Heft 4/2015 - Lektüre
Dieser visuell sehr ansprechende Band dokumentiert das Projekt un/verblümt, für das sich die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und die Hochschule für Künste Bremen zwischen 2011 und 2013 zusammengefunden haben. In Ringvorlesungen, künstlerisch-praktischen Workshops und einer Ausstellung wurde dabei nicht nur der Aufforderung gefolgt, unterschiedliche Zugänge und Auseinandersetzungen mit Fragen queerer Politik, Ästhetik und Theorie aufzuzeigen, sondern auch – so die HerausgeberInnen Josch Hoenes und Barbara Paul in ihrer Einleitung – queere Politiken zu ermöglichen. Hoenes und Paul erläutern in ihrem in klarer Sprache gehaltenen Beitrag, dass sie den titelgebenden Ausdruck „un/verblümt“ als Metapher verstanden wissen wollen, die „die Formationen des Sich-Versteckens und Zeigens von Geschlecht, Sexualität und Begehren als ästhetische und theoretische Politiken zu fassen versucht“. Ferner skizzieren sie kurz und bündig die Begriffsgeschichte von „queer“ und definieren queere künstlerische und wissenschaftliche Positionen als Kritik an heteronormativen Ordnungen, die „Widerständiges zu formulieren“ vermag.
Wer nun eine Reihe klassischer Beiträge aus den einschlägigen Fachrichtungen erwartet, in denen künstlerische und theoretische Positionen daraufhin untersucht werden, wie es sich darin mit dem Zugang zu und Umgang mit queeren Lebens- und Begehrensformen verhält, der/die sei vorgewarnt: Der Band schießt absichtlich queer (sic!). Lediglich die Ausführungen von Jonathan D. Katz zu Homoerotik in der US-amerikanischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, die Darlegungen von Renate Lorenz zu unterschiedlichen Formen von Drag in der Kunst (analysiert entlang der Konzepte der im gesamten Band sehr präsenten Judith Butler sowie des Texts Queer Theatre von Stefan Brecht, Sohn von Bertolt Brecht) wie auch die Erklärungen von Johanna Schaffer zu künstlerischen Weiterverarbeitungen der berühmt-berüchtigten Fotografie der etwa zehnjährigen, nackten Brooke Shields, bieten die üblichen (deswegen nicht weniger lesenswerten) Kunstwerkanalysen.
Die übrigen Beiträge, zwischen die sich Abbildungen der Abschlussausstellung schieben, sind eine Art Melange zum gesetzten Thema. Auffallend sind die Texte von Mathias Danbolt und Skadi Loist, die sich unabhängig voneinander und doch beide als Plädoyer für ein Denken und Handeln entpuppen, das gleichzeitig Kritik an Heteronormativität und Rassismus üben soll, statt davon auszugehen, man müsse zunächst das eine erledigen, bevor man sich an das andere machen kann. Danbolt setzt sich mit diesem Punkt auseinander, indem er queere Politiken des Gleichzeitigen (queer politics of simultaneity) zu beschreiben sucht, die „gegen allzu geradlinige/straighte Denkweisen“ angehen. Loist berichtet von der Programmgestaltung von LGBT/Q-Filmfestivals, bei denen aus nachvollziehbaren, aber dennoch infrage zu stellenden Gründen zunehmend auf eine Diversifizierung der Programme gesetzt wird – neben Filmreihen von, für und über schwule, weiße Männer, gibt es nun extra Filmreihen von, für und über Lesben, Bisexuelle, Trans*personen, Queers of Color usw. Loist kritisiert diese Programmstrategie als „separatistisch“ und fordert, die Programme – erst recht im Sinne queerer Politiken – zu mischen.
Auffallend ist auch der Low-Theory-Beitrag von Jack Halberstam zum Feminismus von Lady Gaga, die hier als queere Performerin verstanden wird und deren Gaga-Feminismus Halberstam dazu inspiriert, ein Gaga-Manifest zu verfassen. Die Forderungen lauten, unter anderem: „Konkurriert nicht, kooperiert!“, „Knüpft Verbindungen“ und „Findet einander“. Halberstam knüpft dabei sowohl an die Occupy-Bewegungen als auch an den Film Fantastic Mr. Fox von Wes Anderson an – kurzum „ist es an der Zeit, gaga zu werden“. Was Danbolt zu Beginn seines Beitrags ankündigt, nämlich eine para-doxe Lesart praktizieren zu wollen, welche die anerkannte wissenschaftliche Praxis umgeht, wird erst hier, im Beitrag von Halberstam, stellenweise eingelöst.
Last not least soll hier der Beitrag von Kadja Grönke erwähnt werden, À la recherche de Mme Alexandre…. Grönke erzählt darin von den Unwägbarkeiten bei der Recherche für einen Artikel über eine gewisse Madame Alexandre, den sie für das Lexikon historischer Instrumentalistinnen verfassen soll, ein Lexikon, das sich mit den Biografien ausübender Musikerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt. Dieser Beitrag macht all die Krimis in Buch, Film und Fernsehen vergessen und sollte allen vorgelegt werden, die nicht verstehen, was an Wissenschaft so spannend ist. Dieser Versuch, das Leben und Wirken der Mme Alexandre zu rekonstruieren und dadurch in Erfahrung zu bringen, wer sie eigentlich überhaupt war (oder auch zu konstruieren, wer sie vielleicht gewesen sein mochte), ist – das sei hier ganz unverblümt gesagt – die beste Detektivgeschichte, die die Rezensentin seit Langem gelesen hat.