Heft 1/2014 - Chronic Times
1. Am 14. Februar 1965, sieben Tage, bevor er im Audubon Ballroom in Harlem durch Gewehrschüsse getötet wurde, hielt Malcolm X bei einer Preisverleihung in Detroit, Michigan, eine Rede. Gegen Ende dieser Rede sagte er:
„Alsbald, falls euch das 1963 aufgefallen ist, haben alle über den ‚hundertjährigen Fortschritt!‘ gesprochen. Ich glaube, so haben sie es genannt. Hundert Jahre seit Unterzeichnung der Emanzipationsproklamation, und alle feiern, wie sehr Weiße und Schwarze in Amerika gelernt haben, einander zu lieben. Ihr erinnert euch vielleicht noch, wie im Januar 1963 geredet wurde. Tja, wäre man damals aufgestanden während dieses ganzen Geredes über das gute Jahr, die guten Dinge, die vor uns liegen, und hätte man ihnen gesagt, dass im Mai Birmingham bereits explodiert sein und Bull Connor für die Brutalität, mit der er gegen Schwarze vorgegangen ist, international als Verbrecher dastehen würde; wenn du den Leuten im Januar 1963 erzählt hättest, dass John F. Kennedy wegen seiner Rolle bei all dem ermordet werden würde; wenn man ihnen im Januar gesagt hättest, dass Medgar Evers umgebracht werden und niemand in der Lage sein würde, seinen Mörder vor Gericht zu bringen; oder wenn man ihnen im Januar 1963 gesagt hätte, dass in Birmingham eine Kirche in die Luft gesprengt und dabei vier kleine schwarze Mädchen in Stücke gerissen würden, während sie dort beten und Jesus dienen – nun, sie hätten dir gesagt, du bist verrückt.
1964 hat genauso angefangen. Es war das Jahr der Versprechungen. Hättest man ihnen während ihres Geredes über dieses vielversprechende Jahr, das vor uns liegt, ihr wisst schon, Bürgerrechte und all das, was kommen sollte, hätte man da gesagt, dass schon bald drei Bürgerrechtler brutal ermordet würden und die Regierung nichts dagegen würde tun können. Ein schwarzer Lehrer in Georgia auf offener Straße brutal ermordet, und die Männer, die das getan haben, bekannt, und die Regierung ist nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Hätte man das im Januar 1964 gesagt, hätten sie dich für verrückt erklärt. Jetzt beginnen sie das Jahr 1965 auf die gleiche Art und Weise. Reden über die ‚Great Society‘, ihr wisst schon, ‚gegen Armut‘.
Wenn man ihnen jetzt sagt, was 1965 alles vor uns liegt, werden sie dich mit Sicherheit für verrückt halten. Aber 1965 wird das längste und heißeste und blutigste Jahr von allen. Das muss es, nicht weil du es so willst oder ich es so will oder wir es so wollen, sondern weil die Bedingungen, die 1963 zu diesen Ausbrüchen geführt haben, immer noch bestehen; auch die Bedingungen, die 1964 zu den Ausbrüchen geführt haben, bestehen noch. Man kann nicht sagen, es wird keine Ausbrüche mehr geben, und die Bedingungen, die Zutaten, einfach so belassen. Solang diese Zutaten, diese explosiven Inhaltsstoffe existieren, ist auch damit zu rechnen, dass es zu Explosionen kommt.“
Auch wenn die viel zitierte Bereitschaft von Malcolm X zu sterben, oft als Vorahnung dargestellt wird, positioniert er sein Bewusstsein bei dieser Überlegung zur Diskrepanz zwischen dem mediengenerierten rhetorischen Optimismus und brutaler gelebter Erfahrung ganz klar als materielle Erkenntnis und nicht als übersinnliche Offenbarung. In dieser Rede von 1965 legt Malcolm X eine konditionale Hauptfigur an, ein „Du/Ihr“, das die Ereignisse der explosiven Jahre 63, 64 und 65 in den Vereinigten Staaten hätte voraussagen können. Ein konditionales „Du/Ihr“, das, hätte sie oder er dies getan, für „verrückt“ erklärt worden wäre. Die Taktik seiner brillanten Pädagogik besteht darin, seinem Publikum dieses „Du/Ihr“ so zuzurufen, als könne es potenziell jede/r von ihnen sein, genauso wie Malcolm X selbst. Es gibt da eine Gruppe von Leuten, die dich glauben machen wollen, dass alles gut läuft und dies auch auf kürzere Sicht weiterhin tun werden, sagt er, und wir, die es besser wissen, werden als verrückt hingestellt, weil wir etwas anderes denken und wissen. Indem er sich offen dafür ausspricht, das vorherrschende Narrativ kollektiver Erwartungen zu verändern, es kritisch zu hinterfragen, erläutert Malcolm X gleichsam die Komplexität der Beziehung zwischen rhetorischer Produktion, gelebter/en Erfahrung/en und, um seine Beschreibung dieses historischen Moments zu verwenden, der explosiven (Un-)Vorhersehbarkeit zukünftiger Ereignisse.
In diesem Fall postuliert Malcolm X Erfahrung und ein tiefes Bewusstsein der Bedingungen des gegenwärtigen Moments als eine fundierte Basis, von der aus Zukunft vorstellbar ist oder, vielleicht angemessener für Malcolm X’ politisches Projekt, als eine fundierte Basis, auf der sich das konditionale „Du/Ihr“, auch er selbst, ja wir alle uns auf mögliche Zukunftsszenarien vorbereiten können. Malcolm X bekräftigt die entschlossene Anfechtung bestimmter Erwartungshorizonte (um hier Reinhart Kosellecks metahistorische Kategorie zu bemühen) als eine Möglichkeit, um dazu anzuregen, sehr spezielle repressive Erfahrungsumstände politisch zu hinterfragen.
2. Teresa de Lauretis schreibt: „Erfahrung ist der Prozess, mit dessen Hilfe bei allen sozialen Wesen Subjektivität konstruiert wird. Durch diesen Prozess positioniert man sich in der sozialen Realität, oder wird in dieser positioniert, und erlebt und versteht somit jene Beziehungen – materiell, ökonomisch und zwischenmenschlich – als subjektiv (auf sich selbst bezogen, aus sich selbst hervorgehend), die tatsächlich sozial und, im größeren Zusammenhang, historisch sind.“1
3. Im anekdotischen Sinne stellt man sich Erfahrung als etwas vor, das jemand besitzt oder durch Ereignisse sammelt, die ihm/ihr – kollektiv oder individuell, wiederholt oder einmalig – widerfahren.
4. 2004 bat ich zwei junge Frauen, beide Mitte 20, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in den Straßen von New York Leute zu interviewen. Ohne uns etwas dabei zu denken, zogen wir am 11. September 2004 los, um die Interviews zu machen. Doch wen wir auch ansprachen, wir wurden ständig mit der Erwartung konfrontiert, sie zum 11. September 2001 befragen zu wollen, sodass wir irgendwann bei der Frage landeten: „Welches ist das erste politische Bild, an das Sie sich erinnern?“ Unter einer Flut von Antworten, nach denen sich die Leute vage in Generationen einteilen ließen, haben mich zwei Reaktionen besonders überrascht, die mein Politik- und Geschichtsverständnis nach wie vor durcheinanderbringen. Eine stammte von einem zwölfjährigen afroamerikanischen Mädchen, das nach der Schule mit FreundInnen im East Village herumspazierte. „Der Tod von John F. Kennedy“, sagte sie. Ein paar Wochen später befragten wir einen jungen Schwarzen, der in Saudi-Arabien geboren war und in den Staaten das College besuchte. Er sagte: „Der Black-Power-Gruß bei der Olympiade in Mexiko.“ Es gibt viele vernünftige Erklärungsversuche für diese beiden Antworten: dass beide als junge Menschen nicht unbedingt ein gelebtes Verhältnis zu Politik haben oder nicht wissen, wie sie den Begriff „politisches Bild“ für sich selbst einordnen sollen; oder dass die von ihnen genannten Bilder in unserer/ihrer Gegenwart öfter auftauchen, so dass ihre Nennung nichts Ungewöhnliches ist, sondern eher ein ziemlich alltägliches Anzeichen für eine größer angelegte Instrumentalisierung und Trivialisierung von politischer Geschichte. ABER auch mit diesen Erklärungen war ich nicht zufrieden. Also akzeptierte ich, dass ihre Antworten ernst gemeint waren, und versuchte zu verstehen, was genau es bedeuten könnte, wenn ein zwölfjähriges Mädchen in New York irgendwann zwischen 1992, ihrem Geburtsjahr, und 2004 eine Dokumentation über die Ermordung JFKs gesehen hat und dadurch nicht nur den Eindruck gewann, bei dem Attentat zugegen gewesen zu sein, sondern es später auch noch als das erste politische Bild anzuführen, an das sie sich erinnert. Was heißt das für mein Verständnis von der Beziehung zwischen Geschichte, politischer Identifikation und Zeitlichkeit, für mein Verständnis der Möglichkeiten von politischer Zugehörigkeit, politischer Gemeinschaft und kollektiven politischen Horizonten?
5. „Die Live-Performance“, schreibt Peggy Phelan, „taucht – in einer manisch aufgeladenen Gegenwart – in die Sichtbarkeit ein und verschwindet im Gedächtnis, im Reich des Unsichtbaren und Unbewussten, wo sie Regeln und Kontrollen entgeht.“2
6. In meiner Arbeit versuche ich, in sogenannten „arresting images“, fesselnden Bildern, zu denken, die als Unterbrechung geradliniger Erzählungen vom Fortschreiten der historischen Zeit dienen. Ich versuche zu verstehen, was diese Bilder sagen wollen und wie wir „Erlebnisse“ verstehen und darstellen, insbesondere das Erleben irgendwelcher traumatischer/dramatischer politischer Ereignisse: bahnbrechende Proteste, körperliche Aktionen des Widerstands, Gewaltausbrüche.
Fesselnde Bilder sind Bilder, die wir von politischen Ereignissen kennen und die heraufbeschworen werden können, ohne sie zu reproduzieren. Hier etwas aus meinem geopolitisch-historischen Fundus: eine verzweifelte Frau, die sich an der Kent State University über den Körper eines gefallenen Studenten beugt; Tommie Smith und John Carlos, die ihre in schwarzen Handschuhen steckenden geballten Fäuste erheben, als sie ihre Podeste als Gewinner der Gold- und Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen in Mexiko City besteigen; ein schmächtiger Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose, der sich an einer Art Tasche festhält, während er sich am Tiananmen-Platz in Beijing vier Panzern in den Weg stellt. Das sind für mich Bilder, die man landläufig als „fesselnde Bilder“ bezeichnet, weil sie uns packen. Sie packen mich, halten mich fest, bringen mich an einem affektiven Ort des Erlebens zum Erstarren – ich erlebe etwas, was ich auch als Ereignis kenne, das ich nicht miterlebt habe.
7. Amelia Jones schreibt: „Ich war nicht einmal drei Jahre alt und lebte mitten in North Carolina, als Carolee Schneemann 1964 beim Festival La Libre Expression in Paris ihre Performance Meat Joy aufführte; ich war drei bei Yoko Onos Cut Piece in Kyoto; ich war acht, als Vito Acconci im Sand von Jones Beach seine Push-ups machte und Barbara T. Smith in ihrer Performance Ritual Meal in Los Angeles mit ihrer Erforschung von Körpererfahrungen begann; ich war neun, als Adrian Piper im Rahmen ihrer Catalysis-Reihe durch die Straßen von New York lief und dabei widerlich roch; ich war zehn, als VALIE EXPORT in Frankfurt in Eros/Ion über Glas rollte; ich war zwölf, als sich Gina Pane 1973 in Mailand in den Arm schnitt, um Blutrosen fließen zu lassen (Sentimental Action); ich war 15 (immer noch in North Carolina und vollkommen unbedarft, was das Geschehen in der Kunstwelt anging), als Marina Abramović und Ulay 1976 bei der Venedig Biennale in Relation in Space gegeneinander stießen. Ich war 30 Jahre alt – das war 1991 –, als ich anfing, mich mit der Performance und Body Art dieser explosiven und wichtigen Zeit zu beschäftigen, einzig durch ihre Dokumentation.“3
Jones’ rezitativer Text bestätigt: Ich war woanders, als diese Ereignisse geschahen, ich habe sie nicht gesehen, ich habe sie nicht erlebt, aber ich habe etwas erlebt, was als nicht weniger bedeutend gelten sollte: das Werk durch seine Dokumentation.
Politische Ereignisse, vor allem politische Traumata, überschreiten jedoch die Grenzen ihres zeitlichen und räumlichen Geschehens. Martin Luther Kings Ermordung 1968 in Memphis, Tennessee, haben alle erlebt, nicht nur die Menschen in Memphis im Jahre 1968, die das Ereignis vielleicht aus nächster Nähe gesehen haben. Genau das machen tiefgreifende kulturelle Traumata, sie werden von uns allen erlebt. Deshalb zählen wir auch gewohnheitsmäßig auf, wo wir waren, als JFK ermordet wurde, als Malcolm X erschossen wurde, als Fred Hampton umgebracht wurde, als die Mauer fiel, als das Spaceshuttle explodierte, als die Twin Tower einstürzten, als das Dorf bombardiert wurde. Wir erzählen, wo wir das Ereignis erlebt haben. In diesem Sinne verlieren „dabei sein“ und „nicht dabei gewesen sein“ ihre geografische Voraussetzung.
8. Die Aufzählung von Jones könnte auch folgendermaßen lauten: „Ich war nicht einmal drei Jahre alt und lebte mitten in North Carolina, als Nelson Mandela 1964 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde; ich war drei, als der US-Kongress den Civil Rights Act verabschiedete; ich war acht, als die Chicago 8 wegen ihrer Aktionen während der Democratic National Convention vor Gericht gestellt wurden; ich war neun, als an der Kent State University vier Studenten erschossen wurden; ich war zehn, als Idi Amin in Uganda die Macht übernahm; ich war zwölf, als 1973 in Chile eine Militärjunta gewaltsam die Regierung von Salvador Allende stürzte etc.“
9. Das Werk von Tehching Hsieh wurde mir zunächst als eine Reihe von Ein-Satz-Beschreibungen vermittelt:
„Tehching Hsieh lebte ein Jahr in einem Käfig in seiner Wohnung.“
„Tehching Hsieh drückte ein Jahr lang täglich einmal pro Stunde eine Stempeluhr.“
„Tehching Hsieh und Linda Montano waren ein Jahr lang über ein zwei Meter langes Seil miteinander verbunden.“
Ebenso hatte ich durch mündliche Beschreibungen von Adrian Pipers Catalysis-Serie gehört, beispielsweise: „Adrian Piper tränkte ihre Klamotten eine Woche lang in Lebertran und fuhr dann in diesen Klamotten mit der U-Bahn durch New York.“
Erst viel später sah ich Bilder von Hsiehs One Year Performances 1978–79, 1980–81 oder 1983–84 zusammen mit Linda Montano, oder Bilder von Pipers Catalysis III oder Catalysis IV. Und obwohl keines dieser Fotos das tatsächliche Ereignis wirklich dargestellt hat, haben sie alle meine Aufmerksamkeit gefesselt und mich ebenso gepackt, wie ich es bei zahlreichen Fotos von Protesten oder anderen politischen Ereignissen erlebt habe.
10. Robert Smithson erklärt seine Vorstellung von Ort und Nicht-Ort wie folgt: „Zeichnet man ein Diagramm, einen Grundriss von einem Haus, eine Straßenkarte von der Lage eines Ortes oder eine topografische Karte, so zeichnet man ein ‚logisches zweidimensionales Bild‘. Ein ‚logisches Bild‘ unterscheidet sich von einem naturgetreuen oder realistischen Bild dadurch, dass es selten so aussieht, wie das, was es repräsentiert. Es ist eine zweidimensionale Analogie oder Metapher – A ist Z. Die ‚Non-Site‘ (eine Indoor-Erdarbeit) ist ein dreidimensionales logisches Bild, das abstrakt ist und dennoch einen tatsächlichen Ort in New Jersey darstellt (die Pine Barren Plains). Mittels dieser dreidimensionalen Metapher kann ein Ort einen anderen Ort repräsentieren, der ihm nicht ähnlich sieht – den Nicht-Ort.“4
11. Während der Nicht-Ort in Smithsons Formulierung den Ort repräsentiert, ihm aber nicht ähnelt, verhält es sich in der Beziehung eines Ereignisses zu seinem Dokument genau andersherum: Das Nicht-Ereignis repräsentiert das Ereignis nicht, es ähnelt ihm. Für gewöhnlich sind Fotos von Performances oder politischen Ereignissen in der Tat extrem dürftige Darstellungen der Ereignisse, die sie einfangen sollen. Sie zeigen uns, unterstützt von einer Bildunterschrift, vielleicht ein oder zwei Personen, die dabei waren, oder wo das Ereignis stattgefunden hat, aber sie sagen uns selten etwas über die übrigen Faktoren des ablaufenden Geschehens: Wie, warum, wie lang? Hat es langsam begonnen oder sich urplötzlich entzündet, war es geplant oder spontan, wie hat es sich angehört oder gerochen?
So wie bei Robert Smithsons Ort und Nicht-Ort ist auch das Nicht-Ereignis (Fotos, aber auch Filme, Videos, Audioclips) mit dem Ereignis verbunden, und verbinden wiederum diese Nicht-Ereignisse uns, die wir sie betrachten, beobachten oder anhören.
12. Das Nicht-Ereignis des Dokuments, sei es als Foto, Audiotape oder Erzählung, spricht zu uns, wendet sich an uns, und zwar an einem gedämpften mentalen Ort zwischen „da sein“ und „nicht da sein“, und das erzeugt eine Art Öffnung, wie ich finde, eine zeitliche Öffnung, die so viel mit unserem gegenwärtigen Verhältnis zur Vergangenheit zu tun hat wie mit unserer Fähigkeit, uns selbst in die Zukunft zu projizieren.
13. In einem Essay über Carolyn Dinshaws Theoretisierung von „touching history“ beschreibt die Aktivistin und Wissenschaftlerin Ann Pellegrini, wie sie sich beeilen musste, um eine Deadline einzuhalten, während im Fernsehen gerade die amerikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 liefen. „Während das Auszählen der Stimmen weiterging, unterbrochen wurde und wieder weiterging, bis die Stimmen des Obersten Gerichtshofs ein für alle Mal gezählt waren, war das Kabelfernsehen mein ständiger Begleiter; wie ich war es ständig auf, ohne etwas Neues zu berichten zu haben. Wie oft erzählten uns die ExpertInnen, jene mediatisierten HistorikerInnen der vollen Stunde, Dinge wie: ‚Wir erleben gerade, wie Geschichte gemacht wird‘, ‚diese Wahlen gehen in die Geschichte ein‘ oder ‚davon werden wir noch unseren Enkelkindern erzählen‘?“ Sie fährt fort: „Die Vorhersage verankert jene Zukunft und diese Gegenwart in einer bestimmten Vergangenheit.“5
Wie sehr unterscheidet sich diese als Reportage verkleidete Beschreibung doch von dem als Warnung dargebotenen Slogan der 1960er- und 1970er-Jahre: „Die ganze Welt sieht zu.“ Ein Verweis auf die spektatorische Verantwortung, die für die Idee des „fesselnden Bildes“ bestimmend war und von ihr bestimmt wurde.
14. Jene Bilder, die wir, ohne sie reproduzieren zu müssen, heraufbeschwören können, die uns als ZeugInnen von Ereignissen hinstellen, mit denen wir weder körperlich noch zeitlich koinzidieren, verbreiten sich im Verhältnis zu unseren singulären und kollektiven Bestimmungen durch Zeit und Raum. Damit meine ich, dass diese „fesselnden Bilder“ sich nicht anhäufen wie ein sich ewig erweiterndes Archiv, sondern dass wir vielmehr eine emotionale Bindung zu bestimmten Bildern aufbauen; wir wählen aus und werden von bestimmten Dokumenten bestimmter Ereignisse ausgewählt. Durch diese Beziehungen akkumulieren wir ein Feld von Ereignissen, deren ZeugInnen wir sind, nicht passive BeobachterInnen einer Sache, die vorbei ist, sondern ZuschauerInnen mit einer kollektiven und individuellen spektatorischen Verantwortung in diesem Moment. Ich sage „Feld“, weil es nötig ist, dieser Sammlung von Bildereignissen einen organisierenden Begriff zuzuweisen, da sie, wie ich finde, keine definitive Form hat, obwohl sie ständig zwischen verschiedenen Auffassungsweisen von organisatorischem Raum hin und herschwankt: Zeitachse, Landschaft, Horizont etc.
15. Ich erinnere mich an eine Anekdote aus einem Lacan-Seminar, das ich bei Juli Carson an der Uni besucht habe. Angenommen, ich setze mich aus Versehen auf einen Stuhl, auf dem ein Reißnagel liegt, woraufhin ich aufspringe und laut „Au!“ schreie. Dann mutmaße ich, dass der Reißnagel den Schmerz verursacht hat, obwohl man auch sagen könnte, dass es der Schmerz war, der mich auf die Existenz des Reißnagels aufmerksam gemacht hat und somit gleichsam der Schmerz den Reißnagel verursacht hat.
Ich verweise häufig auf diese Anekdote, um das vereinfachte Konstrukt von Vorher und Nachher im Verhältnis zu dem Dokument eines Ereignisses anzufechten. Man könnte auch sagen, dass das Bild des schmächtigen Mannes im weißen Hemd und der schwarzen Hose, der am 4. Juni 1989 vor einer Reihe von Panzern am Tiananmen-Platz stand, das Ereignis ebenso verursacht hat wie die Handlung selbst auf der Fähigkeit dieses Mannes basiert, sich dieses Bild vorzustellen.
16. Diese Verkomplizierung des herkömmlichen Kausalitätsvorgangs unterbricht auch unser vereinfachtes Verständnis von der indizierten Beziehung eines Fotos zu der Person/dem Ereignis/dem Objekt, das es abbildet.
Die Beziehungen zwischen Fotos und Ereignissen, Handlungen und Erwartungen, Dokumenten und Projektionen gestalten sich durch das komplexe Zusammenwirken zwischen imaginierten und verwirklichten Erfahrungen (vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen) und Praktiken der Aufzeichnung. Damit ähnelt die Investition in eine deskriptive Realität, die das Foto als aus der Vergangenheit stammend, als auf das Ereignis folgend, als Verlust, als Defizit oder als Nostalgie darstellt, der Investition des Nachrichtensprechers, der uns ein Selbstverständnis als passive BeobachterInnen politischer Erfahrungen darbietet, anstatt als Körper/Subjekt mit Erfahrung(en) aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Und somit als Körper mit Wissen, Vorstellungskraft, Wünschen und Ansprüchen, individuell und kollektiv, in Bezug auf eine Reihe von unvorhersehbaren und produktiv-verwirrenden Zukunftsmöglichkeiten.
17. In Modern Language Notes von Februar 1937 definiert Herman Ebeling das Wort Anachronismus (aus dem Griechischen „ana“ und „chronos“) als „Irrtum in Bezug auf Daten, ein Irrtum, der die falsche Einordnung von Personen oder Ereignissen in der Zeit impliziert“6. Anachronismus wird auch so definiert: „Die Darstellung einer Person als existent oder einer Sache als geschehend, aber in einer anderen als der chronologischen, richtigen oder historischen Reihenfolge.“ Oder so: „Die Darstellung eines Ereignisses, einer Person oder Sache in einem historischen Kontext, in dem es oder sie nicht geschehen sein oder existiert haben kann.“ „Eine Person oder eine Sache, die nach ihrer eigenen Zeitperiode bestehen bleibt oder auftaucht.“ „Ein Fehler in der Chronologie.“ „Ein Artefakt, das in eine andere Zeit gehört.“ „Eine Person, die der falschen Zeit zugeordnet wird, die zu einem anderen Zeitalter gehört.“ „Eine chronologisch falsche Zuordnung von Personen, Ereignissen, Objekten oder Bräuchen im Verhältnis zueinander. Etwas, das für die heutige Zeit nicht länger angemessen oder relevant ist. Beispielsweise in Aussagen wie dieser: Sie betrachtet die Hochzeitszeremonie als seltsamen Anachronismus.“7
18. Mir geht es darum, den Anachronismus als aktiven Irrtum zu nutzen, als willentlichen Fehler, als absichtliche Verwirrung von Zeitlichkeit, die als Erfahrung existiert oder sich in Erfahrung einschleicht bzw. als solche andeutet. Gelingt es uns, Kosellecks Begriffspaar umzukehren und so stattdessen von Erfahrungshorizonten und Erwartungsräumen zu sprechen? Wenn ich als Künstlerin die räumlichen und zeitlichen Annahmen durcheinanderbringe, die unserem Verständnis von dem, was Ereignisse, Personen, Objekte oder Handlungen darstellen, zugrunde liegen, sprich unserem Erfahrungsbereich, dann kann ich, auch wenn es nur für einen kurzen Zeitraum ist, einen Raum schaffen, in dem es möglich ist, die Zukunft zu bedenken, unsere Erwartung dessen, was kommen wird, und unsere eigene Position in und Verantwortung für die explosive (Un-)Vorhersehbarkeit künftiger Jahre.
Die Originalfassung dieses Texts ist erschienen in: Maria Hlavajova/Simon Sheikh/Jill Winder (Hg.), On Horizons: A Critical Reader in Contemporary Art. Utrecht/Rotterdam: BAK & post editions 2011 (BAK Critical Reader, Bd. 4; www.bak-utrecht.nl).
Übersetzt von Gaby Gehlen
1 Teresa de Lauretis zitiert in Joan W. Scott, The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry, 17.4 (Sommer 1991), S. 773–797.
2 Peggy Phelan, Unmarked: The Politics of Performance. London 2004, S. 148.
3 Amelia Jones, „Presence“ in absentia: experience performance as documentation, in: Art Journal, 56.4, Performance Art: (Some) Theory and (Selected) Practice at the End of This Century (Winter 1997), S. 11–12.
4 Vgl. Robert Smithson, A Provisional Theory of Non-Sites, in: Robert Smithson: Collected Writings. Los Angeles 1996, S. 364.
5 Ann Pellegrini, Touching the Past: Or, Hanging Jad, in: Journal of the History of Sexuality, 10.2 (April 2001), S. 186.
6 Hermnn L. Ebeling, The Word Anachronism, in: Modern Language Notes 52 (1937), S. 120f.
7 So die verschiedenen Definition auf Seiten wie dictioray.reference.com, merriam-webster.com oder macmillandictionary.com.