Heft 2/2015


20 Jahre – Zukunft

Editorial


Jubiläen haben es an sich, dass sie bisweilen den Blick erweitern helfen. Auf das, was war, auf das, was hätte sein können, aber auch auf das, was noch werden soll. Deswegen ist das 20-jährige Bestehen dieser Zeitschrift (um das etwas großspurige Wort „Jubiläum“ hier nicht länger zu beanspruchen) in erster Linie Anlass, um Ausschau zu halten: Ausschau nach dem, was über die Jahrzehnte Dauer und Fortbestand bewiesen hat; nach dem, was sich an erwarteten und unerwarteten Entwicklungen in dieser Zeit ereignet hat; schließlich nach dem, was an unrealisiertem Potenzial weiterhin bearbeitet werden will.
Als im April 1995 die erste Ausgabe, damals noch unter dem Namen springer, erschien, war ein Aufbruch in vielerlei Richtungen zu verspüren. Die elektronische Vernetzung hatte, auch als Grundlage einer neuen Art von Kunstproduktion, gerade Fahrt aufgenommen.
Ein international orientierter kritischer Theoriediskurs hielt verstärkt Einzug ins Kunstgeschehen. Die Disziplinen fingen an, sich auf produktive Weise, oft aber auch mit beträchtlichen Reibungsverlusten zu mischen. Ehemals geschlossene oder nur schwer zugängliche institutionelle Räume begannen sich auf neue Außenwelten hin zu öffnen. Ein farbenprächtiges Chamäleon als allererstes Covermotiv brachte all dies auf den Punkt – als Emblem für anstehende Veränderungen und situative Neuanpassungen, ohne dabei in kunstmarkthörigen Opportunismus abzudriften.
20 Jahre später soll sich der Blick erneut über das Gängige und Geläufige hinaus öffnen, soll dem rasenden Stillstand der Gegenwart (um es polemisch zu sagen) Aussichten auf ein Anderes, Äußeres, Zukünftiges entgegenhalten. So soll zunächst gefragt werden, was aus den Aufbrüchen bzw. Aufbruchsversprechen der 1990er-Jahre geworden ist; welche der damaligen Überschreitungs- und Neuformierungs- absichten sich erfüllt bzw. nicht erfüllt haben; welche Nachjustierungen, einen zeitgemäßen kritischen Kunstdiskurs betreffend, aus heutiger Sicht nötig erscheinen.
Zum anderen – und damit ist die konkrete, tagtägliche Arbeit am Kunstgegenstand gemeint – sollen Überlegungen angestellt werden, welche Art der (Wieder-)Belebung dem Chamäleon von damals aus aktueller Sicht am ehesten gerecht werden würde.
Wir haben eine Reihe von KünstlerInnen, die der Zeitschrift nahestehen, gefragt, aus ihrer Sicht Antworten auf diese Fragen zu finden. Sanja Ivekovic, über die Jahre mehrfach auf diesen Seiten vertreten, gibt Einblicke in ihre Lost & Found-Serie: Ansichten von Kultureinrichtungen im ehemaligen Jugoslawien bzw. dem „neuen Europa“ oder etwa Geschäftsfassaden, die den fast schon anachronistischen Namen „Solidarität“ tragen. Auch Florian Pumhösl, seines Zeichens maßgeblicher Mitgestalter des ursprünglichen springer-Erscheinungsbilds, ist in die mittleren 1990er-Jahre zurückgegangen und hat ein Motiv, das in anderer Form eines der frühen Covers zierte, neu aufbereitet: eine Straßenbahn-Notbremse, deren Symbolkraft heute vielleicht stärker denn je ist.
Louise Lawler, der wir das exzeptionelle Coverbild dieser Ausgabe verdanken, hat ihren Beitrag schließlich über die gesamte Heftstrecke verteilt. So ergibt sich im größeren Zusammenhang ein weitgespannter „Bildtext“, der Verhärtungen der aktuellen Weltpolitik (Drohnenkrieg) mit der Leichtigkeit alltagskultureller Gegenstände und Verfahren (Kölschgläser, Abpausmethode) konterkariert.
Den Sinn für Vergangenes mit dem Ausschauhalten nach einer gangbaren Zukunft zu verknüpfen, dieser Aufgabe stellen sich auch die Essays in dieser Ausgabe. Brian Holmes nimmt die anhaltende ökonomische Krise zum Anlass, um zu fragen, welche Ästhetiken diesem Zustand am ehesten gerecht werden, auch im Hinblick darauf, wie sich das lähmende Gefangensein in einer blockierten Gegenwart überwinden lässt. Sein zentrales Beispiel dreht sich um Gewalt von oben und deren potenzielle Wiedergutmachung, zielt aber auf die allgemeinere Frage, welche „structures of feeling“ den Weg zu einer emanzipierten Zukunft weisen könnten. Im Unterschied dazu befasst sich Keti Chukhrov mit den Grundelementen eines zeitgemäßen Realismus. Sie kommt zu dem Befund, dass nur eine Neudefinition des sinnlichen Elements von Kunst, gedacht als radikal negative Geste, der gegenwärtigen Entfremdung unter globalkapitalistischen Bedingungen entgegenwirken kann. Auch Chukhrov holt weit in die Vergangenheit aus, in ihrem Fall bis zu den Lehren des russischen Philosophen Michail Lifschitz, der bereits in den 1930er-Jahren seine Version einer Ästhetik des Realismus entwickelt hatte.
Über die Grundfesten eines gegenwartsbezogenen Realismus hinausdenken wollen einmal mehr Critical Art Ensemble, die die Entwicklung neuer, auf Vernetzung basierender experimenteller Praktiken rekapitulieren. Für CAE steht und fällt die Erfolgsaussicht dieser Praktiken mit dem größeren Rahmen, in dem diese Art von Kulturproduktion angesiedelt ist. Erst wenn es gelingt, diesen Rahmen ansatzweise zu subvertieren (wie es dem von CAE angeführten Künstlerkollektiv Group Material immer wieder gelungen ist), erst dann kann so etwas wie eine Bewegung in Richtung Zukunft erfolgen. Dieses Verlassen ausgefahrener Bahnen, das leichter behauptet ist als getan, ist auch Thema von Hans-Christian Dany, der sich in seiner Zeitdiagnose mit der Praxis und Theorie selbstregulierender Prozesse beschäftigt. Wie sich entgegen aller vermeintlichen Planbarkeit und Vorhersagbarkeit des Künftigen ein Sinn für das Offene und Unbekannte aufrechterhalten lässt, dies ist nicht nur für Dany ein wichtiges Gegenwartsansinnen und Auftrag zugleich.
Apropos Auftrag: An dieser Stelle sei unseren langjährigen und regelmäßigen LeserInnen herzlichst gedankt. Ohne ihr anhaltendes Vertrauen und Interesse hätte sich in den vergangenen 20 Jahren niemals jene Tragfähigkeit entwickeln können, die zugleich der wichtigste Garant unseres Fortbestehens ist.