Heft 2/2015 - Lektüre



Sophia Prinz:

Die Praxis des Sehens

Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung

Bielefeld (transcript Verlag) 2014 , S. 72

Text: Jens Kastner


Schon der Soziologe Georg Simmel beschreibt in seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne (1908) das Sehen als eine Praxis, die sowohl voraussetzungs- als auch folgenreich ist. Alles andere als eine persönliche und situative Angelegenheit ist jeder Blick von seinen Vorläufern geprägt und kann, wenn vielleicht auch nicht töten, so doch vielfältig in soziale Verhältnisse eingreifen. Die Kultursoziologin Sophia Prinz hat nun eine beeindruckende Studie vorgelegt, in der sie den kultur- und sozialtheoretischen Implikationen der Praxis des Sehens genauer nachgeht. Sie füllt damit eine Lücke, die auch die diversen kunst- und filmtheoretischen Interventionen ab den 1970er-Jahren – von Laura Mulvey bis Kaja Silverman – trotz ähnlicher Fragestellungen nicht haben füllen können.
Prinz möchte eine „praxistheoretische Heuristik“ entwickeln, „die die strukturellen Bedingungen der Wahrnehmung systematisch offenlegt“. Die Praxistheorie grenzt sich hier von sprachanalytischen wie subjektphilosophischen Ansätzen gleichermaßen ab, betont die unbewusste Eigenlogik von Praktiken und interessiert sich für deren – auch scheiternde – Verlaufsformen. Während Pierre Bourdieus Habitus-Theorie diese Kriterien zwar erfüllt, interessiert sie sich allerdings wenig für ganz konkrete „sinnliche Wahrnehmung“, wie sie eingeübt wird und wie sie das Soziale formt. Weil an Übung wie Formung auch die Dinge, kulturelle Artefakte oder „das Materielle“ beteiligt sind, ergänzt Prinz Bourdieu vor allem mit Michel Foucault und dessen Interesse an Visualität und der „Entgrenzung bestehender Ordnungen“. Sie durchforstet Foucaults ganzes Werk im Hinblick auf die Problematisierung von Visualität. Dabei stößt sie auf weit mehr als auf die zwei, drei viel zitierten Passagen wie etwa über das paradigmatische Blickregime, das Foucault im panoptischen Gefängnis gesehen hat, oder den Beginn des Zeitalters der Repräsentation, den er in Velazquez’ Las Meninas erkannte. Die Dinge strukturieren das Wahrnehmen ebenso grundsätzlich wie die Räume und die Praktiken, determinieren es aber nicht: Prinz stellt heraus, dass jedes Dispositiv über visuelle Formationen verfügt, dass es ein unbewusstes, körperlich verankertes „implizites Wahrnehmungswissen“ gibt und dass dieses durch „situative Wahrnehmungspraktiken“ durchaus auch durchkreuzt werden kann.
Um das Körperliche der Sehpraxis angemessen einfangen zu können, bezieht Prinz sich über Foucault und Bourdieu hinaus (in einer historisierend-soziologisierenden Lesart) auf Maurice Merleau-Ponty. Und schließlich, um der Strukturierung der sichtbaren Welt nachzugehen, kommt noch Jacques Lacans strukturale Psychoanalyse hinzu. Dass der rote Faden bei dieser anspruchsvollen theoretischen Verknüpfungs- und Bezugsarbeit nicht verloren geht, ist der stringenten Fragestellung und dem wohlgeordneten Aufbau des Buchs zu verdanken.
Was den „artefakttheoretischen“ Ansatz betrifft, so kann er sicherlich gut vermitteln, inwiefern die „Dinge“ bisher aus der Sozialtheorie herausgefallen sind. Diese Vermittlung geschieht zudem auf sympathische Art und Weise, ohne etwa die soziologischen Bemühungen zur Konzeptualisierung von Körper, Praxis und Struktur als Ganze zu verdammen, wie es beim Dingtheoretiker Bruno Latour geschieht. Wobei sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass bei Bourdieu der Begriff der Wahrnehmung häufig auf den „Aspekt der ‚Bewertung‘ enggeführt“ wird und der Dingwelt keine eigenlogischen Effekte zuerkannt werden. Die Frage wäre aber, ob das nur forschungslogische oder theorieimmanente Auslassungen, also mehr oder weniger Zufälle sind oder mit Absicht passiert ist. Schließlich ist selbst nach den überaus erhellenden Rekapitulationen und Zusammenführungen von Prinz nicht ganz klar, worin diese „Eigenlogik“ nun eigentlich besteht und was es so zwingend macht, sie zu integrieren. Es scheint vielmehr, als müsse man an die „affektive Kraft“ der Dinge erst glauben, um sie in Folge auch theoretisieren zu können.
Anders als Latour verabschiedet Prinz sich schließlich nicht von sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansprüchen auf Kritik (oder bekämpft sie gar). Dennoch kommt – trotz der Referenz auf die Machttheoretiker Bourdieu und Foucault – die Dimension der Kämpfe um die Durchsetzung von Sichtbarkeiten ein bisschen zu kurz. Praxistheorie war ja, zumindest in der Linie, die von Marx über Antonio Gramsci führt, auch als ein Projekt angetreten, das in die beschriebene Praxis intervenieren will. Als gesellschafts- und herrschaftskritischer Ansatz also. Mit der bereits bei Gramsci – der bei Prinz aber nicht vorkommt – angedachten Wechselwirkung zwischen Kunstproduktion und allgemeinen kulturellen Praktiken etwa ließe sich hier durchaus anknüpfen. Denn schließlich liegt Prinz auch nicht ganz falsch, wenn sie Bourdieu vorwirft, die (von ihm selbst so genannte) „symbolische Revolution“ der ImpressionistInnen gar nicht richtig beschrieben zu haben, weil er nur kunstinterne Entwicklungen berücksichtigt habe. Es gelte aber, sie – und das lässt sich auf ähnliche Entwicklungen übertragen – viel allgemeiner als „eine ‚formale‘ Reaktion auf die veränderte visuelle, diskursive und gesellschaftliche Ordnung der Moderne“ zu fassen.