Heft 2/2014 - Zensur


Was wissen Sie über VPNs?

Zensur in der Türkei anhand einiger persönlicher Momentaufnahmen

Süreyyya Evren


In dem 2013 erschienen Buch Writing Revolutions: The Voices from Tunis to Damascus, herausgegeben von Layla Al-Zubaidi, Matthew Cassel und Nemonie Craven Roderick, wird eine Reihe von wichtigen Fragen aufgeworfen. Eine davon lautet: „Wie schreibt man über Revolutionen, oder besser: Wie schreibt man Revolutionen?“ Die Antwort der AutorInnen lautet, man soll private Erlebnisse mit Theorien, politischen Bewertungen und historischen Präzedenzfällen verbinden. Das Private sei also – im „revolutionären“ Sinn – politisch.
Das Buch enthält Berichte aus Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain, Saudi-Arabien und Syrien. Man könnte aber auch sagen, das Buch berichte über die Kopfschmerzen eines Mädchens, über Studierende, die grüne Penisse auf Zäune malen, über arbeitslose und fadisierte Leute, die nur darauf warten, dass endlich etwas passiert, und über AutorInnen, die im Gras liegen und von ihrem Laptop aus die Revolution „tweeten“. Tausende private Geschichten also.
Positiv ist zu vermerken, dass man sich durch diese Schreibtechnik mitten „in“ den Ereignissen wähnt. Man fühlt sich nicht als Tourist, sondern als lebe man selbst in den Städten, in denen die Revolten stattfinden. Man könnte es aber auch anders ausdrücken: Man weiß von vornherein, worüber die AutorInnen reden, weil wir als WeltbürgerInnen heute so gut vernetzt sind. Der Aktivismus hat ja auf der ganzen Welt viel gemeinsam, und zwar nicht im Detail, sondern in der Haltung und was die Taktiken angeht.
Im Folgenden werde ich versuchen, ausgehend von meinen persönlichen Gefühlen und Eindrücken über aktuelle Zensurvorkommnisse in der Türkei zu berichten.
Yasmine El Rashidi schreibt in Writing Revolutions über die ägyptische Revolution. Dabei steht sie vor der entscheidenden Frage: Wann hat sie eigentlich begonnen? Mehrere Antworten bieten sich an. Eine davon ist, dass alles begann, als Mubarak an die Macht kam. Das ist gut gesagt! Genauso könnte man als Türke sagen, die brutale Zensur von heute begann bereits, als die AKP und Recep Tayyip Erdoğan 2002 an die Macht kamen. Und es war ja auch eine interessante Wahl, damals 2002. Vorher hatte es in der Türkei mehrere Koalitionsregierungen in Serie gegeben. 2001 wurde das Land dann von einer heftigen Wirtschaftskrise erfasst, die viele Leben zerstörte. Die Menschen waren fassungslos und wütend. Und sie gaben den Koalitionsparteien die Schuld. So verloren einst wichtige Parteien außerordentlich viel an Macht. Wie aus dem Nichts fuhr die Geschichte über sie hinweg.

Die neu gegründete AKP hingegen verdunkelte kein Schatten aus der Vergangenheit, und sie gewann die Wahlen mit Leichtigkeit. In diesem Jahr erreichte allerdings sogar ein Geschäftsmann, der eine Partei von null aus dem Boden gestampft hatte, sieben Prozent der Stimmen. Damit begann eine neue Ära. Damals gab es noch keinerlei Anzeichen, dass die AKP in nur zehn Jahren alles unter ihre Kontrolle bringen und ein autoritäres Regime errichten würde. Ich zumindest konnte nichts dergleichen erkennen. Schließlich drängte die AKP den Einfluss der IslamistInnen zurück, und viele meinten, sie hätte die Wahl zu Recht gewonnen.

Angesichts der heutigen Verhältnisse, vor allem auch was den Stand der Zensur betrifft, kann man sich kaum ausmalen, wie wir uns damals fühlten. Heute jedenfalls werden wir alle von oben durch die Partei überwacht. Und zwar so sehr, dass es beinahe surreal wirkt.
Woran, wird man fragen, erkennt man die Zensur? In welchen Bereichen findet sie statt? Nun, vor allem sieht man die Zensur in allen Medien. Im Fernsehen und in den Zeitungen hat sie ein schier unglaubliches Ausmaß erreicht. Immerhin ist es dank Twitter heute schwieriger geworden, Dinge zu verheimlichen. Doch nicht jedermann und jedefrau in Anatolien empfängt Nachrichten über soziale Medien. Immer noch haben die Fernsehsender sehr viel Einfluss. Und fast alle unabhängigen JournalistInnen wurden entlassen, viele von ihnen sind bis heute arbeitslos. Manche von ihnen schreiben jetzt Berichte darüber, wie die Zensur in der Türkei nach und nach zur Regel wurde.
Die Regierung setzte mit diversen schmutzigen Methoden die Medienbarone unter Druck. Immerhin machten diese auch andere – gleichfalls schmutzige – Geschäfte und waren daher erpressbar. Die meisten von ihnen verkauften also lieber die großen Zeitungen und Fernsehsender an Leute, die der AKP nahestehen. Die Umstände dieser Transaktionen werden wohl eines Tages von Gerichten geklärt werden müssen.
In den Berichten aus erster Hand lesen wir, dass Live-Übertragungen der Reden von Premierminister Erdoğan Mitte der 2000er-Jahre höchst umstritten waren. Heute senden fast alle 17 großen Kanäle jede einzelne seiner Reden live vom Anfang bis zum Ende. Und das, obwohl er immer dasselbe sagt! Und manchmal prangt auf fünf oder sechs wichtigen Tageszeitungen auch noch dieselbe Schlagzeile.
Hin und wieder, wenn etwas Wichtiges passiert, schalte ich noch gedankenlos die Fernsehnachrichten ein. Da sagt meine Frau: „Was machst du da? Bist du wahnsinnig! Das darfst du nicht versäumen!“ Und damit meint sie, ich solle doch nicht meine Zeit mit Fernsehen vertun, sondern lieber auf Twitter oder Facebook nachschauen, was wirklich geschehen ist. (Der konkrete Anlassfall für diese Anekdote war die Sendung eines Telefongesprächs zwischen Premier Erdoğan und seinem Sohn Bilal über das Geld, das sie in mehreren Häusern illegal horten – sehr, sehr viel Geld und alles in bar! Bilal erzählte über die Schwierigkeiten, so große Beträge von den Privatdomizilen an sichere Orte zu bringen. Die Aufnahme stammt von einem Tag, als Erdoğan fürchtete, die Staatsanwaltschaft würde auch sein Privathaus durchsuchen.)

Das Fernsehen verheimlicht also die Nachrichten, anstatt sie zu senden. Ganz im Gegensatz zu den sozialen Medien, und so sind zahlreiche NutzerInnen von Twitter, Facebook, Instagram oder Ustream mittlerweile selbst JournalistInnen geworden. Für Nachrichten, die vom Fernsehen verheimlicht werden, gibt es extreme Beispiele. So zeigten die Nachrichtensender während des Widerstands im Gezi-Park vergangenes Jahr, als alle auf den Beinen waren und protestierten und das ganze Land erschüttert wurde, Dokumentarfilme über Pinguine! Vorher schon waren die Fernsehsender einmal mehr als zehn Stunden lang stumm geblieben, als türkische Militärflugzeuge die unschuldige kurdische Bevölkerung des Dorfs Roboski (Uludere) bombardierten und viele Menschen, darunter auch kleine Jungen umbrachten. Allein das Ereignis war beispiellos in der Geschichte unseres Landes – Maschinen der türkischen Luftwaffe, die auf ihr eigenes Land Bomben werfen und kleine Kinder töten, weil sie sie für PKK-Guerilleros halten. Noch infamer aber waren die Sender, die mehr als zehn Stunden nicht davon berichteten.
Heute dürfen kein Journalist und keine Journalistin dem Premierminister auch nur irgendeine Frage stellen. Erdoğans Pressekonferenzen sind Inszenierungen, bei denen die zugelassenen Fragen vorher verteilt werden. Dieser Druck vonseiten der Regierung macht türkische JournalistInnen bisweilen ein wenig dusselig. Einmal fragte einer den bulgarischen Premier anlässlich eines Staatsbesuchs nach den Erdgasleitungen. Es gibt aber gar keine Gasleitung zwischen Bulgarien und der Türkei. Der bulgarische Premier verstand also kein Wort und fragte noch einmal nach. Woraufhin der Journalist seine Frage wiederholte. Endlich begriff Erdoğan, lachte und klärte die Sache auf. So stellte sich heraus, dass Erdoğan etwas über Erdgas hatte sagen wollen und die entsprechenden Fragen vorher verteilt worden waren.

Inzwischen weiß man auch, dass die Regierung ihre VertreterInnen nur aus einem Grund in Zeitungs- und Fernsehredaktionen eingeschleust hat: Sie will die Medien direkt und bis ins kleinste Detail kontrollieren. Der Premierminister hat Berater, die diese VertreterInnen anrufen und die Befehle ausgeben. Aber Erdoğan ruft immer wieder mal persönlich an.
Die Regierung manipuliert aber nicht nur die Nachrichten, sondern mischt sich sogar in Fernsehserien ein. Denn auch die Unterhaltung ist unter ihrer Kontrolle. In einer beliebten Serie gab es zum Beispiel ein Paar, das unverheiratet zusammenlebte. Die Regierung übte auf die DrehbuchautorInnen Druck aus, das Paar schleunigst zu verheiraten. Kein Wunder, dass es mit den von der Zensurbehörde verordneten Trauringen nicht mehr glücklich werden konnte. Und eine Fernsehsprecherin wurde sogar wegen ihres Dekolletés entlassen. Es gibt eine sogenannte Pressestelle des Premierministers, die sämtliche Fernsehprogramme kontrolliert – mit der Folge, dass sogar berühmte Fernsehleute seit Jahren arbeitslos sind.
Diese Angstmache führt zu einem Klima, in dem die Selbstzensur gedeiht. Immerhin wurden im Zuge der Gezi-Park-Proteste vergangenes Jahr laut türkischem Journalistenverband 21 JournalistInnen gefeuert, 37 zur Kündigung gezwungen und mindestens 14 ein Jahr auf Zwangsurlaub geschickt. Weiters wissen wir von Plakatzensur, wir sehen Reinigungsteams in der Früh Graffiti von den Wänden entfernen, auch die Zensur im Theater wird täglich vehementer.
Zu all dem kommt noch, dass wir nunmehr in eine Ära der massiven Internetzensur eintreten. Die Türkei wird deswegen schon mit Ländern wie dem Iran, China und Nordkorea verglichen. Beim Aufruf bestimmter Websites unsere IP-Adresse zu ändern, daran haben wir uns schon gewohnt. Aber inzwischen hat man den Eindruck, dass man sich noch viel mehr in alternative Techniken vertiefen muss, um anonym ins Internet zu kommen. Zum Beispiel über virtuelle private Netzwerke (VPNs).

Twitter und Facebook sind derzeit unsere Hauptinformationsquellen. Deswegen hasst Erdoğan auch Twitter und hält es sogar für eine „Bedrohung der Gesellschaft“. Dies erklärt auch, warum manche Ausdrücke wie „Twitter-Revolution“ verwenden, die früher nichts bedeuteten. Ein paar meiner FreundInnen hatten nicht einmal einen Twitter-Account, und Facebook galt sichtlich nicht als sinnvoller Zeitvertreib.
Dazu kommt, dass ganz viele Telefonleitungen angezapft wurden. Selbstzensur bei Telefongesprächen ist zur Normalität geworden. Auch ruft der Außenminister schon mal persönlich im Fernsehen an, um Druck zu machen, damit ein Auslandskorrespondent gefeuert wird. Und diese Versuche sind auch von Erfolg gekrönt, denn würde der Sender seiner „Bitte“ nicht nachkommen, würde er einen Steuerkrieg riskieren. Unbezahlte Steuern sind nämlich längst eine wichtige Waffe der Regierung gegen missliebige Firmenchefs geworden. Wenn es also nicht der Außenminister ist, der anruft, dann ist es der Finanzminister.
De facto habe ich mich bislang noch nicht an die Internetzensur gewöhnt. Noch weiß ich keine alternativen Möglichkeiten, um meine IP-Adresse zu verstecken. Aber ich werde wohl welche finden müssen.
Die Zensur hat somit viele Gesichter. Das ist zwar nicht neu, zumindest in der Türkei nicht. Die AKP hat die Zensur nicht erfunden. Aber die Menschen sind sich doch einig, dass die Größenordung neu ist. Noch nie saßen wir dermaßen in der Falle. Viele meinen, dass die Situation sogar schlimmer sei als in den 1980er-Jahren, als nach dem gewaltsamen Militärputsch am 12. September 1980 auch die Zensur verstärkt wurde.

Aber auch die Opposition übt Zensur aus. So habe ich einen Artikel für eine sozialistische Zeitschrift geschrieben, was für einen Anarchist immer eine Art Auswärtsspiel ist. Doch bisher ging stets alles gut, und in meine Texte wurde lange Zeit nicht eingegriffen. Als jedoch die Revolte in Syrien begann, stellten sich die meisten SozialistInnen in der Türkei auf die Seite von Assad – hauptsächlich deswegen, weil Erdoğan gegen Assad ist und die Türkei mit Waffen in Syrien intervenierte. Auf Assads Seite zu stehen bedeutete, auch gegen Al-Kaida, gegen Erdoğan, gegen alle DschihadistInnen der Welt zu sein. Ich versuchte ihnen also zu erklären, dass es auch eine dritte Alternative geben müsse, die gegen beide Konfliktparteien, aber für das syrische Volk sei. Nun gut, das war wohl das Letzte, was ich für diese Zeitschrift geschrieben habe!
Wenn ich diesen Vorfall aber mit der unglaublich massiven Zensur, wie sie aktuell vonstatten geht, vergleiche, so würde ich sagen, wir brauchen ein neueres, stärkeres Wort als Zensur. Alles Gesprochene und Geschriebene ist in der Türkei heute einem Belagerungszustand ausgesetzt! Und der Journalismus wurde von der Regierung in Geiselhaft genommen!
Wenn diese Ära vorüber sein wird, frage ich mich, wie lange die Gesellschaft brauchen wird, um sich davon zu erholen.

 

Übersetzt von Thomas Raab