Heft 2/2014


Zensur

Editorial


Es ist eines der ältesten Themen in Bezug auf Öffentlichkeit und künstlerische Arbeit: Zensur. Als Herrschaftsinstrument autoritärer Staaten gegenüber offen proklamierter oder verschlüsselt vorgetragener Kritik; als ethisch legitimierter Schutz vor Widerspruch oder Satire gegenüber den normativen Wertvorstellungen von Religionen und deren Ordnungsorganen; als Ausschlussmechanismus vermeintlich unreinen Denkens oder widerständigem Dissens; oder als gesellschaftlicher Reflex auf künstlerische Äußerungen, die im Hinblick auf den Mehrheitsdiskurs als gegenläufig oder deviant auftreten. Zensur ist auch im heutigen Kunstbetrieb ein allgegenwärtiges Phänomen. Und sie schleicht sich in Form von Selbstzensur in Zusammenhängen, die sich selbst als permissiv und emanzipatorisch verstehen, ebenso ein wie in vermeintlich offenen Institutionen und Strukturen, die ihre Praxis gegen vermeintlich destruktive oder die eigenen Reinheitsgebote korrumpierende Äußerungen schützen wollen.
Die Frühjahrsausgabe ist der Gegenwart dieser vielfältigen Verbotsformen gewidmet. Zugleich werden aufschlussreiche Umwege hin zu dieser Thematik, die sich oft gar nicht in Gestalt expliziter Prohibition darstellt, genommen. In Russland etwa, wo das staatliche Vorgehen gegen macht- und regierungskritische Ansätze immer neue Auswüchse annimmt, spitzt sich die Situation für unangepasste Kunstunternehmungen kontinuierlich zu. Sind dort die täglichen Aktivitäten vieler KünstlerInnen ständigen autoritären Bedrohungen ausgesetzt, so muss auch eine europäische Vorzeigeinstitution wie die Manifesta, die dieses Jahr in St. Petersburg stattfindet, einen politikkonformen Spagat meistern. Anna Tolstova legt in ihrem Beitrag diese zweischneidige Ausgangslage dar, in der Boykottaufrufe nicht wirklich weiterzuhelfen scheinen, in der aber auch – ähnlich wie schon bei den Olympischen Spielen in Sotschi – jedes Stillschweigen als implizite Zustimmung zu den Verhältnissen gelesen werden kann. Eine explizite Verweigerungshaltung legt hingegen die ukrainische KünstlerInnengruppe ISTM an den Tag, die ungeachtet der inzwischen veränderten politischen Lage im Land gegen die zunehmende Berufung auf traditionelle Werte bzw. das Heiligtum der Familie lautstark Einspruch erhebt.
In einem ähnlich unsicheren Zusammenhang agieren macht- und regimekritische Kunstpraktiken in arabischen Ländern. Nehad Selaiha rekapituliert in ihrem Beitrag die Geschichte der „inoffiziellen“, sprich sozialen Zensur in Ägypten, die lange vor dem despotischen Autoritarismus neuerer Prägung ihren Ausgang nahm. Dass die Unterdrückung unliebsamer künstlerischer Äußerungen auch aktuell, selbst nach dem Fall Husni Mubaraks, fortbesteht, beunruhigt umso mehr, als damit eines der zentralen Versprechen des Arabischen Frühlings nach wie vor uneingelöst ist. Eine ergänzende Reportage über die Beiruter Kunstszene (Daniel Berndt und Fiona McGovern) lässt implizit erkennen, dass der Weg dorthin möglicherweise noch weit sein kann: Vier zeitgenössische Institutionen, die sich gleichfalls dem Aufbruch verschrieben haben, ecken beharrlich an den sozialpolitischen Gegebenheiten an und können die eingeschlagene Route einzig aufgrund des großen internationalen Zuspruchs, den sie seit Jahren erfahren, verfolgen.
Ungleich dramatischer ist indessen das, was in Bezug auf freie Meinungsäußerung aktuell in der Türkei geradezu absurde Ausmaße annimmt. Die kürzlich angedrohten Internetsperren wirken wie das letzte Aufbäumen eines Regimes, das die Felle uneinholbar davonschwimmen sieht – Süreyyya Evren gibt diesbezüglich anhand einiger persönlicher Momentaufnahmen Einblicke, wie sich das Leben der kritischen Intelligenz angesichts dieser Bedingungen gestaltet. In weiser Voraussicht hat der Künstler Ahmet Öğüt vor einiger Zeit schon die Silent University ins Leben gerufen, eine transnationale, ja „transversale“ Institution, deren Wirken Pelin Tan in ihrem Beitrag beschreibt.
Gerahmt ist der Thementeil dieser Ausgabe von zwei Todesfällen, die für unsere Zeitschrift von besonderer Bedeutung sind. Am 10. Februar dieses Jahres verstarb Stuart Hall, Vordenker und Doyen der Cultural Studies und in dieser Eigenschaft für die theoretische Ausrichtung unseres Magazins von immenser Relevanz. Bis zuletzt wurde Stuart Hall nicht müde, gegen das um sich greifende Regime des Neoliberalismus anzuschreiben, das – anhebend bereits in den 1970er-Jahren – Unterdrückung auf wundersame Weise als „Freiheit“ zu verkaufen versteht. Wir publizieren hier einen der letzten von Stuart Hall mitverfassten Texte, worin er auf gewohnt scharfsinnige Weise den Begriff „common sense“, eine Art Zauberwort gegenwärtiger Politik, analysiert. Dieser mag auf den ersten Blick fast so etwas wie das Gegenteil von Zensur meinen, unterhält aber bei näherer Betrachtung innige Beziehungen mit ihr.
Am 16. März verstarb völlig unerwartet der Kunsthistoriker Markus Brüderlin, ohne den es diese Zeitschrift gar nicht gäbe. Markus Brüderlin hatte 1994 in seiner Funktion als österreichischer Bundeskurator für Bildende Kunst die Gründung eines international ausgerichteten Magazins für Gegenwartskunst initiiert, woraus zuerst der Springer und schließlich, ab 1998, die springerin hervorging. Markus Brüderlin, der hier noch einmal eigens gewürdigt sei, hat ebenso wie Stuart Hall (auf seine Weise) entscheidend dazu beigetragen, dass diese Zeitschrift gegen alle Widrigkeiten und Wirrnisse der Zeit überhaupt existieren kann.