Heft 1/2014 - Netzteil


Internet Joys

Zum Phänomen der „Post-Internet Art“

Vera Tollmann


Disorientierung in der digitalen (Bilder-)Welt: Post-Internet, Post-Cinema, Post-Concept, Post-Capitalism. Alle diese Begriffe stellen Versuche dar, verbal diffuser Übergangszustände habhaft zu werden, neuer Konstellationen, Medienkonvergenzen sowie der kommerziellen Durchdringung von Online- und Offline-Universen. Das medialisierte Verhältnis zur Gegenwart – bei Harold A. Innis hieß es „present-mindedness“ und bei Wolfgang Hagen „Gegenwartsvergessenheit“ – wirkt torpediert. Zeitangaben und Bezüge werden ins Unverbindliche verflacht, wie Lumi Tam in ironischer Verzweiflung für DISmagazine schrieb: „Post-recently“. Wann soll denn das sein? Wie verhält sich zeitgenössische Kunst zu „post-recent“? Ist es die Mode vom letzten Sommer? „What is exactly the chronology of ‚recent‘ to ‚post-recent‘?“, fragt sie, und schon ist klar, wie unsicher die Versuche sind, derlei Phänomene zeitlich einzuordnen.
Hacker, MedienaktivistInnen und NetztheoretikerInnen geben nach den NSA-Enthüllungen an, desillusioniert zu sein, während sich eine vernetzte Szene junger KünstlerInnen affirmativ mit computergenerierten Bildern befasst. Hier macht Internet vor allem Spaß. Und digitale Alltagsästhetik ist der neue Pop. Aber reicht die Bezeichnung „Post-Internet Art“ als Kondition und Unterscheidungskriterium aus, um diese Kunstform abzugrenzen? Einige PressesprecherInnen und KuratorInnen haben sie so aufgeweicht, dass sie nicht mehr bedeutet, als dass jede und jeder KünstlerIn, die oder der das Internet einmal benutzt hat, davon beeinflusst ist. Zeitgleich entwickeln sich vor allem im Londoner Diskurs neue Ansätze, über Netzästhetiken hinauszublicken und die unsichtbaren Voraussetzungen digitaler Oberflächen zu untersuchen.2 Dazu gehören Datenspeicherung und Prozessierung, physische Orte wie Server- und Rendering-Farmen sowie die begleitenden globalen Arbeitsbedingungen, wo Smartphones zu Arbeitsplätzen werden.
Parallel zur letzten Frieze Art Fair fand im Londoner ICA die von Rhizome organisierte Veranstaltung Post-Net Aesthetics statt.3 Dort trafen verschiedene Diskurse aufeinander. Aufhänger war die Post-Internet Art, die sich kulturell eng an den digitalen Netzwerken und ihren folkloristischen, profanen und abwandelbaren Gestaltungselementen und Materialien ausrichtet. Doch Kuratorin und Moderatorin Karen Archey war ratlos, wohin die Bezeichnung demnächst noch führen soll. Mit ihren DiskutantInnen Josephine Berry Slater und Ben Vickers landete die Veranstaltung mitten in einer Cloud von Hashtags und Manifesten aus dem britischen Publikationskosmos.
Neben Post-Internet und Post-Capitalism war viel von Post-Concept die Rede. Die Kunsthistorikerin und Mute-Redakteurin Josephine Berry Slater bezog sich dabei auf den Philosophen Peter Osborne, dessen Buch zur „postkonzeptuellen Konzeptionalität“ der Kunst kürzlich veröffentlicht wurde.4 Mit Osborne wollte Berry Slater aber vor allem das Präfix „post“ dekonstruieren – richtig müsse es „Trans-Internet“ heißen, denn das Netz existiere ja weiter. Gegen das „Accelerate-Manifesto“5 etwa brachte Berry Slater die Kritik vor, dass es in einem modernistischen Sinne nicht um Beschleunigung, sondern um Intensivierung gehen müsse. Ben Vickers gab als neuer Kurator für Digitales in der Serpentine Gallery Objekten und dem Ausstellungsraum Vorrang vor Netzwerken und sprach dann vor allem in Hashtags. Unter dem Stichwort „#stacktivism“6 geht es um die verdeckten technologischen und sozialen Infrastrukturen und die verdeckenden Signifikanten wie die „Cloud“, kaltes Hardwaredesign und Interfaces unterhalb der Wahrnehmungsgrenze.
Als Lev Manovich The Language of New Media (2001) schrieb, beschäftigte er sich mit dem Code, dem versteckten Text. Heute produziert der Diskurs über digitale Kultur hingegen viel visuelle Affirmation und geschriebenen Wortnebel. Eine Phase, die auch als Postromantik beschrieben werden könnte? Oder, wie rund um die Kasseler Ausstellung Speculations on Anonymous Materials assoziiert wurde, als neue Arte Povera? 2013 könnte die Materialpalette der Arte Povera aus ganz Alltäglichem wie Screens, digitalen Bildern, Druckerkartons oder Liquidem bestehen, das die Cloud und andere Flüchtigkeiten darstellen mag. Eine Attacke auf kulturelle Werte bleibt aus. Kein radikaler Verzicht, sondern sorgfältiges Auswählen, Gestalten und Bewahren. Kunst muss wie ein gutes Produkt aussehen.
In einer Fotostrecke, die Maja Cule im Auftrag des DISmagazin gestaltet hat, inszeniert sie lachende, Salat essende Frauen im Fotostudio.7 Damit bezieht sie sich auf ein gleichnamiges Meme, das eine Redakteurin desselben Magazins 2011 gestartet hatte – sie sammelte Bilder von gut gelaunten Frauen in der Werbung oder in Lifestyle-Rubriken von Frauenzeitschriften. Diät, LOHAS, lowfat, lowcarb, du darfst. Davon gibt es jede Menge. Cules Stock Images sehen auf den ersten Blick genauso aus wie die normativen Agenturbilder, und dennoch signalisieren ihre Models eine andere Botschaft, denn sie entsprechen nicht dem stereotypen Gesicht mit langem glänzenden Haar und makellosem Make-up. Vielmehr sind sie queer oder „Impersonators“, auf jeden Fall keine leere Projektionsfläche. Sie haben sich selbst eine Identität modelliert. Maja Cule hat im Prinzip umgesetzt, was die Panelteilnehmerin und Kuratorin Rozsa Farkas im ICA als Aufforderung so formulierte: „Aesthetics still operates in power structures around gender, around race – shine light on those power structures!“ Meme sind die „armen“ Materialien von heute, das Arte-Povera-Material der Gegenwart. 1968 war der Salatkopf bei Giovanni Anselmo nicht gleichbedeutend mit gesunder Ernährung und Fitness. Grünzeug und Granit bildeten ein archaisches Bild für den Widerspruch von Natur und Kultur.8
Aber dann hakt es doch schnell mit der Arte Povera – klar verwendet die Post-Internet Art „poor materials“, aber alle wenden sich dem White Cube oder dem Markt zu, wie etwa in der Ausstellung All You Need is Data: The DLD 2012 Conference Redux von Simon Denny zu beobachten ist. Darin hat Denny zwar ein neues Display für seine medienarchivarische Arbeitsweise entwickelt, aber aus der bloßen Quantität der ausgestellten Konferenztafeln ergibt sich noch keine eindeutige Haltung. Ob durch die Sorgfalt, mit der hier die Start-up-Veranstaltung chronologisch dokumentiert und Web-2.0-typische Layout-Presets im Posterformat aufgezogen werden, Entrepreneure als Spezies und ihre Aussagesätze als neoliberale Marketingsprache kritisiert werden, bleibt offen.
Aber vielleicht hält diese Kunstrichtung auch von einer generischen, perfekten und damit posthuman wirkenden Ästhetik ab, weil sie wieder etwas Subjektives in die digitalen Bilderwelten bringt. Jeremy Gilbert-Rolfe stellte anhand der Modefotografie in den 1990er-Jahren die These auf, „dass das Posthumane dort zu finden ist, wo früher das Humane zu finden war: im Aussehen der Dinge. Was einst Geduld und Handwerkskunst widerspiegelte, ist heute unglaublich präzise und zugleich unbegreiflich, ein Unterschied etwa zwischen Konzertflügel und elektrischem Keyboard. Was zutiefst unfaßbar ist, ist der Mangel an Geheimnis, ein Zustand, in dem die Dinge von heute sich weder verbergen noch enthüllen. Die Banalität des Posthumanen ist seine einzige Maske und auch die einzige, die es nötig hat.“9 Nach Gilbert-Rolfe tritt das Unbegreifliche an die Stelle des Geheimnisvollen, denn kaum jemand begreift heute, wie ein Computer eigentlich funktioniert.
Hingegen waren auf der Frieze in London einige Beispiele für das Zusammengehen von Post-Internet Art und Markt zu sehen. Cory Arcangel, der Älteste im Zirkel der jungen Netzgeneration, stellte einen großformatigen Flatscreen hochkant auf. In das Foto, das P. Diddy auf der ausklappbaren Treppe seines Privatjets zeigt,10 hatte er ein beliebtes Java Applet eingefügt, „lake“. Dieser Code sorgt dafür, dass sich P. Diddy auf dem Bild in einer digitalen, schimmernden Pfütze spiegelt. Sean John Combs alias P. Diddy alias Puff Daddy, der sich selbst gerne neu erfindet. Arcangel kennt als „Pre-Digital Native“ beide Systeme, Popkultur und Userkultur. Gleichzeitig ist die Arbeit ein ironischer Kommentar zum Jahr der „Selfies“. Seitdem das Internet Massenmedium ist, haben Popikonen weniger Bedeutung. Dafür hat das Internet neue Stars hervorgebracht. Das können auch digitale Objekte und anonyme Materialien sein. Internetpop ist anders, definiert sich nicht über Differenz, sondern über den digitalen Mainstream und den kleinsten gemeinsamen Nenner. Welche Regeln gelten für ein virales Video? Gar nicht so andere als für die Stock Photos, die sich Maja Cule aneignet.

 

 

1 http://dismagazine.com/disillusioned/53414/post-recently/
2 Vgl. die Ausstellung Unified Fabric von Harry Sanderson bei Arcadia Missa, 2013.
3 http://rhizome.org/editorial/2013/oct/21/video-post-net-aesthetics-now-online/
4 Peter Osborne, Anywhere or Not at All: Philosophy of Contemporary Art. London 2013; vgl. die Besprechung in dieser Ausgabe.
5 Alex Williams/Nick Srnicek, #ACCELERATE MANIFESTOfor an Accelerationist Politics (Mai 2013), http://criticallegalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-an-accelerationist-politics/
6 http://stacktivism.com/
7 http://disimages.com/photos/view/556, http://thehairpin.com/2013/07/interview-with-maya-cule
8 http://blog.artsper.com/wp-content/uploads/2013/10/Giovanni-Anselmo-Senzo-titolo-struttura-che-mangia-1968-%C2%A9-Giovanni-Anselmo.jpg (Fußnote weglassen, wenn wir die Abbildung reinnehmen)
9 Jeremy Gilbert-Rolfe, Das Sichtbarwerden des Posthumanen im technisch Erhabenen, in: ders., Das Schöne und das Erhabene von heute. Berlin 1996, S. 52ff.
10 Das Foto muss 2009 oder früher entstanden sein, P. Diddy kann sich seit Ausbruch der Finanzkrise den Jet nicht mehr leisten. Vgl. Alsion Boshoff, Celebrity credit crunch: How the rich and famous have been hit by the recession, in: Daily Mail, 12.4.2009; www.dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-1169512/Celebrity-credit-crunch-How-rich-famous-hit-recession.html (nur in Web-Version anführen)