Heft 2/2015 - Netzteil


Sichtbarmachen, Verdunkeln, Materialisieren

Für eine Ästhetik der Störung

Yvonne Volkart


Kürzlich jurierte das HeK, Haus der elektronischen Künste Basel, ein Kunst-am-Bau-Projekt. Das Projekt der !Mediengruppe Bitnik sieht eine Intervention vor, bei der das Haus in eine „verglitchte“ Fotografie – das heißt ein durch einen Kompressionsfehler verzerrtes Abbild – verwandelt würde. Die Idee bestach, bringt sie doch unsere postdigitale Verfassung auf den Punkt: Alles ist digital, sogar dann, wenn es aus Beton ist. Alles ist immer schon Abbild, Kopie, Reproduktion, sogar dann, wenn es vorgängig gebaute Architektur ist. Und: Alles ist von Fehlern, Störungen, Rauschen heimgesucht, sogar dann, wenn es neu ist. Kurzum, das Projekt meißelt unsere zeitgenössische Wahrnehmung von „digitalem Trash“ in Stein: Denn trotz neuester Consumertechnologie und schnellen Bandbreiten sind wir umgeben von schlecht aufgelösten oder verwackelten Bildern, sichtbaren Pixeln und falschen Farben, ausgefransten Körpern oder platten Gesichtern.
Nie hätte man sich in den 1990er-Jahren die Zukunft der digitalen Bilder so „trashig“ vorgestellt. Irgendwie schien damals klar, dass perfekte Oberflächen perfekt aussehende Bilder generierten. Im Gegenzug dazu hat sich in jener Zeit die Meinung herausgebildet, dass man das Dysfunktionale und Verborgene an die Oberfläche holen muss, um die dahinterliegenden technischen und ideologischen Mechanismen enthüllen zu können. Über zehn Jahre lang, von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre, in den Zeiten der Netz-, Software- oder Codekunst, war es eine verbreitete Ansicht, dass der Fehler nicht nur eine eigene Ästhetik, sondern auch subversive Kraft hat. Hinter die glatten Oberflächen von Software zu blicken und den Sourcecode, eine Error-Meldung oder generative Eigenschaften zu zeigen, konnte – je nach Interessenlage der RezipientInnen – als neue Ästhetik, reiner Formalismus oder Subversion interpretiert werden. Auch der seit 2000 von der elektronischen Musik herrührende, ein paar Jahre später für die visuelle Kunst adaptierte Glitch-Diskurs dreht sich immer noch stark um diese Fragestellungen.

In Anbetracht der Allgegenwärtigkeit des Fehlerhaften stellt sich die Frage, ob man mit dem Sichtbarmachen des Fehlers und der Konzentration auf die Störung wirklich noch zeitgemäß handelt. Klar hat sich die Tendenz verschärft, dass wir in noch viel stärkerem Maß als vor 20 Jahren auf digitale Gegebenheiten vertrauen, die störanfällig und manipulierbar sind. Aber ist deswegen die ästhetische Konzentration auf die Störung auch schon kritisch? Auffällig ist, dass die !Mediengruppe Bitnik just, als Glitch mehr und mehr als formalistisches Beharren auf dem Fehler interpretierbar wurde, für dessen kritische Kraft votierte. So oder so ist Glitch zu einer Art Norm geworden: Während Bildstörungen im Alltag zugunsten des Fantasmas des perfekten Bilds gerne „übersehen“ werden, ist Glitch als grafische Methode zur Erzeugung von Low-fi-Ästhetik äußerst beliebt.
Verstörender ist Glitch, wenn er aus der glatten Oberfläche des elektronischen Bilds ausbricht, so bei Phillipp Stearns, der Teppichmuster damit knüpft, oder eben in der Glitch-Architektur der !Mediengruppe Bitnik. Dabei geht es weniger um die Materialisierung von immateriellem Code, wie das im Diskurs über das Postdigitale gerne diskutiert wird – eine materialzentrierte Argumentation übrigens, welche die „verstörenden“ Implikationen von Medienkunst aufhebt, noch bevor diese überhaupt Fuß im „konventionellen“ Kunstdiskurs gefasst hat. Vielmehr sind es Ausbrüche, die auch Einbrüche sind – von AmateurInnen in den Diskurs der Architektur. Man könnte auch von einem „Hack“ sprechen, und zwar in gebaute Substanz – wenn wir unter Hacking, wie das zunehmend der Fall ist, einen (digital inspirierten) Eingriff in ein System auch jenseits des Digitalen verstehen. Ein Hack allerdings, der in diesem Fall nur die Oberfläche und nicht die Institution selbst transformiert.
Auch das Projekt Random Darknet Shopper (2014) der !Mediengruppe Bitnik anlässlich der von ihnen kokuratierten Ausstellung The Darknet – From Memes to Onionland. An Exploration in der Kunsthalle St. Gallen war eher ein Einbruch oder Hack in eine „Parallelmaschine“ bzw. die Spurensicherung deren besonders guter Performance denn deren Störung. Bitnik kreierten einen Einkaufsroboter, der wöchentlich im Darknet – jener nur über den Browser Tor zugänglichen Netzunterwelt – nach dem Zufallsprinzip im Wert von 100 US-Dollar einkauft. Die gekauften Artikel ließen sie in die Kunsthalle St. Gallen schicken und stellten sie dort in seriell an der Wand montierten Schaukästen aus. Der Erwerb von Ecstasy führte wenige Tage vor dem offiziellen Ausstellungsende zu deren polizeilich forcierter Schließung. Also doch: Störung, Kollision der Systeme. Obwohl das Darknet von Bitnik als rechtsfreier Raum eingeführt wird, der ansatzweise an die euphorischen Anfänge des Internets erinnert, bleibt die vorgeführte Tätigkeit der ernüchternde Akt simplen Konsumierens.

Doch Ernüchterungen bilden die Grundlagen heutigen Schaffens. „Afterglow“ (Nachglühen) lautet das Motto der transmediale 2014, dieses Jahr hingegen kümmerte man sich um das Datensammeln – „Capture All“. In der Ausstellung war eine breite Mischung von Arbeiten versammelt, überzeugend war das Projekt Networked Optimization von Sebastian Schmieg und Silvio Lorusso, weil es im Gegensatz zu anderen gezeigten Projekten tatsächlich auch Beispiele von Data Mining verhandelte. Ausgestellt waren drei Selbsthilfebücher, deren Inhalt auf wenige lesbare Sätze reduziert war, der Rest war unleserlich, weißer Text auf weißem Papier. Die lesbaren Sätze waren die Resultate der populärsten Highlights, die Kindle-UserInnen beim Lesen markierten, den Sätzen beigefügte Ziffern hielten die genaue Anzahl fest. Diese Arbeit brachte buchstäblich die unsichtbare Optimierungsarbeit, die markierende LeserInnen für Kindle leisten, an die Oberfläche und wies mit der Störung des gedruckten Inhalts darauf hin, dass im Hintergrund etwas nicht stimmt. Und wer weiß, ob überhaupt diese Sätze angestrichen wurden und nicht andere? Sichtbarmachen und stören, auch hier bewies diese Strategie ihre Gültigkeit.
Weniger Thema der Ausstellung als vielmehr eines Workshops von Daniel C. Howe und Mushon Zer-Aviv war die Methode des Datenverdunkelns („Data Obfuscating“1 oder „Data Undermining“). In „AdNauseam“, einer Browser Erweiterung, werden der Suche nutzlose Daten hinzugefügt, um den reibungslosen (Auswertungs-)Verkehr zu verstopfen. Diese Strategie des Noise-Erzeugens ließe sich, so Howe, auch im nicht digitalen Bereich anwenden, etwa mit dem Tactial Kit Invisible von Heather Dewey-Haborg. Die Spur der eigenen DNA kann hier mittels eines Sprays zum Verschwinden gebracht und durch eine andere, irreführende ersetzt werden.
Die spannendsten Arbeiten heute sind die, bei denen mittels interventionistischer Eingriffe unmittelbar „Realität geschieht“, bei denen manipulative Vorgänge ans Licht geholt oder auswertbare Handlungen verdunkelt werden. Kurzum, bei denen der reibungslose Ablauf „gestört“ wird. Grundsätzlich sind künstlerische Projekte, die das Data Mining nachverfolgen oder stören, noch rar, hier würde man sich für die Zukunft mehr Engagement wünschen. Während sich die NetzkünstlerInnen vor 20 Jahren auf den virtuellen Raum konzentrierten und sich kaum auf herkömmliche Kunstdiskurse bezogen, spielen heutige KünstlerInnen nicht nur mit den Überlappungen von Realraum, virtuellem Raum und Kunstraum, sondern setzen auch auf die Ebene der Symbolpolitik. Ein Beispiel dafür sind Aram Bartholls Workshops, in denen man eine Tasche basteln kann, die den Handyempfang bzw. die Ortungsmöglichkeit des Geräts auch in ausgeschaltetem Zustand verunmöglicht. Was technisch ein simpler Faraday’scher Käfig ist, wird zu einer symbolischen Handlung, die sich nicht schämt, ihre Hilflosigkeit durchzuarbeiten – und gerade darin, im Thematisieren ihrer Überforderung bei gleichzeitigem Weiterkämpfen, Stärke zeigt.

 

 

1 Daniel C. Howe, Surveillance Countermeasures: Expressive Privacy via Obfuscation; www.aprja.net/?p=2510.