Erinnerung an die Nazizeit und Kolonialkriege leben, individuell wie auch kollektiv in öffentlichen Feiern und Gedenkstätten. Viele der Fotografien zeigen einzelne AnrainerInnen daheim, mit Fotografien, Landkarten und anderen historischen Objekten, auf die sie demonstrativ verweisen. Im Text stellt die Künstlerin die ebenso naive wie auch naheliegende Frage, warum ehemalige Widerstandskämpfer und Holocaust-Überlebende Soldaten in den Kolonialkriegen Frankreichs wurden. Eine wirkliche Antwort ist unmöglich.
Wie auch in Death gibt es hier einen Bruch zwischen Bild und Text sowie zwischen den Repräsentation und Objekten, die gezeigt werden, und den Situationen, in denen sie verwendet werden – wie etwa zwischen den Alltagsszenen in Wohnzimmern der Familien und den heroischen, stereotypen Darstellungen der MärtyrerInnen. All diese Objekte und Darstellungen sind Spuren, die auf Ereignisse verweisen, auf die die fotografierten Personen in ihrem Handeln und Selbstverständnis Bezug nehmen. Als – auch bewusst gewählte Spuren – sind sie nicht gleich dem, was „tatsächlich geschehen“ ist.
Shiblis Arbeiten verdeutlichen die Komplexität von vielschichtigen Realitäten, wie verstehen und überhaupt eine Position einnehmen funktionieren könnte, was es überhaupt bedeuten kann zu sehen. Im Unterschied gerade auch zu den Standards von Nachrichtenreportagen geht es hier auch um einen Versuch, die Mehrdeutigkeit gelebter Realitäten erfahrbar zu machen.
Nach dem Ausbruch der Empörung hat das Jeu de Paume, scheinbar auf die Forderung des Ministère de la Culture antwortend, vor und in der Ausstellung mit „Warnung“ betitelte Wandtafeln angebracht. Hier steht, dass das Jeu de Paume deutlich machen möchte, es handle sich hier weder um Propaganda noch um eine Apologie des Terrorismus. Danach zitiert der Text die Künstlerin: „I am not a militant. My work is to show, not to denounce or to judge.“
Im Kontext des empörten Schocks und der darin deutlichen Haltung, dass allein das Zeigen gewisser Bilder ihre Affirmation bedeutet, antworten diese Versuche der Einschränkung nicht auf die gestellten Forderungen, die letztlich den Wunsch, diese Dinge nie gesehen zu haben, darstellen. In dieser Empörung kommt ein grundlegender Glaube an die Macht der Darstellungen zum Ausdruck, der, wenn auch nicht gleichwertig, dennoch Motiv der Verbreitung der MärtyrerInnendarstellungen durch ihre Angehörigen und MitstreiterInnen ist. Wie Lori A Allen in Marter Bodies in the Media1 schreibt, geht es hier auch um eine beabsichtige authentische, unmittelbare Präsentation von Erfahrung und Wahrheit, die soziale Bindungen sowie allgemein menschliches Mitgefühl erwecken will. Gleichzeitig werden durch diesen Fokus auf das allgemeine Empfinden die politischen Vorgänge verborgen.
Neben der spezifischen Empörung, mit den MärtyrerInnen/AttentäterInnen und dem Gedenken an sie in Palästina konfrontiert zu werden, geht es vielleicht auch darum, dass die Öffentlichkeit bzw. die KulturkonsumentInnen nicht ohne Warnung durch die Darstellung unheimlicher Realitäten verstört werden sollen. Egal, ob es sich dabei um tatsächliche Ereignisse oder einen Horrorfilm handelt. In Regarding the Pain of Others (2003) analysiert Susan Sontag dieses Diktat des guten Geschmacks in der Kultur als Verdecken von Sorgen um die öffentliche Ordnung und Moral, wie auch um die Unmöglichkeit der Trauer. Mit dieser Logik werde letztlich das Verständnis von Realität untergraben.
Die Arbeit von Shibli wird so – entgegen der Selbstdarstellung im neuen Warntext – letztlich (wider Willen) zu einer militanten Geste. In ihrer analytischen Ambivalenz nicht so sehr „für“ Palästina, jedoch für öffentlichen Diskurs, Reflexion und als Herausforderung im Kampf gegen Einschränkungen davon, was gezeigt werden kann, und an eine Ordnung, in der Sichtbarkeit gleichzeitig Affirmation (und auch Tod) bedeutet.