Heft 2/2016


Parallax Views

Editorial


Gut 25 Jahre ist es her, dass die Kategorien „West“ und „Ost“ eine entscheidende Verschiebung erfahren haben. Fast ebenso lange währt der Prozess, das enge und bevormundende Begriffskorsett sogenannter „Ostkunst“ oder schlimmer noch: „Kunst aus dem ehemaligen Ostblock“ zu überwinden. Die Schwierigkeit, über ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs immer noch nach adäquaten Begrifflichkeiten für die künstlerische Produktion aus dieser Region suchen zu müssen, ist vielsagend. Ist doch auch die geografische Umschreibung „Kunst aus Osteuropa“ nicht mehr als ein Hilfskonstrukt, das die tiefere Problematik – nämlich einen definitiven Ort dafür im Kanon der Gegenwartskunst sicherzustellen – mehr überdeckt, als dass es zu einer tatsächlichen Erhellung beitragen würde.
In Kooperation mit Kontakt – Die Kunstsammlung der Erste Group und ERSTE Stiftung, deren Schwerpunkt auf ebendiesem Bereich liegt, wirft die Frühjahrsausgabe einen neuen Blick auf die eben skizzierte Problematik. Nachgegangen wird dabei den sich wandelnden Parametern diverser Sichtweisen auf die Kunst aus diesem Bereich – egal ob diese primär historisch („dem ehemaligen Ostblock zugehörig“), ideologisch („postkommunistisch“) oder geografisch („aus Osteuropa stammend“) bestimmt ist. Wie immer die treffende Terminologie letztlich aussehen mag, geht es hier zentral um Fragestellungen, die ihrerseits einer zufriedenstellenden Beantwortung harren: Welche neuen Narrative sind seit 1989 an die Stelle des alten West-Ost-Paradigmas getreten? Inwiefern hat der Ansatz einer globalen Kunstgeschichtsschreibung regionale Markierungen obsolet gemacht? Kann der vielfach beschworene Begriffsrahmen der (nicht primär regional markierten) „zeitgenössischen Kunst“ das Spezifische heutiger politgeografischer Verankerungen sinnvoll benennen? Und inwiefern beruhen derlei Verankerungen nicht selbst wieder auf vereinfachenden Zuordnungen?
Dieser Fragenkatalog wurde in zwei gemeinsam organisierten Veranstaltungen letzten Juli bzw. Januar von namhaften TheoretikerInnen und KunsthistorikerInnen erörtert. Die Idee dabei war, eine Art „parallaktische“ Betrachtung anzuregen: nicht aus fixierten Einzelperspektiven den „Osten“ bzw. seine Kunst gleichsam statisch zu verorten, sondern mittels „doppelperspektivischer“ Sichtweisen Bewegung in festgefahrene Begriffskonstruktionen zu bringen. Die zu öffentlichen Zwiegesprächen geladenen BetrachterInnen sollten ihre Ausgangspunkte frei wählen bzw. im Lauf der Konversation auch verändern können, wobei der Gegenstand ihrer Betrachtung – die historische, ideologische und kunstgeografische Verortung des „Ostens“ – selbst nicht unangetastet bleiben sollte. Indes war klar, dass derlei Verschiebung nicht einfach auf eine ersatzweise Eingliederung in das Paradigma der „globalen Kunst“ hinauslaufen sollte. Ebenso wenig sollte eine Reduktion auf den einen „Osten“, die real existierende Pluralität außer Acht lassend, stattfinden.
Die fünf hier wiedergegebenen Gespräche sind unterschiedlich fokussiert. So befassen sich Peter Osborne und Nataša Ilić mit der größeren geopolitischen Einbindung, innerhalb derer der „Osten“ bis heute kunst- und ausstellungspolitisch situiert ist. Ekaterina Degot und Cosmin Costinaş, beide dem praktischen Ausstellungsmachen verpflichtet, fragen danach, welche operative Funktion eine positive Inanspruchnahme des „Ostens“ haben kann. Einen erhellenden Clash von Perspektiven bieten auch die Gespräche zwischen Branislav Dimitrijević und Rasha Salti sowie zwischen Keti Chukhrov und Anthony Yung: Ersteres, indem an jene historische weltumfassende Solidarität erinnert wird, die sich einst zwischen osteuropäischen Ländern und Teilen der arabischen bzw. „dritten“ Welt entspann; Zweiteres, indem die bis heute nachwirkenden ideologischen Vermächtnisse ihres (russischen bzw. chinesischen) Herkunftslands in all ihrer Inkohärenz erörtert werden.
Boris Buden und Marta Dziewańska schließlich setzen in ihrer parallaktischen Auseinandersetzung bei der sich wandelnden historischen Konstellation des „Ostens“ an und erwägen, auf welche Weise sich Geschichte und Gegenwart produktiv aufeinander hin öffnen lassen. Ergänzt wird das Heft durch ein Interview mit den Doyens der tschechischen Gegenwartskunst, Jirí Ševčík und Jana Ševčíková, die ausgehend von ihrer eigenen Arbeit die praktische Dimension der „Ostöffnung“ exemplarisch darlegen. Ein weiteres historisches Schlaglicht wird (visuell) auf die Performancearbeiten des rumänischen Künstlers Paul Neagu geworfen, dessen Werke so wie viele andere der in diesem Heft vertretenen KünstlerInnen zum Grundstock der Kontakt Kunstsammlung zählen.
An dieser Stelle sei Kathrin Rhomberg, Walter Seidl, Julia Jachs, Hephzibah Druml und Karolina Radenković von Kontakt herzlich gedankt, ohne deren Unterstützung und Mitarbeit das Heft in dieser Form nicht zustande gekommen wäre. Ein gemeinsames Ansinnen, das die Sammlung mit der Ausrichtung dieses Magazins verbindet, ist das ständige Befragen und Reflektieren, wie eine adäquate, nicht ein für alle Mal festzuschreibende Konzeption des „Ostens“ beschaffen sein könnte. Eine Konzeption, die sich ihrer eigenen Vereinfachungen ebenso bewusst ist wie der immer wieder nötigen, ja neu zu schärfenden Rekontextualisierungen.