Berlin. Waldsee \’wȯl(t)szəə\ auf Amerikanisch ausgesprochen klingt nach einer Wes-Anderson-Fantasie von Europa, wo sich Ortsnamen (Nebelbad) aus den ureigensten Elementen der deutschen Landschaft zusammensetzen, sich dichter Nebel durch dunklen Tannenwald schiebt, Herrschaften ihre Untertanen über Flure kommandieren und ein Gemälde zum Schlüsselobjekt wird. Es geht um ein ungefähres Europa, das zwischen dem 19. Jahrhundert, den 1970er-Jahren und heute oszilliert. So passte es perfekt zum Eröffnungstag der 8. Berlin Biennale im alten Berliner Westen, der ehemaligen US-amerikanischen Besatzungszone, dass es über Stunden Bindfäden regnete. Im Haus am Waldsee, einem der drei Ausstellungsorte der Biennale, mischen sich formal bourgeoiser Lebensstil repräsentiert durch für die Ausstellung behauptete „private collections“, ein Zimmerbrunnen aus zypriotischem Kupferblech und klassische Musikbeschallung auf der Schwelle zur Terrasse. Was an diesem Ort des 19. Jahrhunderts eine Soundinstallation der Künstlergruppe Slavs and Tatars übernahm, nämlich die herrschaftliche Idylle im Park ein wenig durch eine von Atatürk modernisierte Version orientalischer Gebetsrufe zu unterbrechen, führte Danh Vo mit einer Performance im Ethnologischen Museum aus, dem 1970er-Jahre-Neubaukomplex und Hauptausstellungsort der Biennale. Auch er unterbrach die hegemoniale Erzählung mit Gesang.
Und das ging so: In der Eingangshalle des Altbaus trat ein Jungenchor auf. An die 20 Grundschüler mit ordentlichen Haarschnitten und in schwarzen Anzügen gekleidet erinnerten in dieser Architektur an eine amerikanische Collegedelegation. Die Minimänner sangen, nachdem der Nico-Song Afraid a capella in extremer Langsamkeit und deutlicher Silbentrennung vorgetragen war, mit ihren hellen, klaren Stimmen die Nationalhymne. Von einem lauten fernöstlichen Gong wurde die Hymne übertönt – ein ortsspezifisches Ritual gegen Nationalismen und imperiale Projekte.
Womit Vo auf den aktuellen kulturpolitischen Konflikt anspielen mag. KritikerInnen werfen den Museen Dahlem und dem künftigen Humboldt-Forum vor, mit den ethnologischen Sammlungen die Kulturnation auszuschmücken. 2011 hatte eine Gruppe von WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen namens Alexandertechnik die Pläne der Museen für künftige Präsentation im rekonstruierten Stadtschloss als reaktionär kritisiert. Die Aktivistengruppe Humboldt 21 und ein Spin-off der Alexandertechnik, Artefakte, begleiten den Prozess weiter. Dagegen tritt die Biennale vergleichsweise leise und ergeben auf, gar bringt sie die bestehende Sammlung in Dahlem zum Leuchten, animiert die Exponate wie Tierköpfe aus Stein.
In weiten Teilen gibt sich die Biennale in gedeckten Naturfarben und schmiegt sich an die Gebäude und deren Geschichte an. Im Eingangsbereich hängt eine Arbeit von Nairy Baghramian, die so klein ist, dass der schwere Betonvorhang keine Wucht entfalten will. Doch versetzt man sich gedanklich in eine Anderson’sche Miniaturwelt zurück, dann funktioniert es. Auf einem Foto ist ein Raum zu sehen, in dem sich der iranische Schah mit Diktatoren und Schurken hat ablichten lassen sollen. Also ein Raum voller böser Gespenster. Eine Notiz zu den nachfolgenden Museumssälen. Diese Biennale spinnt ein feines Netz an Dissonanzen und Zweifel, hier ist einer seiner stärksten Knotenpunkte.
Die kleine Form scheint es Kurator Juan A. Gaitàn angetan zu haben. Doch er hat die Wirkung der bestehenden Sammlung nicht mitbedacht. Läuft man zum dritten Mal an den vielen Steinen im ethnologischen Museum vorbei, beginnen die (mythologischen) Tiergesichter zu grinsen und wie gif-Animationen lebendig zu werden. Das macht die digital geprägte Wahrnehmung dann mit einem – wenn man sonst vor lauter Vitrinen, Rahmen und Glasschränken nicht mehr bis zur Kunst durchsehen kann, entsteht Leere. Da wo Anderson ein Ausstattungsperfektionist ist, fragt man sich, ob die eigene Ausstellungserfahrung schon vom überbordenden Spektakel verdorben ist?
Mindestens genauso aufschlussreich im Hinblick auf etablierte Sehgewohnheiten ist der Raum von Wolfgang Tillmans, der einen übergroßen Hightechturnschuh, der allein wegen seiner Größe und seiner Fetischhaftigkeit gleich von vielen gemocht wurde, in eine Vitrine stellt und somit ein Update der früheren Expeditionen in die außereuropäische Welt evoziert. Überhaupt Tillmans, der hier nicht seine eingetretenen Pfade verfolgt, sondern neben dem Turnschuh andere Alltagsobjekte wie drei Mal das gleiche Paar auf Abnutzung produzierter Jeans sorgfältig in eine Vitrine faltet, Mahnmale der Sweatshop-Industrie.
Viele Arbeiten geben wenig preis, auch wenn die geografischen und historischen Bezüge im Kurzführer aufregend klingen. Es geht um die Ausbeutung von Ressourcen – wie Kupfer aus Zypern – und damit einhergehende Eingriffe in Landschaften und lokale Ökonomien, und damit auch immer wieder rückblickend um die ausbeuterischen Verhältnisse im Entstehungskontext der ethnologischen Sammlungen. Doch gerade in diesen restaurativen Zeiten, wo alte Systeme und Ordnungen an Macht gewinnen, fehlt ein starkes Gegenüber. Was ist etwa mit den „Leichen im Keller“? Nur drei Prozent der Sammlung sind überhaupt zu sehen. Wo sind sie, die blinden Flecken des Eurozentrismus?
Die Frage nach dem Wie und Wer stellen die Künstlerinnen Natasha Ginwala und Bianca Baldi. Natasha Ginwala hat in einer wirklich schwer auffindbaren Etage des Museums für asiatische Kunst eine aufschlussreiche Archivauswahl zusammen mit Museumsmitarbeitern getroffen. Darunter befindet sich eine geniale Zeichnung der Feministin und Wissenschaftlerin Emma Hart Willard, The Temple of Time. Willard’s Map of Time. Oder ein Buch über Spinnen von Carl Wilhelm Hahn, ein Beispiel für frühe Taxonomien des kolonialen Projekts. Bianca Baldi lässt sich in einem White Cube den Explorator von Louis Vuitton vorführen. Ihr kurzer Film Zero Latitude hält fest, wie zwei Männer in Anzügen und weißen Handschuhen das Produkt präsentieren, in dem sich ein Feldbett verbirgt. Dieses Reisegepäck war im Auftrag von Brazza, einem der ersten Kolonialherren in Afrika entstanden. Den heutigen Luxuskonzern und deren Fetischprodukte hatte Wes Anderson in einem anderen Film ad absurdum geführt.
Und wen dann das Fernweh packt, holt Saâdane Afif wieder auf den Boden der Tatsachen. Seine Hommage an einen öden Ort, den Bahnstein der westdeutschen Kleinstadt mit dem klanglosen Namen „Düren“. Auf dem Miniaturbahnsteig ertönen die typisch nüchternen Bahnsteigansagen aus einem Lautsprecher, die er mit Songtexten kontrastiert, die vom Reisen und dem Anderswo-Sein träumen. Ein leises Verabschiedungsritual von den BRD-Bildungsstätten? Dem Ende einer Ära und dem Weg zum Humboldt-Forum wurden keine Steine in den Weg gelegt.