Heft 4/2015 - Kiev, Moscow and Beyond


„Alles ist PR“

Wie der Autor Peter Pomerantsev das neue Russland porträtiert

Marci Shore


Am Anfang von Peter Pomerantsevs Nothing Is True and Everything Is Possible: The Surreal Heart of the New Russia1 steht Oliona, eine 22-jährige „Goldgräberin“ mit einem perfekten Körper. Im Alter von 20 Jahren riss Oliona von zu Hause aus und verließ den Donbass, eine Bergbauregion im Osten der Ukraine, die derzeit Schauplatz des Kriegs zwischen separatistischen, von Russland unterstützten Kräften und dem ukrainischen Staat ist. Bevor es ihr gelang, einen „Forbes“ – einen Milliardär auf der Suche nach einer Geliebten – zu finden, arbeitete sie als Stripperin in einem Moskauer Kasino. Jetzt lebt sie in einem nagelneuen Apartment und erfreut sich an einem Auto, 4.000 US-Dollar im Monat, Urlaub im Nahen Osten und einem kleinen Hund – „das Grundeinkommen einer Geliebten in Moskau“. Momentan läuft alles gut: Sie frequentiert die teuersten Sushi-Bars und die exklusivsten Nachtklubs. Sie kichert viel, trägt Glitzerkleidchen und hat ein paar Zeilen aus Puschkins Eugen Onegin auswendig gelernt, um einen literaturbegeisterten „Forbes“ zu beeindrucken. Allerdings gehört ihr weder das Apartment noch sonst irgendetwas. Und ihr Verfallsdatum ist bald erreicht, denn sie muss mit Tausenden von 18-Jährigen konkurrieren, die ebenfalls auf Stilettos turnen können.
Oliona ist keine Prostituierte. Für sie macht das einen gewaltigen Unterschied: Sie hat keinen Zuhälter. Sie wählt ihre Milliardäre selbst aus. Dinara, die zur gleichen Generation gehört wie Oliona und ebenso sympathisch und sogar fröhlich ist, arbeitet unter weit weniger glamourösen Bedingungen. Sie ist in der russischen Republik Dagestan östlich von Tschetschenien aufgewachsen. Jetzt verbringt sie ihre Abende in einer schummrigen Bahnhofskneipe. Sie lässt sich von Peter Pomerantsev Whisky-Cola und Pizza spendieren – aber ohne Salami, denn sie ist Muslimin. Ihre Schwester hat sich von wahhabitischen Predigern aus Saudi-Arabien betören lassen, trägt jetzt ein Kopftuch und denkt ernsthaft darüber nach, eine schwarze Witwe – Selbstmordattentäterin – zu werden. „Zwei Schwestern. Die eine Prostituierte. Die andere im Dschihad“, fasst Pomerantsev zusammen.
Pomerantsev, ein in Kiew geborener britischer Fernsehproduzent Mitte 30, hat zehn Jahre lang im postsowjetischen Moskau gearbeitet. Nothing Is True and Everything Is Possible ist ein Porträt des surrealen neuen Russlands unter Putin, einer anders gearteten Realität, in der sich weitere anders geartete Realitäten überschneiden. Der Autor, russischer Muttersprachler mit einem etwas seltsamen Akzent, verbringt viel Zeit mit Prostituierten, Kriminellen, emotional labilen Supermodels, FernsehjournalistInnen und „PolittechnologInnen“. Er hakt nach, ist neugierig, voyeuristisch – so, wie ein guter Journalist sein sollte. Und doch bleibt er ein zutiefst anständiger Mensch, der nie aus den Augen verliert, dass er es hier mit Menschen zu tun hat: „[Dinara] war gern Prostituierte – zumindest machte es ihr nichts aus. Aber was war mit Allah? Er hasste die Hurerei. Sie spürte seine Missbilligung. Konnte nachts deswegen nicht schlafen. Ich sagte ihr, dass Allah die Dinge bestimmt ganz nüchtern betrachtete.“ In seiner Ironie liegt eine menschliche Empathie, von der er sich nicht wirklich freimachen kann, auch nicht unter ungünstigen Umständen.
„Wolltest du schon immer Gangster werden?“ fragt Pomerantsev Vitaly. Sie filmen gerade ein Interview. Vitaly trägt, wie zu erwarten, einen sorgfältig gebügelten Designer-Jogginganzug. Seine „Alma Mater“ ist das Gefängnis. Er trinkt Cappuccino und überlegt, Filmemacher zu werden, nachdem er Titanic mit Leonardo DiCaprio gesehen hat. „Wie viele haben Sie getötet?“, fragt Pomerantsev. „Ich kann nur über dieses eine Mal sprechen. Das war die Rache für meinen Bruder“, antwortet Vitaly fast schon entschuldigend. Ein Gangster, so erfahren wir, kann liebenswert, ja auf seine Weise sogar sensibel sein.
Olionas erster Freund – der Einzige, den sie je geliebt hat – war ein Gangster aus ihrer Heimatstadt im Donbass. Eines Tages wurde sie von zwei rivalisierenden Gangstern gekidnappt. Sie brachten sie zurück in ihre nach Wodka und eingelegtem Fisch riechende, mit einer Sowjetflagge und diversen Hanteln dekorierte Wohnung, wo sie sie an einem Stuhl festbanden und mehrfach vergewaltigten. „Passiert vielen Mädchen. Keine große Sache“, meint sie zu Pomerantsev.
„Muss ich überhaupt erwähnen, dass Oliona ohne Vater aufgewachsen ist?“, schreibt Pomerantsev. „Genau wie Lena, Natascha und alle anderen Golddigger, die ich kennengelernt habe. Alle vaterlos. Eine Generation von verwaisten Mädchen in High Heels, alle ebenso sehr auf der Suche nach einem Daddy wie nach einem Sugardaddy.“ Der ultimative Sugar-Daddy in dieser Geschichte ist natürlich Wladimir Wladimirowitsch Putin: „Stripperinnen rekeln sich um Stangen und singen ‚Ich will dich: Premierminister! ‘ … Das Ambiente auf der ‚Putin-Party‘ ist eine Mischung aus feudaler Pose und augenzwinkernder, postmoderner Ironie: Die Einschmeichlerei bei dem großen Herrn ist absolut echt, aber da wir ja freie Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sind, denen Filme der Coen-Brüder gefallen, würzen wir unser Einschmeicheln mit einem ironischen Grinsen, obwohl wir uns der Tatsache bewusst sind, dass wir sehr schnell tot wären, sollten wir ihm je in die Quere kommen.“
Nicht nur die Moral, auch die Realität selbst ist hier doppelbödig: Pomerantsev beschreibt Russland als „fragile Reality Show“, die von den PolittechnologInnen choreografiert wird. Die Massenmedien spielen dabei eine verwirrende Rolle – ebenso wie die Folgen des neuen Gelds und das irritierende Nebeneinander von Prä- und Postmoderne: OligarchInnen und Bauernvolk, glamouröse Tanzklubs und modrige sowjetische Gefängniszellen, Warlords, die Twitter nutzen.
Das altmodische Wort „Propaganda“ geht auf Sowjetzeiten zurück. Das neue Russland hingegen macht „PR“. Der Spruch „Alles ist PR“ ist zum Leitmotiv Moskaus geworden. Der staatlich finanzierte Fernsehsender Russia Today (RT) präsentiert „eine russische Sichtweise“. Viele, die bei Fernsehsendern wie RT arbeiten, sind selbst, „subjektiv gesehen“, liberal. Und doch lassen sie sich leicht dazu bringen, die richtigen Fragen zu stellen, wie zum Beispiel: „Warum gibt es so wenig Opposition gegen Sie, Herr Präsident?“ Sie führen an, dass Russland schließlich auch eine eigene Sichtweise haben dürfe. Alles verkommt zu einer Frage der Perspektive, das Ganze artikuliert in einer Sprache, die dem Konzernkapitalismus entlehnt wurde: Putin ist der „Präsident der ‚Stabilität‘“. („Das Wort ‚Stabilität‘, schreibt Pomerantsev, „wiederholt sich ständig in Myriaden von scheinbar belanglosen Kontexten, bis es klingt und hallt wie eine große Glocke und für alles zu stehen scheint, was gut ist.“) Stalin war ein „effektiver Manager“. Putin ist „der ‚effektivste Manager‘ von allen“. AusländerInnen und andere wohlmeinende Leute, die für RT arbeiten, rechtfertigen ihr Tun mit dem Argument, dass es so etwas wie eine „objektive Berichterstattung“ nicht gebe. Außerdem werden sie gut bezahlt. „In dieser Welt ist jeder käuflich“, schreibt Pomerantsev, „selbst die ‚liberalsten‘ Journalisten.“
Nothing Is True ist voller Sex, Gewalt und Discomusik. Meine Studierenden in Yale haben es geliebt; einige von ihnen haben es in einem Rutsch gelesen. Es gibt darin pinkfarbene Stöckelschuhe, Privathubschrauber und fantastische Mittsommernachtstraumpartys mit TrapezkünstlerInnen und als Meerjungfrauen verkleideten Synchronschwimmerinnen. Des Weiteren kommen vor: ein Siebenjähriger, der über 100 Kilo wiegt, ein Supermodel, das aus seiner Wohnung im 9. Stock in den Tod sprang, und Hotdog-Stände, die die Schaulustigen vor einem Moskauer Theater verköstigten, als tschetschenische TerroristInnen alle darin Anwesenden als Geiseln genommen hatten.
Pomerantsev erzählt auch die Geschichte von Yana, einer weiteren verführerischen jungen Frau mit einer beneidenswerten Garderobe und einem privaten Fitnesstrainer. Yana, die ein florierendes Geschäft mit industriellen Reinigungsprodukten betreibt, wird unerklärlicherweise festgenommen. Sie erfährt, dass der Hauptbestandteil ihrer Reinigungsprodukte – für deren Verkauf sie eine Lizenz hat – ganz plötzlich, ohne Vorwarnung oder Erklärung, gesetzlich verboten ist. Sie wird ins Gefängnis gesteckt; ihr Liebhaber Alexey verlässt sie. Die Verhöre lassen sie langsam wahnsinnig werden: „Schwarz ist weiß, und Weiß ist schwarz. Es gibt keine Realität. Realität ist nur das, was sie sagen.“ Yana möchte nur noch schreien.
In ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik aus dem Jahr 1964 setzt sich Hannah Arendt erneut mit dem Verhältnis totalitärer Regime zur Wahrheit auseinander.2 Dabei geht es, wie Arendt erläutert, nicht um geometrische Prinzipien oder Kants kategorischen Imperativ, sondern um die „faktische Wahrheit“ – empirische und zwangsläufig bedingte Fakten, wie beispielsweise die Wahrheit, dass Deutschland 1914 in Belgien einmarschierte. Es ist diese zweite Art von Wahrheit, lässt Arendt uns wissen, die von modernen totalitären Regimes missbraucht wird – entweder durch schlichtes Leugnen oder durch „Verwischen der Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen“. Bei den LügnerInnen handelt es sich um AktivistInnen, die die Welt verändern wollen und häufig auch Erfolg damit haben. Arendt schreibt: „Nun würde zwar zweifellos erheblich mehr als die Einfälle von Historikern vonnöten sein, um Tatsachen, wie daß deutsche Truppen in der Nacht des 4. August 1914 die belgische Grenze überschritten, zu vernichten; dazu bedürfte es eines Machtmonopols über die gesamte zivilisierte Welt.“ Sie fügt hinzu: Aber unmöglich oder undenkbar ist ein solches Machtmonopol keineswegs […].“
Es ist unheimlich, Arendts Essay nach Putins Krim-Rede im März 2014 noch einmal zu lesen. Nach dem Sieg der Volksrevolution auf dem Kiewer Maidan Ende Februar 2014 begann eine nicht verkündete russische Invasion der Ukraine. Auf der Krim-Halbinsel tauchten sogenannte „kleine grüne Männer“ mit schwarzen Masken und nicht gekennzeichneter Tarnkleidung auf, die sich nicht als russische Streitkräfte zu erkennen gaben. Innerhalb weniger Tage gaben ein zweifelhaftes Referendum und die Annektierung der Krim Putin Anlass zu seiner hypnotisierenden Rede am 18. März 2014. Darin hieß es:
„Am 16. März wurde auf der Krim ein Referendum abgehalten, das in völliger Übereinstimmung mit demokratischen Prozeduren und internationalen Rechtsnormen war. An der Abstimmung nahmen über 82% der Wahlberechtigten teil, über 96% haben sich für eine Wiedervereinigung mit Russland ausgesprochen […] Im Herzen und im Bewusstsein der Menschen war und bleibt die Krim ein untrennbarer Teil Russlands. Diese Überzeugung, die vor allem auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit basiert, wurde von Generation zu Generation übertragen.“3 Anschließend schwenkte die RT-Kamera von Putin zu den Gesichtern im Publikum: zustimmende, strahlende Augen voller Freudentränen.
In Wahrheit und Politik beschreibt Arendt traditionelle Lügen als „Loch“, das in einen bestimmten Zusammenhang gerissen wird; der sorgfältige Beobachter kann die Stelle erkennen, an der sich die „Lücke“ befindet. Der Totalitarismus hingegen hat etwas Neues mit sich gebracht: Die „moderne politische Lüge“ beinhaltet die Schaffung einer nahtlosen neuen Realität, ohne dass sich irgendwelche Löcher erkennen lassen.
Einer der besten Filme, die je über den Stalinismus gedreht wurden, ist der Film Verhör einer Frau aus dem Jahr 1982,4 der sich nahezu ausschließlich in einer stalinistischen Gefängniszelle abspielt. Krystyna Janda spielt darin Tonia, eine leichtlebige junge Nachtklubsängerin im Nachkriegspolen, voller Lebensfreude und zugleich Verzweiflung angesichts der vermuteten Untreue ihres Ehemanns. Als sie unter der fingierten Anschuldigung, Volksfeinde Polens unterstützt zu haben, festgenommen wird, setzt die Sicherheitspolizei bei ihrem Verhör alles daran, ein Geständnis zu erzwingen. Ein gewisser Olcha, von dem die Sicherheitspolizei behauptet, er sei ihr Liebhaber, wurde der Spionage beschuldigt. Tonia ist bestürzt, durcheinander, wütend. Die Verhöre gehen weiter, die Geschichte nimmt immer größere Dimensionen an: Tonia leistet Widerstand, streitet alles ab, ändert Einzelheiten an ihrer Geschichte und fügt sich nach und nach immer mehr in die Version, die von der Sicherheitspolizei erzählt wird, ohne diese jedoch je ganz zu übernehmen.
Der Film liefert nicht nur ein anschauliches Beispiel für das Leben im Stalinismus, sondern auch eine philosophische Haltung: Verwirrung kann epistemologischer Natur (Verwirrung in Bezug auf das Wissen), aber nie ontologischer Natur (Verwirrung in Bezug auf das Sein) sein. Ein stalinistisches Gefängnis ist ein Ort der Fiktion und Manipulation. Nie erfahren wir die wahre Geschichte: wer – wenn überhaupt – wirklich gegen das Regime vorgegangen ist, welche Männer Tonias Liebhaber waren, wer Olcha war und was er wirklich getan hat. Allerdings sind wir uns sicher, dass es eine wahre Geschichte gibt. Wir erfahren nie, wie diese aussieht, aber es gibt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass diese objektiv existiert, dass es einen Unterschied gibt zwischen Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion, dass es so etwas wie Realität wirklich gibt.
Verhör einer Frau spiegelt die Haltung der Moderne wider: Gott mag tot sein, das heißt jedoch nicht, dass die Wahrheit es auch ist, auch nicht in einem totalitären Regime. Dies gilt allerdings nicht für das surreale neue Russland, wie Pomerantsev erklärt. „Wenn der Präsident die Krim annektiert oder seinen neuen Krieg mit dem Westen vom Zaun bricht“, schreibt er, „wird RT ganz vorne mit dabei sein und alarmierende Geschichten erfinden, in denen Faschisten in der Ukraine die Macht übernehmen.“ Dieser neue Krieg, den Putin mit dem Westen begonnen hat, wird im Donbass ausgetragen, wo Oliona aufgewachsen ist. Bis zum heutigen Tag ist unklar, was dort passiert. Wer ist Kreml-Agent? Wer Söldner? Wer wurde mit ein bisschen Geld dazu gebracht, seinen bereits vorhandenen Neigungen nachzugeben? Wer verhält sich authentisch? Wer hat als bezahlter Provokateur begonnen und jetzt das Drehbuch aus den Augen verloren? Wer weiß nicht mehr, wer er selbst überhaupt ist?
„Ich glaube, die Politik der Provokation hat im Osten zu einer Krise der Subjektivität geführt“, sagte ich zu einem ukrainischen Freund, als wir uns im Mai 2014 in Kiew trafen. „Ja“, meinte er darauf ironisch, „wir sind äußerst postmodern.“
Kateryna Iakovlenko gehört zu den jungen OrganisatorInnen von Izolyatsia, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst in der Stadt Donezk im Donbass. Das Zentrum wurde von Angehörigen der „Volksmiliz“ der „Volksrepublik Donezk“ beschlagnahmt und in ein Gefängnis umfunktioniert. Einige der unbekannten „kleinen grünen Männer“, die nach Donezk gekommen sind, stammten aus Tschetschenien, sprachen nicht gut Russisch und konnten nicht verstehen, warum aus den Geldautomaten keine russischen Rubel kamen, sondern ukrainische Währung. Einmal organisierten die auf Separatistenseite kämpfenden Tschetschenen eine Versammlung auf dem Lenin-Platz. Eine ältere Einheimische, die an diesem Treffen teilnahm, verpasste einem von ihnen eine orthodoxe Taufe, um ihm zum Sieg gegen die ukrainischen Nazis zu verhelfen. Der Maler Max Ernst hat die surrealistische Collage als Zusammentreffen von „zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene“ beschrieben. Für Iakovlenko stellte diese Szene eine makabre surrealistische Collage dar: Eine orthodoxe Christin tauft auf einem kommunistischen Platz einen muslimischen Söldner, der Phantomnazis töten will.
Das ist es auch, was Pomerantsev uns vermitteln will: Das gegenwärtige Russland unter Putin hat nicht nur ein Problem mit dem Wissen um die Wahrheit, sondern auch mit der Existenz der Wahrheit an sich. „Das große russische Drama“, schreibt Pomerantsev, „liegt nicht im Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus […] sondern darin, dass in den letzten Jahrzehnten der UdSSR niemand mehr an den Kommunismus glaubte, aber alle so taten als ob, und daher heute nur eine Simulation von Gesellschaft erschaffen können.“
In seinem Aufsatz Von der Macht der Ohnmächtigen von 1978 beschreibt Václav Havel einen gewöhnlichen Obst- und Gemüsehändler, der jeden Tag ein Schild mit der Aufschrift „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ in sein Ladenfenster stellt.5 Natürlich glaubt der Gemüsehändler nicht an die Botschaft des Schilds, ebenso wenig die Vorbeigehenden oder gar das Regime. Dennoch tut jeder so, als ob; sie leben, als ob sie an den Kommunismus glauben würden. Das Paradigma des „als ob“ – die vorgetäuschte Bewunderung für des Kaisers neue Kleider – stellte lange Zeit den herrschenden Modus für das Verständnis der Spätphase des Kommunismus in Osteuropa wie der Sowjetunion dar.
Vor einigen Jahren stellte der Anthropologe Alexei Yurchak in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation aus dem Jahr 2005 dieses Paradigma infrage.6 Für Yurchak ist das „als ob“ zu binär; es impliziere fälschlicherweise eine stabile, aber nicht genauer artikulierte Klarheit. Yurchak beharrt demgegenüber auf dem nicht fest umrissenen Raum zwischen Abweichung und Konformität, Echtheit und Unechtheit, Macht und Widerstand. Genauso sieht die Postmoderne aus: wenn wir aufgeben, Gott ersetzen zu wollen, und akzeptieren, dass es nichts gibt, um die Stabilität des Selbst, der Welt, der Wahrheit zu garantieren. Pomerantsevs anekdotische Erkenntnisse bringen uns genau an diesen Punkt: Es lässt sich nicht so einfach erkennen, was die Leute „wirklich“ glauben, wo die Grenze liegt zwischen Leichtgläubigkeit und aufgeklärtem Zynismus. Alles ist fließend.
„Es ist, als könnten sie die Wirklichkeit bestimmen“, sagt Yana, die Geschäftsfrau, über ihre Inhaftierung und Befragung im neuen Russland, „als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Arendt sprach ebenfalls von der Bodenlosigkeit: „Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.“ Pomerantsev porträtiert Putins Russland als eine Art Kollektiv, das die Wahrheit aufgibt – und als Versuch, es leicht zu nehmen. „Und dann wird einem klar“, so Pomerantsev, nachdem er Oliona zu einem Nachtklub für Superreiche begleitet hat, „wie ähnlich sich die ‚Forbes‘ und die Mädchen in Wirklichkeit sind.“
„Sie haben sich alle aus der alten Sowjetwelt herausgestrampelt. Der Öl-Geysir hat sie in verschiedene finanzielle Universen gespien, aber sie verstehen einander noch immer vollkommen. Und ihre lieben, einfachen Blicke scheinen zu sagen, wie lustig diese ganze Maskerade doch ist, dass wir gestern noch alle in Gemeinschaftswohnungen lebten und Sowjethymnen sangen und Levi’s und Milchpulver für Luxusartikel hielten und jetzt umringt sind von Nobelkarossen und Privatjets und süßem Prosecco. Und obwohl viele Westler ständig behaupten, die Russen seien geldbesessen, liegen sie meiner Meinung nach falsch: Das Geld ist so schnell über Russland gekommen wie der Glimmer in einer geschüttelten Schneekugel, und deshalb fühlt es sich total unwirklich an, wie etwas, das man nicht hortet und spart, sondern in dem man Pirouetten dreht und tanzt, wie die Federn bei einer Kissenschlacht, wie Pappmaschee, aus dem man unterschiedliche, sich rasch verändernde Masken formen kann.“
Pomerantsevs durchgehend leichter Tonfall trügt, denn zwischen den Zeilen ist er todernst. Nothing Is True ist der derzeit wohl philosophisch scharfsichtigste Versuch, Putins Russland zu verstehen. Auf einer Konferenz habe ich kürzlich mit einer russischen Kollegin gesprochen. Sie sagte, sie fühle sich in Moskau wie in einem Road-Runner-Cartoon; man kommt sich vor wie Wile E. Coyote, der einfach weiterrennt, obwohl die Brücke unter ihm längst verschwunden ist.

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

[1] Peter Pomerantsev, Nothing Is True and Everything Is Possible: The Surreal Heart of the New Russia. New York: PublicAffairs 2014. Die deutschsprachige Ausgabe Nichts ist wahr und alles ist möglich: Abenteuer in Putins Russland, übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, ist 2015 in der Deutschen Verlags-Anstalt, München erschienen.
[2] Vgl. Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: Johann Schlemmer (Hg.), Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker. München 1964, S. 160–176.
[3] Zitiert nach http://derunbequeme.blogspot.co.at/2014/03/putins-rede-zur-krim-im-wortlaut.html.
[4] Przesluchanie, Regie: Ryszard Bugajski, Polen 1982.
[5] Vgl. Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen. Reinbek 1978.
[6] Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation. Princeton 2005.