Heft 2/2016 - Parallax Views


Der „Osten“ als geopolitische Kategorie

Nataša Ilić and Peter Osborne in Conversation


Wie sind Verweise auf „den Osten“ oder „Osteuropa“ in kunstkritischen Zusammenhängen zu verstehen? Welche Veränderungen haben solche Bezugnahmen in den letzten 20 Jahren erfahren? Und welche kritische Funktion, wenn überhaupt, könnte ein Reden über „den Osten“ heutzutage erfüllen? Mit diesen und ähnlichen Fragen haben sich Nataša Ilić, Mitglied des Kuratorinnenteams What, How & for Whom/WHW, das sich seit 1999 für innovative Ausstellungsformen erprobt, und Peter Osborne, namhafter Philosoph und Autor der 2013 erschienenen theoretischen Abhandlung über zeitgenössische Kunst Anywhere or not at all, in dem folgenden Gespräch auseinandergesetzt. Ihr Dialog führt sie von verschiedenen geopolitischen Überlegungen über eine kritische Einschätzung des Biennale-Kuratierens zu Spekulationen darüber, ob Institutionen wie das MoMA in New York möglicherweise obsolet sind.

Nataša Ilić: „What, how and for whom – anywhere or not at all“ verbindet die Namen zweier Projekte, an denen wir unabhängig voneinander gearbeitet haben. Es klingt auch wie ein gutes Motto, um in Bezug auf Osteuropa kurz innezuhalten und stattdessen über Griechenland zu reden. Es scheint, als habe Griechenland nichts gemein mit Anywhere or not at all, aber meiner Ansicht nach gibt es diesbezüglich doch Überschneidungen. Du legst in deinem Buch sehr gut dar, dass zeitgenössische Kunst postkonzeptuelle Kunst ist und „Zeitgenössischheit“ nichts Gegebenes ist, sondern erst geschaffen werden muss – dass sie fiktional, geopolitisch und transnational ist. Du sprichst zudem über einen Erwartungshorizont, der in Zusammenhang mit dem Fall des Kommunismus steht. Und du sagst, dieses Ereignis sei zeitlich gesehen zwar überraschend gekommen, habe aber den Erwartungshorizont nicht wirklich durchbrochen, sondern wurde umgehend in die kapitalistische Logik eingeschrieben. Wie fügt sich Griechenland in diese apokalyptische Logik ein?

Peter Osborne: Um die Griechenlandfrage zu beantworten, müssen wir mit der Geschichte Osteuropas beginnen. Für mich sind alle regionalen Kategorien, die uns wie geografische Kategorien erscheinen, in der Tat geopolitische Kategorien. Das heißt, ihre Einheit ist historischer und nicht geografischer Natur, was bedeutet, dass Osteuropa geografisch gesehen nicht existiert. Osteuropa existiert als der Schatten der einstigen politischen Einheit des Sowjetblocks, als eine Art Gedächtnis und politische Größe. Griechenland ist in diesem Kontext ein interessantes Beispiel, denn wenn wir glauben, und das tue ich, dass pseudogeografische Kategorien geopolitische Kategorien sind und diese geopolitischen Kategorien im Wesentlichen geopolitische Wirtschaftskategorien darstellen, dann offenbart uns Griechenland, in welchem Ausmaß derzeit eine Art deregulierter Kapitalmarktkapitalismus die regionalen Grenzen neu definiert. Auf kultureller Ebene war es vor einem Jahr für viele noch fast undenkbar, dass Griechenland nicht mehr zu Europa gehören könnte, nicht in dem Sinne, dass es nicht mehr Teil der EU wäre, sondern dass Europa auf geopolitischer Ebene im Grunde einzig von der EU repräsentiert wird. So gesehen ist Griechenland Schock und Offenbarung zugleich, zeigt es doch die politische Determiniertheit derartiger geografischer Kategorien. Problematisch ist dabei der Prozess der wirtschaftlichen Entnationalisierung. Er stellt die Bedingung für eine Transnationalisierung dar, deren Kehrseite fast zwangsläufig eine kulturelle Renationalisierung bildet. Kulturelle Renationalisierung ist die notwendige Folge der wirtschaftlichen Entnationalisierung. Gefährlich wird es, wenn die Leute versuchen, wirtschaftliche Entnationalisierung mit kultureller Renationalisierung zu bekämpfen. Wir alle versammeln uns um die Kultur Griechenlands als unser historisches Erbe und den damit verbundenen Vorstellungen von Europa. Das gilt insbesondere für Deutschland. Keine Kultur ist so griechisch wie die im 18. Jahrhundert aus dem deutschen Hellenismus hervorgegangene. Was wir heute unter europäischer Kultur verstehen, ist eine von den Deutschen geschaffene Fantasievorstellung von Griechenland.

Ilić: Was uns zur Entscheidung der documenta 14 bringt, nach Griechenland zu gehen, die ich für interessant, aber auch gewagt halte, vor allem unter den aktuellen, erschwerten Bedingungen. Natürlich birgt der Umstand, dass hier ein „deutsches“ Ereignis in Athen stattfindet, viele Widersprüche, aber es könnten sich dadurch auch viele Chancen eröffnen. Es gibt keinerlei Vorschriften, wie dabei vorzugehen ist, und ganz offensichtlich besteht auch die Möglichkeit, dass das Ganze scheitert. Trotzdem muss man das jetzt über die Bühne bringen und mit den Konsequenzen leben. Die Konzentration auf die nationale Kultur als mögliche Folge des Verlusts von staatlicher Souveränität, über die du sprichst, hat in meinen Augen viel mit Osteuropa zu tun. In meiner Praxis als Kuratorin war Osteuropa immer eher ein operativer Begriff, ein aus dem Kalten Krieg, aus triumphalen revisionistischen Nachkriegsideen abgeleiteter Terminus. Über Osteuropa nachzudenken, bedeutete immer auch, nach Ähnlichkeiten zu suchen, auf deren Grundlage man Besonderheiten und Unterschiede erkennen kann. Bei diesen Ähnlichkeiten geht es nicht allein um die künstlerische Praxis – nach dem Motto: wie sehr ähnelt die Praxis osteuropäischer KonzeptkünstlerInnen jener von New Yorker KünstlerInnen? Es geht vielmehr um das politische Erbe des Sozialismus und des Kommunismus, deren Zusammenbruch sich nicht nur auf Osteuropa ausgewirkt hat, sondern für ganz Europa und den Rest der Welt ein einschneidendes Ereignis darstellte. Für uns ist Osteuropa ein Terminus technicus, um bestimmte Machtverhältnisse zu- und einzuordnen. Wir von WHW haben immer gedacht, wenn wir ihn ignorieren, würde jemand anderes von dieser Ignoranz profitieren, und darüber sollten wir uns im Klaren sein. Aber ich würde gerne auf deine Idee in Anywhere or not at all zurückkommen, dass zeitgenössische Kunst postkonzeptuell ist. Könntest du das etwas genauer ausführen und dabei überlegen, ob die von dir benutzte Terminologie die Kategorie Osteuropa obsolet und die ganze Debatte darum unnötig macht?

Osborne: Ich denke, wir haben es hier mit unterschiedlichen Analysekategorien zu tun. Die Frage ist, inwiefern es möglich ist, die Geschichte der Nachkriegskunst, vor allem jener nach 1960, unter dem Aspekt einer anderen historischen Kunstontologie zu denken und wie sich diese Ebene mit einem historischen Diskurs verbinden lässt. Die wichtigste Vermittlerrolle nehmen dabei politische und wirtschaftliche Kategorien ein. Gegenwärtig wird die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der kritischen Kunstgeschichte von sehr liberalen DenkerInnen gerne mit einer riesigen Klammer versehen, die von 1917 bis 1989 reicht. Ein beträchtlicher Teil unserer Welt hatte sich in diese Klammer begeben und am Projekt für den Aufbau des Kommunismus beteiligt. Nach dessen Ende ging es darum, in einer Art Umkehrung, alle nationalen Bruchstücke des internationalen kommunistischen Projekts aufzusammeln und wieder in das alte nationale Narrativ zu integrieren, wobei dieses Narrativ vervielfacht wurde. Dieser grundlegende Schritt in Bezug auf Osteuropa ist vergleichbar mit der Vorgehensweise bei der Erweiterung der Geschichte in Latein- und Südamerika und auch in Südostasien – indem man den Kanon erweitert, inklusiver gestaltet, seine Pluralität akzeptiert. Dies sind die fundamentalen Bewegungen einer liberalen Kunstgeschichte. Auf diese Weise wurde versucht, mittels anderer Kategorien auf nicht-kommunistische Inhalte zuzugreifen. In dieser Beziehung macht es keinen Sinn, über globale Prozesse nachzudenken, da die Auseinandersetzung mit dem Sowjetblock auf globalhistorischer Ebene immer im Hinblick auf die sogenannte Zweite Welt erfolgte. Das existierende Ost-West-Narrativ war immer schon problematisch und reicht sehr weit zurück. Das politische Narrativ der Nachkriegszeit dagegen war das der drei Welten. Der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa drückte sich auf begrifflicher Ebene in der Abschaffung der Dritten Welt aus, da plötzlich keine Zweite Welt mehr da war. Alle Vorstellungen davon, was unter den Bedingungen antiimperialistischer Nationalismen und konstruktiver postkolonialistischer Nationalismen als Dritte Welt verstanden werden konnte, verschwanden. Die Leute wussten nicht mehr, wie sie diese neue geopolitische Größe fassen sollten. Die Folge war die Idee des Nordens und des Südens und damit eine konstruktive, aber gänzlich politisch-ideologische Kategorie. Süden bedeutet „so weit unsere Solidarität reicht“. In einer gewissen Staatengruppe gibt es dafür eine klare Definition. Es ist aber auch ein amerikanischer Kontinentalbegriff. Von daher stellt diese Idee eine Metapher dar, die für Afrika überhaupt nicht funktioniert und für Russland auch nicht. Wer im Süden ist, gehört dem Kreis der antikapitalistischen, antiglobalistischen Kategorie von Solidarität an. Deshalb zählt Griechenland nun solidaritätskategorisch betrachtet zum Süden. Gefährlich wird dies, wenn die Leute denken, es stecke mehr Wahrheit dahinter, als eigentlich der Fall ist. Die São Paulo Biennale 2014 hatte gemeinsam mit der Zeitschrift South as a State of Mind den Fokus auf die Idee des Südens gelegt. Was die Ausgabe der Zeitschrift jedoch deutlich macht, ist, wie sehr der Süden die ideologische Projektion einer gewissen europäischen Linken darstellt. Auf einer allgemeineren kategorischen Ebene bedeutet das, dass diese Ebene noch stärker von außen bestimmt wird.
Wenn man als KuratorIn in solchen Kategorien denkt, reproduziert man lediglich das System. Die Frage ist, will man dieses neue Set an räumlichen Trennungen reproduzieren, oder stört und verweigert man es, oder verwendet man es einfach gar nicht? Was mich an der kuratorischen Arbeit für Biennalen stört, ist die Art und Weise, wie ein bestimmter regionalisierter Globalismus KünstlerInnen auf der Ebene ihrer Biografien renationalisiert. Einzelne KünstlerInnen werden dazu verurteilt, ihre Regionen oder Nationen zu repräsentieren oder auch Nationen ohne Staat. Um vertreten zu sein, müssen sie auf diese Art codiert und decodiert werden.

Ilić: Viele Biennalen versuchen die Falle zu umgehen, die du gerade skizziert hast. Ob mit Erfolg, ist fraglich. Biennalen existieren nicht allein durch die Absichten von KünstlerInnen und KuratorInnen. Obgleich sie immer noch einen Ort darstellen, an dem Differenz verhandelt wird – und sich trotz aller Kritik schon eine ganze Weile als nützlich erwiesen haben –, hat sich das Biennale-Modell zugegeben etwas erschöpft. Aber was könnte einen geeigneten Ersatz darstellen?

Osborne: Die Idee, dass sich das Biennale-Modell überlebt hat, wird von einigen wenigen KuratorInnen propagiert, die in der internationalen Kunstwelt unterwegs sind, aber langsam müde werden und nach und nach aussteigen, um für kleinere Veranstaltungsorte tätig zu werden, wo sie Dinge tun können, die sie für interessanter halten. Die globale Kunstgeschichte hat derzeit nur eine einzige Kategorie, die Biennale. Wer wird diese KuratorInnen ersetzen? Leute mit mehr Energie? Historisch gesehen würde man erwarten, dass die Generationenfrage hier mit hineinspielt. Man geht immer davon aus, dass es in der politischen Ökonomie der Kunst um den Kunstmarkt geht, das ist aber nicht der Fall. Die politische Ökonomie der Kunst dreht sich um das Verhältnis derartiger Institutionen zu den internationalen Immobilienmärkten, zu Stadtentwicklung und der Schaffung von Märkten in Staaten, die zuvor keine hatten. Letztere sind viel wichtiger als der Kunstmarkt. Orte, die keine Märkte haben, wollen Märkte und Biennalen. Auch Osteuropa reiht sich ein in die Schauplätze der 100 neuen Biennalen der letzten Jahrzehnte. Diesbezüglich finde ich die Kategorien problematisch, in denen wir im Zusammenhang mit aktuellen kuratorischen Projekten über Kunst nachdenken. Die kritischeren Biennalen und die von ihnen ausgewählten und gezeigten KünstlerInnen waren und sind häufig auf historische Wiederentdeckungen angewiesen. Die Strategie der documenta 12, die osteuropäische Konzeptkunst wiederzuentdecken, wurde zum Paradigma dafür, wie historische Werke den Anspruch der Kunstgeschichte auf Glaubwürdigkeit in entscheidendem Maße unterstützen können. Das wirft Fragen auf: Wie geht man mit diesem Erbe um, wie positioniert man es in einer zeitgenössischen Kunstausstellung, wie sammelt man diese Kunst unter Berücksichtigung ihrer geografischen Integrität?

Ilić: Damit möchte ich den Bogen schlagen zur Kontakt-Kunstsammlung. Obwohl die Idee einer osteuropäischen Kunst immer schon problematisch war und häufig wie eine Art Marke oder Label fungierte, macht es irgendwann Sinn, osteuropäische Kunst zu sammeln. Allein deshalb, weil dadurch der Weg für eine Vielzahl an Forschungsmöglichkeiten geebnet wurde und wird.

Osborne: Diese Werke müssen definitiv gesammelt werden – aber was macht man danach damit?

Ilić: Tja, das ist die Frage. Wie arbeitet man mit einer solchen Sammlung, ohne die vielen Arbeiten, die sich einer festgelegten Form, einem bestimmten Format entziehen, komplett zu mumifizieren? Wie lässt es sich vermeiden, ihnen eine Form aufzuoktroyieren, die ihnen andererseits aber helfen würde, sie auf den Markt zu bringen, sie in etwas Dauerhaftes zu verwandeln, das ewig währt?

Osborne: Genau. Mir kam beispielsweise die Aufnahme von Edward Krasiński in die letzte São Paulo Biennale nicht wie ein kuratorischer Akt vor, der auf dem Gedanken beruhte, man müsse etwas aus Osteuropa zeigen. Es schien mir eher wie die intuitive Idee einer obskuren Verbindung zwischen einer bestimmten Form von konzeptuellem Konstruktivismus, zu finden im Polen der 1960er-Jahre, und einem gewissen lateinamerikanischen Erbe. Hier geht es eher um das Verhältnis zwischen dem Formalismus und seiner konkreten Verortung – die nicht geografisch ist, sondern politisch.

Ilić: Inwiefern politisch?

Osborne: Historisch gesehen ist die Idee nationaler Kulturen eng mit der Idee der Ästhetik verbunden. Die Geschichte dieser beiden Konzepte ist sehr eng verwoben, vor allem was ihren Ursprung in Deutschland betrifft. Ästhetisierung ist ein wesentlicher Teil des reaktiven kulturellen Nationalismus. Historisch gesehen wurde die Konzeptkunst immer mit politischer Kunst assoziiert, allein wegen der Konzeptualität Letzterer und der Zurückweisung jeglicher Ästhetisierung durch Erstere. Die Verwendung ästhetischer Materialien hat in erster Linie strategische Gründe. Auch ist die strategische Instrumentalisierung der ästhetischen Dimension einer Arbeit grundsätzlich politisch. Und doch hat die Konzeptkunst an sich nichts mit linker Politik zu tun.

Ilić: Ich finde ebenfalls, dass Konzeptkunst an sich nicht links ist. Tatsächlich werden Praktiken aus der Konzeptkunst in Osteuropa häufig als kritisch gegenüber diktatorischen Regimen interpretiert und insofern als Gesten einer anerkannten und nicht weiter problematisierten künstlerischen Autonomie. Unsere Aufgabe war es, diese Fragen zu differenzieren und im Rahmen einer breiten linken Unzufriedenheit für uns nutzbar zu machen, sowohl historisch als auch was die Gegenwart betrifft. Unsere Arbeitsweise stammt aus einer bestimmten Zeit im ehemaligen Jugoslawien bzw. in Kroatien, wo Kuratieren und zeitgenössische Kunst nicht von politischen Traditionen oder politischem Aktivismus beeinträchtigt waren. Dort konnte man vor rund 20 Jahren bestimmte politische Forderungen erheben. Was davon übrig ist, begleitet uns in den drei Fragen unseres Namens WHW.

Osborne: Das finde ich gut. Was mir hingegen weniger behagt, sind „überepistemologische“ Vorstellungen von Kunst. Diese sind ein Erbe der semiotischen Schlagseite innerhalb der Kulturalisierung von Kunstgeschichte. Die Idee, dass Kunst Erkenntnis produziert, war eine Reaktion auf die ästhetizistische Idee einer kategorischen Unterscheidung zwischen Kunst und Erkenntnis – und zwar eine korrekte. Natürlich stellt Kunst eine Art Erkenntnis dar. Es ist aber ein Irrtum, sie primär im Sinne von Erkenntnis zu begreifen. Kunst war immer auch, und in erster Linie, eine bestimmte Form von Produktion bzw. in der Moderne, der Produktion des Neuen. So sehr „das Zeitgenössische“ auch ein aktueller zeitlicher Ausdruck von Geschichte sein mag, die Frage nach der Produktion des Neuen bleibt von zentraler Bedeutung und ist immer noch von fundamentaler Bedeutung für jede künstlerische Praxis. Auch für die Avantgarde stellt sich diese Frage – steht das sogenannte „Zeitgenössische“ in einem aktiven Verhältnis zu bestimmten Zukunftsszenarien, und welche Elemente des Zeitgenössischen könnten das sein?

Ilić: Das bringt uns zurück zur Rolle der Sammlung. Die Frage nach der Beziehung zu bestimmten Zukunftsszenarien sollte im Mittelpunkt jeder Sammlung stehen. Muss man sich zum Beispiel Sorgen machen, wie Kunst aus Osteuropa von einer Institution wie dem MoMA vereinnahmt wird?

Osborne: Ich glaube, das MoMA können wir in dieser Hinsicht vergessen. Das MoMA ist Teil einer Geschichte, die vorbei ist. Die Tragödie der amerikanischen, insbesondere der New Yorker Kunstwelt besteht darin, dass die globale Hegemonie der USA Vergangenheit ist. Aber selbst die amerikanische Linke als kritische Größe merkt nicht, dass sie nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sind. Sie hat vielleicht eine intuitive Ahnung davon, folgt ihr aber nicht. Das MoMA hat als Modell ausgedient. Die Musik spielt heute woanders. Vielleicht wird das neue große Hong Kong Museum of Art versuchen, das Modell neu zu definieren. Jedenfalls begegnen die alten Institutionen der Globalisierung mit ganz unterschiedlichen Strategien. Einige haben sich auf ihre Wurzeln zurückbesonnen. Die Tate Modern verfolgt die Strategie „wir-kaufen-alles-aus-Afrika“ und hofft das Beste. Das MoMA hält sich für dominanter und will alles in seine eigene Geschichte einschreiben, was es gefährden könnte. Es gibt sicher noch jede Menge weiterer Institutionen, aber keine davon ist exemplarisch, und so ist das Feld weit offen. Man muss sich nur das exponentielle Wachstum von Universitäten in Indien und China anschauen: Der Bildungszyklus, der ganze Generationen von kulturellen Eliten durch europäische und nordamerikanische Universitäten schickt, wird bald zu Ende gehen, was für diese Länder ein wahrer Schock sein wird. Wir sind womöglich nur wenige Jahrzehnte davon entfernt. Europa und Amerika sind vollkommen abhängig und angewiesen auf die migrantische intellektuelle Arbeitskraft, die aus diesem Kreislauf hervorgeht. Die externe Diversität zu verstehen bedeutet für sie, sich ihre eigene innere Diversität zu schaffen.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen