Heft 3/2014 - Netzteil
Ein Grundzug gegenwärtiger Digitalkultur ist die enorme Flüchtigkeit ihrer zentralen Konzepte. Was gestern noch als neue, zukunftsweisende Begrifflichkeit aufs Tapet gebracht wurde, ist heute kaum mehr der Rede wert. Was eben noch das Versprechen in sich barg, nicht nur der elektronischen Kunst, sondern der fortschreitenden Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche einen konzeptuellen Rahmen zu geben, ist flugs schon wieder verabschiedet. Oder wird nicht länger im Mund geführt, zumal im Nu bereits andere, noch neuere und „gegenwärtigere“ Begriffskreationen an seine Stelle getreten sind. Im Diskurs über elektronische Kunst- und Lebensaspekte spiegelt sich demgemäß ein „Pop-up-Prinzip“, wie es die Benutzeroberflächen gängiger Betriebssysteme seit geraumer Zeit kennzeichnet. Ja, mehr noch: wie es die Kultur im Gesamten zunehmend prägt. Wie aus dem Nichts erwachsende Dringlichkeiten und plötzliche Emergenz sind in dem Maße zu bestimmenden Größen des Kulturellen geworden, in dem die Halbwertszeit brauchbarer Items und Gadgets immer mehr schrumpft. Dass eine tragfähigere Begriffsbildung mit dieser Dynamik nicht Schritt halten kann, liegt auf der Hand. Dass es dennoch unentwegt Versuche in dieser Richtung gibt, zeugt vom unverdrossenen Willen, der Entwicklung dennoch irgendwie Herr werden zu wollen.
Nehmen wir einige markantere Fälle der jüngeren Vergangenheit her – Versuche, dem rasanten technischen Fort von seiner ästhetischen Seite her gerecht zu werden. „Postinternet“, „New Aesthetic“ oder „Flatness“, um nur ein paar der zuletzt kursierenden Begriffe zu nennen, bilden allesamt Interpunktionen in einem Fortschrittskonvolut, das sich diskursiv immer weniger nach herkömmlichen Maßstäben abstecken lässt. Üblicherweise erfolgen ästhetische Begriffsbildungen retrospektiv: Mit entsprechendem Abstraktionsgrad und unter Zuhilfenahme passend erscheinender theoretischer Werkzeuge werden Stile, Genres, Paradigmen etc. ausdifferenziert, sprich von dem, was sie nicht sind, in möglichst kategorischer Manier abgegrenzt. Oder man führt Konzepte manifestativ ein, das heißt in Form von Deklarationen, wie eine künftige Kunst aussehen soll – erneut ist der dabei angewandte Diskursmodus differenzierend: Das manifesthaft Veranschlagte soll sich möglichst deutlich vom schlechten Alten abheben. Eine dritte Variante wäre die postistische Abgrenzung, die Züge der anderen beiden Modi in sich trägt: Man möchte sich rückblickend von einer Epoche, einem vorherrschenden Stil etc. verabschieden, hat aber noch nicht die neuen, manifestativen Tools zur Hand und kann somit nur ex negativo, gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, agieren. Diesbezüglich wäre auch die Idee der „Postmedialität“ mehr das Eingeständnis, dass sich die Spezifika einzelner Medien (so sie sich heute überhaupt noch voneinander trennen lassen) überwiegend erschöpft haben, als dass damit der Weg zu neuen, noch unbegangenen Medialitätsfeldern gewiesen würde. Positive Setzungen sind mit der postistischen Methode nur schwerlich vorzunehmen.
All dies trifft bei der in ständiger Entwicklung befindlichen, sich unablässig erweiternden Digitalkultur nicht zu – was entscheidend zu der eingangs erwähnten Flüchtigkeit der sie begleitenden Begriffe beiträgt. Weder lässt sich auf eine Kultur des Digitalen aus irgendeiner Warte zurückblicken – so wie man dies mit entsprechender Vorsicht im Hinblick auf eine Epoche des Fernsehens und vielleicht auch von Video heute bereits tun kann. Noch lässt es die fortwährend expandierende, immer mehr Lebensbereiche erfassende Digitalisierung zu, sich in einem „Außerhalb“ zu positionieren – so wie es die manifestative Kunst tat, die einen radikalen Schnitt mit der Vergangenheit vollziehen wollte, indem sie eine davon unkontaminierte Zukunft postulierte (wie es etwa bei net.art Mitte der 1990er-Jahre noch der Fall gewesen sein mag). Und schließlich ist auch der postistische Modus heute nicht mehr sonderlich aussagekräftig, insofern sich seine Trefflichkeit gleichsam verabsolutiert hat – welche vergangene oder anachronistische Kunstform wäre nicht in gewisser Weise auch im Digitalen aufgehoben? Welches andere Medium, so spezifisch und singulär es einmal angemutet haben mag, ist inzwischen nicht auch elektronisch verfügbar – egal, wie viele seiner „genuinen“ Eigenschaften dabei gewahrt bleiben oder verloren gehen?
Don’t Look Back
Marisa Olsons vor etwa fünf Jahren in die Welt gesetzte Wortkreation „Postinternet“ trägt ganz klar Züge dieser Art Selbsterübrigung. Ursprünglich ersonnen, um dem Besonderen heutiger Bildobjekte einen Namen zu geben, zielte der Begriff zunächst auf so allgegenwärtige Aspekte wie „symptoms of connectedness“ oder „the signature of life in network culture“ – Charakteristika, die laut Olson inzwischen für Kunst „online und offline“ gleichermaßen gelten.1 Aber wie, so die naheliegende und oft gestellte Frage, schlagen sich diese Netzwerksymptome und -bedingungen in einem Kunstwerk genau zu Buche? Wie lässt sich ihrer vermeintlichen Universalität – ein Aspekt, den Olson wiederholt betont hat – etwas Besseres oder zumindest Spezifischeres als bloß flächendeckende Allgemeinheit abgewinnen? Artie Vierkant, selbst darum bemüht, dem „Image Object Postinternet“, wie er es nennt, distinktive Züge zu verleihen, führt hierzu eine Auswahl von Eigenschaften an: „inherently informed by ubiquitous authorship, the development of attention as currency, the collapse of physical space in networked culture, and the infinite reproducibility and mutability of digital materials.“2 Vierkants eigene „Bildobjekte“, an denen er seit Jahren arbeitet, könnten als Musterfall dieses Eigenschaftsclusters durchgehen – vielleicht mit der Einschränkung, dass die Idee „universeller Autorschaft“, so fern es dann doch wieder betriebskonform um verknappte, rare Kunstgegenstände gehen soll, bestens mit individueller Urheberrealität kompatibel ist. Auch der ständig wachsende Pulk an „Postinternet-Kunst“, die man nicht so nennen darf,3 fügt sich fast ein wenig zu geschmeidig dieser Mehrfachqualifikation. Jedenfalls wird hier ablesbar, wie wundersam sich die postulierte Auflösung von Werk-, Material- oder Autorschaftsgrenzen in ihr reales Gegenteil umpolen lässt.
So ist der Topos „Postinternet“, der vor zwei, drei Jahren noch für erheblichen diskursiven Aufruhr sorgte, inzwischen selbst zu einem „terminus non gratus“ geworden. Vielleicht weil man einzusehen begann, dass die Eigenschaft der endlosen Reproduzier- und Veränderbarkeit nicht allein jene Artefakte auszeichnet, für die irgendwo in der Reproduktionskette die Weiche „Internet“ steht, sondern dass inzwischen so gut wie jedes Stück Kunst, das mit elektronischen Mitteln geschaffen, bearbeitet oder konserviert wurde, davon betroffen ist. Hinzu kommt, dass die Durchdringung digitaler und nicht-digitaler Materien, so man diese überhaupt auf sinnvolle Weise auseinanderhalten kann, einen derart hohen Komplexitätsgrad erreicht hat, dass es so gut wie keinen Aussagewert hat, etwas distinkterweise als „Postinternet“ zu bezeichnen.4 Wenn „Postdigitalität“ – in dem Sinne, dass es kein Zurück in eine Zeit vor dieser Ära gibt – tatsächlich zum allgemeinen Horizont von Kunst- und Kulturproduktion geworden ist, dann lässt sich auch aus der Behauptung bestimmter „postistischer“ Qualitäten kein begrifflicher Mehrwert mehr ziehen. Die Flüchtigkeit der von Olson und anderen eine Zeit lang propagierten Kategorie „Postinternet“ – schließlich sollte damit ein klar unterscheidbarer Werktyp identifizierbar werden – basiert nicht auf deren Inhaltslosigkeit. Vielmehr ist sie das Resultat einer Art „Über-Erfüllung“: Nicht weil es keine reale Zeit oder Produktionsära nach dem Internet gibt bzw. eine solche absehbar wäre, erübrigt sich der Term, sondern weil schlichtweg kein Produktionsmodus außerhalb seines Horizonts vorstellbar ist. Das Netz ist, anders gesagt, nicht nur überall „da draußen“, sondern auch überall „mit drinnen“.
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James Bridles „New Aesthetic“, um die vorübergehend ein ähnlicher „buzz“ herrschte, ergeht es nicht viel anders, wenngleich der Diskurs hier von anderen Vorzeichen geprägt ist. 2012 auf der SWSX-Konferenz in kluger Hype-Manier lanciert, wurde um den Begriff eine Zeit lang ziemliches Aufheben gemacht – bis auch hier das virale Bruhaha wieder verebbte.5 Bridles Tumblr-Seite kompiliert zwar immer noch geduldig allerlei Phänomene, welche die vermeintlichen „new ways of seeing“ verkörpern, als welche Bridle diese Ästhetik versteht. Doch die angeführten Musterbeispiele, von Drohnen und Tarnkappendesign über neuere CAD-Architektur und Gesichtserkennungssoftware bis hin zu ausgewählten Kunstbeispielen, etwa den Filmen von Timo Arnall (Robot Readable World oder Internet Machine), sie alle künden mehr von einem summarischen Kompilierprinzip als vom Drang, diese Phänomene in irgendeiner Weise theoretisieren zu wollen. Der beliebig erweiterbare Blog scheint das ideale Format für derlei Materialanreicherung zu sein, ob sich daraus am Ende aber so etwas wie ein allgemeineres Thesengerüst herauszuschälen beginnt, scheint mehr als fraglich. Vermutlich liegt dies auch gar nicht in Bridles Absicht, hat er doch mehrfach bekundet, dass sich die „New Aesthetic“ nicht den herkömmlichen Formaten fügt, in denen Theorie und Kritik üblicherweise gehandelt werden. Vielmehr gehe es darum, den fortlaufenden Entwicklungen auf vielen verstreuten Schauplätzen möglichst haut- und zeitnah zu folgen.
Die „New Aesthetic“ versteht sich insgesamt als hochhybrides Projekt – eines, das „within its own medium“ vonstatten geht und nicht auf einer Metaebene agieren möchte. Es sei zudem „an attempt to ‚write‘ critically about the network in the vernacular of the network itself“6. Genau das ist der neuralgische Punkt der gesamten Unternehmung, ja eine Art Sollbruchstelle in der Art von Theoriebildung – Bridle selbst würde zweifellos nicht von „Theorie“ sprechen –, wie die „New Aesthetic“ sie nolens volens praktiziert. Die akkumulierende Zusammenschau heterogenster Phänomene, von entlegenen Bildern und Bildobjekten, kann gar nicht anders als nach gewissen Auswahlkriterien vorgehen – wie sonst ließe sich ermitteln, was unter die Kategorie „neue Wahrnehmungsweise“ fällt? Wie anders könnte dem Erstaunen darüber, was das technisch/digital vermittelte Sehen so alles produziert, überhaupt Ausdruck verliehen werden? An dieser Stelle kommt noch eine weitere Rochade ins Spiel, durch die der Ansatz bei aller intendierten und durchaus berechtigten „non-closure“ (der theoretischen Unabschließbarkeit aufgrund der ständigen Neuformierung der Phänomene) vollends der Flüchtigkeit preisgegeben wird: Es ist dies der emphatische Netzwerkbezug, ja die Art von Absolutsetzung, die das Netz als oberste und zugleich fundamentalste bildgenerierende Größe hier erfährt.
Die Bilder und Bildobjekte, welche die „New Aesthetic“ quasibegrifflich erfassen will, sollen laut Bridle nicht von ihrem Gehalt oder ihrer Form her verstanden werden, sondern von den „underlying systems that produce them“. Ein Bild wird solcherart zu einem „link, hardcoded or imaginative, to other aspects of a far greater system, just as every web page […] is a link to other words, thoughts and ideas“7. Genau hier beginnt sich die Sache aber im Kreis zu drehen, denn um das einzelne Ding von dem es einbettenden oder generierenden „greater system“ ableiten zu können, müsste zunächst einmal dieses System festgenagelt werden – etwas, das Bridle und Konsorten vielleicht strategisch auch im Sinn haben,8 das sich empirisch aber als noch viel schwieriger erweisen dürfte, als ein einzelnes „item“ innerhalb dieses Systems zu isolieren. So sehr es (theoretisch) stimmen mag, dass das digitale Bildobjekt allein vom Netzwerk her, in das es produktions-, distributions- und rezeptionslogisch eingespannt ist, begriffen werden kann, so unmöglich bzw. illusorisch mutet die Aufgabe an, dieses Netzwerks in seinen unterschiedlichen Registern, Teilsystemen und nicht zu vergessen: seiner rasanten technische Fortentwicklung auch nur annähernd habhaft zu werden.
Bridle verwehrt sich – völlig legitim – gegen eine „premature codification of the subject“, sprich die vorschnelle Festschreibung der „Neuen Ästhetik“. Doch der Umkehrschluss – die Sicht offenhalten für immer neue, momentan noch nicht abschätzbare Netzwerkbedingungen, denen Bilder unterliegen – scheint hier ebenso wenig weiterzuhelfen. Denn wie ließe sich „the network’s own refusal to be pinned down“ diesbezüglich je produktiv machen – dahingehend, dass aus etwas, das sich selbst nur schwer „kontrollieren, steuern und kanalisieren“ lässt, ein Verständnisrahmen für die darin zirkulierenden Objekte ableitbar wäre? Zumal diese der ständigen Mutier- und Veränderbarkeit ausgesetzt sind. Bridle folgert im Hinblick auf den unsicheren Status der „New Aesthetic“, im Zweifelsfalle eher dem fluiden Netzwerk zu vertrauen als dem einzelnen Text, der diese Verflüssigung nur unbeholfen festhalten kann.9 Damit verabschiedet sich der betreffende Diskurs rundweg aus jeder konzeptuellen Verankerung. Die Netzästhetik schwirrt im Orbit der Digitalität herum wie ein Schwarm losgelöster Blogeinträge. Begriffsjunk mischt sich hier mit Data-Trash. Was in gewisser Hinsicht aber auch zu beweisen war.
1 Interview with Marisa Olson, in: Phoebe Adler et al. (Hg.), Art and the Internet. London 2013, S. 196 bzw. 199.
2 Zitiert in Marisa Olson, Postinternet: Art after the Internet, erstpubliziert in: Foam Magazine, #29 (2011/12), wiederabgedruckt in Adler, Art and the Internet, hier S. 213.
3 Vgl. Martin Conrads, Das Internet als MakerBot, in: springerin 2/2014, S. 12–13.
4 Vgl. Kerstin Stakemeier, Prothetische Produktionen. Die Kunst digitaler Körper, in: Texte zur Kunst, Heft 93, März 2014, S. 167–181.
5 Vgl. Franz Thalmair, Neues Sehen, retrospektiv betrachtet, in: springerin 2/2013, S. 4–5; Bridles Tumblr-Seite findet sich unter http://new-aesthetic.tumblr.com/.
6 James Bridle, The New Aesthetic and its Politics (2013); http://booktwo.org/notebook/new-aesthetic-politics/.
7 Ebd.
8 Vgl. dazu beispielsweise das Gespräch zwischen Jaron Lanier und Bridle über Laniers aktuelles Buch Who Owns the Future? (2013); http://www.youtube.com/watch?v=lbdYg_z_SAE
9 „Trust the network and not this document“; alle Zitate in diesem Absatz aus: Bridle, The New Aesthetic and its Politics.