Inwieweit haben wir gelernt, uns mit chronischen, sprich auf unbestimmte Zeit andauernden Zuständen abzufinden? Inwiefern ruft das Chronische, das vielfach unbemerkt oder nicht eigens thematisiert unseren Alltag mitbestimmt, umgekehrt auch eine spezifische Widerständigkeit auf den Plan? Oder wenn schon nicht Widerstand, so doch eigene Sicht- und Umgangsweisen, die dem Anhaltenden und Dauernden angemessen sind?
Die vorliegende Ausgabe geht derlei Fragen im Feld der Kunst nach – chronopolitischen Fragestellungen, die eine Art Gegenfigur zur Logik des Akuten und Brisanten bilden. Nationalstaatliche, kapitalistische und heteronormative Gefüge werden überwiegend von linearen Zeitabläufen bestimmt, die auf der Idee der Progression, des Fortschreitens hin zum Besseren, beruhen. Dieses lineare Fortschrittsmodell bildet zugleich auch das Gerüst, vor dessen Hintergrund das Ereignishafte, das Aktuelle und das Dringliche gedacht werden. Demgegenüber setzen chronische Betrachtungsweisen beim Latenten, Langwierigen und innerhalb alltäglicher Verhältnisse nicht so einfach Abzuschüttelnden an. Untersucht werden nicht der Krieg am Balkan oder die Aids-Krise, sondern die „Zeit danach“ – wobei oft nicht klar ist, was genau der Auslöser von derlei Dauerzuständen ist und ob diese je wieder aufhören werden. Genau darin, in dieser anhaltenden Unbestimmtheit, liegen möglicherweise aber auch Überschüsse verborgen, die über das aktuell Sagbare hinausgehen und vielleicht den Keim künftiger Entwicklungen in sich bergen.
Renate Lorenz, eine der MitinitiatorInnen dieses Hefts, geht in ihrem Gespräch mit Mathias Danbolt und Elizabeth Freeman den Horizonten und Potenzialen des Chronischen nach. Dabei kommt nicht nur zur Sprache, inwiefern diese „vielversprechende Temporalität“ dazu in der Lage ist, der Logik der Krise (die uns nach wie vor fest gefangen hält) ein anderes, offeneres Zeitverständnis entgegenzuhalten. Vielmehr wird auch angesprochen, inwieweit sich das Chronische dazu eignet, einen Ort des Politischen innerhalb und durch künstlerische Ansätze hindurch anzuzeigen, ja vielleicht auch Formen von Queerness mit zu artikulieren, die sich normativen, linearen Denkstrukturen entziehen.
Eine, die sich schon lange mit unabgeschlossenen Protest- und Widerstandsformen in ihrer künstlerischen Praxis befasst, ist Sharon Hayes. In ihrem Beitrag thematisiert Hayes anhand mehrerer Parallelszenarien die Kraft sogenannter „arresting images“ – historischer Bilder, die uns nicht mehr loslassen und als ständige Begleiter in unserem Imaginären präsent sind. Dabei geht es nicht zuletzt um den Aspekt, wie derlei „fesselnde Bilder“ an einer ins Positive gewendeten Unzeitgemäßheit mitwirken können, an Formen von Anachronismus, die das Uneingelöste oder von Neuem Aktivierbare aus der Vergangenheit in Erinnerung rufen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Jelena Petrović, die als aktives Mitglied des Projektverbunds Living Archive den nicht-linearen, zugleich aber dezidiert chronopolitischen Charakter dieser Art von Archivarbeit herausstreicht.
Die Beiträge zu Chronic Times versuchen, vielfach projektbasiert, diese andere Form der Zeitlichkeit samt ihren Potenzialen quer durch diverse Kunstpraktiken auszuloten. Ausgangspunkt dafür kann eine veraltete Landkarte sein, wie Yasmine Eid-Sabbagh sie in Hinblick auf den unsichtbar gewordenen Konflikt Marokko–Westsahara aufgreift. Untersuchungsgegenstand kann aber auch eine konkret vollzogene körperliche Geste sein, wie Elske Rosenfeld in ihrem Glossar zu politischen Revolten der jüngeren Vergangenheit darlegt. Oder es kann sich um spezifische Formen der historischen Überschreibung und Gedächtnislöschung handeln, wie Giulia Cilla am Beispiel eines Bauwerks in Montevideo aufzeigt, das einst als Gefängnis und heute als Shoppingmall dient.
Daneben versuchen einzelne Beiträge, auf gleichsam metatextuelle Art der Politik des Lesens, Erinnerns und Vergessens auf den Grund zu gehen. Die Gruppe Read-In etwa demonstriert in ihrem hier enthaltenen Lesestück, wie sich historische Erinnerung konstituiert, wenn das Memorieren und Auswendiglernen an die Stelle einer verbürgten schriftlichen Überlieferung treten. Mit der Prägnanz des Abwesenden befasst sich schließlich Xiaoyan Men, die in ihrer fotografischen Praxis einem in Bezug auf den chinesischen Wirtschaftsboom eher schattenhaften Phänomen nachgeht: den in den Dörfern häufig alleine zurückbleibenden Frauen. Mens Beitrag ist als eine vor Ort durchgeführte Erlebnisreportage angelegt – auch das eine Form, wie sich das Latente und Dauernde aufzeigen lassen, das oft genug hinter dem Sensationellen und Spektakulären verschwindet.
Chronic Times ist in Zusammenarbeit mit dem PhD-in-Practice-Programm der Akademie der bildenden Künste Wien entstanden, das seit über drei Jahren im Feld der „Chronopolitics“ forscht. Die Realisierung des Thementeils wurde finanziell durch die Akademie der bildenden Künste unterstützt, und allen Beteiligten sei an dieser Stelle nochmals besonderer Dank ausgesprochen. Hervorgehoben sei vor allem die Initiative von Anette Baldauf und Renate Lorenz, der redaktionelle Input von Till Gathmann, Annette Krauss und Elske Rosenfeld sowie die Unterstützung durch Andrea B. Braidt, ohne deren aller Engagement das Heft so nicht zustande gekommen wäre.