Die Geschichte Osteuropas zu schreiben, bedeutet mehr als nur das Paradigma des Totalitarismus, das diesen Raum lange Zeit bestimmt hat, zu überwinden. Vielmehr besteht eine aktuelle Herausforderung auch darin, diese Historie (oder Historien im Plural) von der immer noch wirksamen Vorstellung einer essenziellen Verspätung oder „nachholenden Revolution“ zu befreien. Wie lässt sich demgegenüber das vermeintliche „Ende der Geschichte“ auf die Spezifik osteuropäischer bzw. postkommunistischer Länder umlegen? Wie ein neuer Sinn für geschichtliche Offenheit und Kontingenz gewinnen, der vor allem auch dem gegenwärtig in vielen dieser Staaten zu beobachtenden Rechtsruck entgegenwirkt? Darüber diskutieren Marta Dziewańska, Kuratorin am Museum moderner Kunst in Warschau, und Boris Buden, in Berlin ansässiger Autor und Kulturkritiker, der sich eingehend mit dem „Ende des Postkommunismus“ befasst hat.
Marta Dziewańska: Ich möchte zunächst über den Kanon aus der Sicht meiner eigenen Praxis sprechen bzw. davon ausgehend, wie er in der Institution, in der ich arbeite, dem Museum für moderne Kunst in Warschau, formuliert und umgesetzt wird. Zweifellos ist jeder Kulturkanon in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Raum verortet: Jeder spiegelt einen Zeitraum wider, dessen Einfluss und Bedeutung er mehr oder weniger erfolgreich erfasst und definiert. Mit dem Jahr 1989 als Schwerpunkt unseres Programms und unserer Sammlung haben wir uns bewusst auf etwas Dynamisches konzentriert. Anstatt ein zeitlich genau verortetes bzw. reales Ereignis zu fixieren und zu kommemorieren, konzentrieren wir uns auf die Idee der Transgression. Ihre Anwendbarkeit auf politische, soziale und auch individuelle Perspektiven erlaubt uns, sowohl neue Zukunftsvisionen als auch Neuinterpretationen der Vergangenheit zu suchen und anzuregen. Ich verstehe den „Kanon“ dementsprechend als ein dynamisches Verhältnis in Bezug auf die Zeit, der stets aus einer bestimmten – mehr oder weniger klaren – Perspektive formuliert wird. Gerade deshalb dürfen wir die aktuellen politischen Umschwünge nicht vergessen, wenn es um die Paradigmenwechsel nach 1989 und in den 2000er-Jahren geht. Die aktuelle Situation in Polen – die ganz eindeutig meine Perspektive bestimmt – ist das Symptom einer viel weiter reichenden Tendenz, die wir meiner Meinung nach nicht vernachlässigen dürfen, wenn wir uns ernsthaft über den europäischen Kanon nach 1989 unterhalten wollen.
Vor diesem Hintergrund habe ich kürzlich deinen Essay Nothing to complete, something to start1 wiedergelesen. Darin setzt du dich mit der Ansicht auseinander, der zufolge die demokratische Revolution die Epoche des Totalitarismus beendet habe und das Ereignis von 1989 einen Neuanfang markiere. Allerdings – und diesbezüglich äußerst du Zweifel – seien die gesteckten Ziele eigentlich nichts Neues gewesen: Demokratie, Menschenrechte, freier Markt und freie öffentliche Räume. All das habe es schon gegeben, in Westeuropa. Wie du sagst, scheint die Revolution von 1989 daher „kulturell lokalisiert“ worden zu sein und zwar sei sie ganz klar „veröstlicht“ worden. Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang auf Habermas’ „nachholende“ Revolution bzw. eine gewisse Verspätung der historischen Entwicklung im Osten zu verweisen. Du selbst führst oft das Bild der kindlichen Naivität des Ostens an, der förmlich nach der Patronage des Westens schrie.
Ich frage mich allerdings, ob diese Beschreibung nicht etwas zu schematisch ist. Wenn wir das Bild ein wenig verkomplizieren – und damit versuche ich auch den Wandel zu verstehen, der sich heute in Polen, aber auch in Ungarn, Frankreich oder Dänemark vollzieht –, dann erkennen wir auf einmal, dass uns dieses dichotomische, logische und chronologische Modell im Grunde nicht wirklich weiterhilft. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit zeigt Folgendes: Während Polen 1989 erste Erfahrungen mit der Demokratie sammelte, waren die sogenannten westlichen Länder schon seit Anfang der 1980er-Jahre mit der Globalisierung und den daraus resultierenden Problemen beschäftigt. Dasselbe gilt für den Kapitalismus: Polen erhob ihn in dem Moment zur Religion, als der Rest der Welt dazu überging, den Neoliberalismus infrage zu stellen. In diesem Kontext ließen sich noch weit mehr Beispiele mit jeweils länderspezifischen Besonderheiten anführen. Damit möchte ich verdeutlichen, dass das Vorbild des Westens selbst auf tönernen Füßen stand und daher weniger ein Ziel als eine Ausgangsbasis darstellte.
Die Frage nach den Ursachen für die derzeitige Geringschätzung demokratischer Standards in einigen von Europas neuesten, aber auch „ältesten“ Demokratien scheint demzufolge das europäische Projekt als Ganzes zu betreffen. In genau diesem Zusammenhang sollte man sich mit dem Kanon – seiner Konstruktion, Aufnahmefähigkeit und seinen Regeln – aktiv auseinandersetzen. Nicht im Hinblick auf exportierte/importierte Ideen oder Modelle, die mehr oder weniger erfolgreich an die postkommunistischen Wirklichkeiten angepasst worden wären. Und noch weniger im Hinblick auf exportierte/importierte Geschichten, die zuvor vernachlässigt und für den nunmehr universalisierten Kanon wieder hervorgeholt wurden. Um uns mit dem aktuellen Geschehen auseinandersetzen zu können, sollten wir damit aufhören, die Welt (und damit unsere Vorstellungskraft) so plakativ in sich gegenseitig ausschließende, klar umrissene Kategorien einzuteilen. Fragestellungen aus der Vergangenheit kehren nie in gleicher Form wieder, sie verändern sich im Laufe der Zeit auf mehr oder weniger unerwartete Weise.
Boris Buden: Ich würde gerne auf die Gegenwart zu sprechen kommen, die Gegenwart der Krise, nicht nur der Krise im Osten, sondern der allgemeinen Krise, die uns alle betrifft. Es stellt sich die Frage, wie sich ein Bewusstsein für diese Krise artikulieren lässt, denn wir können nicht einfach aus einer Perspektive des universellen Wissens sprechen. Seit 20 Jahren bin ich in der Position des „native informant“, wie Gayatri Spivak es nennt, eine Figur, die Wissen über den Osten vermittelt, dies möglich macht, aber nicht für dieses Wissen existiert, weil sie die „verworfene“ Bedingung seiner Möglichkeit ist, wie Spivak, auf den Freud’schen Begriff der Verwerfung anspielend, sagen würde. Der Begriff „native“ bezieht sich aber auch auf all jene, die keine Geschichte haben. Dabei geht es um eine eher klassische Unterscheidung zwischen Zivilisierten und Eingeborenen. Die Frage ist also, ob wir „native informants“ aus dem Osten eine Geschichte zu erzählen haben, oder ob die Geschichte, die wir haben, stets von jemand anderem erzählt wird. Tatsächlich schreibt der slowenische Philosoph Rastko Močnik, dass das Konzept des Ostens eine ideologische Funktion hat und zwar insofern, als es eine historische Amnesie impliziert.2 Das steht in enger Verbindung zur bereits erwähnten Habermas’schen Definition der Ereignisse von 1989 als „nachholende Revolution“ und beinhaltet eine historische Verspätung des Ostens, die ihn dazu zwingt, zum Westen aufzurücken. Das Problem dabei ist aber, dass die Geschichte des Ostens dadurch komplett irrelevant wird, denn sie ist eine Geschichte der Verspätung, eine Geschichte, die sich lediglich als Hindernis einer normalen Entwicklung erwiesen hat. Eine Geschichte, die man, so Močnik, lieber vergessen sollte. Nach Močnik beraubt der Begriff des Ostens darüber hinaus beide Seiten nicht nur ihrer jeweiligen Geschichte, sondern auch einer gemeinsamen Geschichte. Immer dann, wenn man den Standpunkt des Ostens einnehme, könne man nicht von einer gemeinsamen Geschichte sprechen und dies nicht nur in epistemologischer Hinsicht. Kurz gesagt: Der normative Identitätsblock namens „Osten“ ist ein Zeit-Raum, der nicht nur durch seine historische Verspätung, sondern auch durch die Auslöschung seiner Geschichte definiert wird, und zudem eine übergreifende historische Amnesie bewirkt. Der Osten ist daher frei nach Fukuyama ein Konzept der Posthistorie. Ich glaube, Fukuyamas These – wie wir wissen, wurde die Idee der Posthistorie ursprünglich vor mehr als 50 Jahren von Alexandre Kojève entwickelt – sollte ernst genommen werden. Wir leben nicht mehr in der Geschichte, wir haben keine mehr, und wir sind auch nicht mehr in der Lage, unsere Geschichte zu erzählen. So legt etwa Pierre Nora dar, dass das, was einst Geschichte war, heute durch die Erinnerung ersetzt wird. Und so liefert ein „native informant“ gegenwärtig genau solche Erinnerungen, aber keine Geschichte. Deswegen können auch nicht länger von den BerufshistorikerInnen erwarten, das sie uns erklären, was im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien, in der Sowjetunion oder im ehemaligen Osten eigentlich geschehen ist. Sie haben ihr Monopol auf die historische Wahrheit verloren, sodass nun alle an der Erschaffung unserer Vergangenheit mitwirken können, nicht nur HistorikerInnen, sondern auch KünstlerInnen und KuratorInnen. Heute steht die Vergangenheit so stark im Mittelpunkt politischer Interessen wie noch nie. So beschimpfte kürzlich während des Wahlkampfs zu den Parlamentswahlen in Kroatien die rechtsgerichtete, nationalistische Partei ihre Gegner, eine lokale Version zu spät gekommener Blair’scher SozialdemokratInnen, als BolschewikInnen, so als befänden wir uns in den 1920er-Jahren. Natürlich ist das ein vollkommen ahistorischer Begriff, der überhaupt nichts mit der gegenwärtigen politischen Realität zu tun hat, außer dass er bestimmte Erinnerungen anspricht und reproduziert. Dasselbe gilt für den Begriff des Totalitarismus. In seinem Artikel The Function of the Signifier „Totalitarianism“ in the Constitution of the „East Art“ Field zeigt der slowenische Theoretiker Miklavž Komelj, wie das Konzept des Totalitarismus im Nachhinein den Raum des postkommunistischen Ostens zum Raum einer gemeinsamen Totalitarismuserfahrung vereint.3 Das löscht natürlich all die komplexen und widersprüchlichen Erfahrungen zwischen 1917 und 1989 aus, die von Peking über Wladiwostok bis Prag und Belgrad Teil des heute sogenannten historischen Kommunismus waren. Ebenfalls ausradiert werden all die Unterschiede innerhalb dieses Raums, wie zum Beispiel der zwischen Planwirtschaft im Ostblock und Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien. Infolgedessen haben wir zum Beispiel vergessen, dass die jugoslawischen KommunistInnen das sowjetische System für eine Form des Staatsmonopolkapitalismus hielten. Die historische Amnesie wird unglücklicherweise auch durch eine Entschließung des europäischen Parlaments von 2009 gefördert, die die Erfahrung des Totalitarismus, das heißt des Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus, als gemeinsames europäisches Erbe definiert. Das macht uns blind für aktuelle neofaschistische Transformationen in Osteuropa, insbesondere die Entwicklung in Ungarn, Polen und auch Kroatien. Von der Adria bis zur Ostsee hat sich eine neue politische Achse formiert, die auf einem ideologischen Hybrid aus westlichen AbtreibungsgegnerInnen, klassisch mitteleuropäischem Klerikalfaschismus und dem wiederbelebten, klassischen deutschen – genauer gesagt Ernst Noltes – Geschichtsrevisionismus gründet. Und dieser Hybrid ist sowohl dem klassischen politischen Liberalismus als auch den nach Europa kommenden MigrantInnen gegenüber extrem feindlich gesinnt. Die europäische liberale Mitte ist gegenwärtig im Zerfall begriffen oder zu schwach, um dieser neuen politischen Kraft entgegenzuwirken. In Kroatien opponiert zum Beispiel fast die gesamte kulturelle Elite gegen den neuen Kulturminister, einen offenen Geschichtsrevisionisten und Anhänger einer vom Ustascha-Anführer Ante Pavelić gegründeten Partei. Seine politische Mission im Kulturbereich besteht einzig darin, alles Liberale, Linke und sogar Bürgerlich-Demokratische als kommunistisch zu etikettieren und zu beseitigen. Wie schon erwähnt, ist er ein Geschichtsrevisionist, der das Jahr 1945 als Niederlage betrachtet und sich und seine politischen Interessen seit dem Fall des Kommunismus für siegreich hält. Das ist heutzutage angesichts eines unter dem Druck der sogenannten Migrationskrise zerbröckelnden Europas umso gefährlicher. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet ein Magazin für Flüchtlinge in Ljubljana in den frühen 1990er-Jahren daran erinnerte – die meisten von ihnen waren damals vor dem kroatisch-bosnischen Krieg geflohen und enttäuscht von der mangelnden Bereitschaft Europas, mehr Flüchtlinge vom Balkan aufzunehmen –, dass dieses Europa einst unter faschistischer Herrschaft weitgehend vereint war. Während des Zweiten Weltkriegs bildeten fast alle europäischen Nationen Quisling-Regime, die Mussolini und Hitler unterstützten und sogar Soldaten entsandten, um die Rote Armee im Osten zu bekämpfen. Die damals in Stalingrad eingesetzten kroatischen Söldner kämpften natürlich nicht für ein Großkroatien, sondern im Namen der europäischen Zivilisation gegen den Kommunismus, der als eine Art asiatische Barbarei galt. Tatsache ist, dass es nur in Europas Süden militärisch signifikanten Widerstand gegen den Faschismus gab, wie etwa in Jugoslawien, Griechenland und in gewissem Maße in Italien. Der Rest Europas wurde von außen befreit. Deshalb ist Geschichtsrevisionismus in Kombination mit einem enthistorisierten Totalitarismuskonzept heute so gefährlich. So zeigte der italienische Historiker Domenico Losurdo, dass die revisionistische Geschichtsschreibung, die den nationalsozialistischen Faschismus als eine Überreaktion auf das eigentliche Übel des Bolschewismus darstellt, Auschwitz lediglich als eine Überreaktion auf den Versuch sieht, den Gulag zu verhindern. Er wies ebenfalls darauf hin, dass das eigentliche Angriffsziel des Geschichtsrevisionismus nicht der Bolschewismus und Lenin seien, sondern die Französische Revolution und sogar die Aufklärung selbst.4 Einige amerikanische HistorikerInnen sprechen hier sogar vom „trockenen Terror“ der Encyclopédie und bezichtigen die PhilosophInnen der Aufklärung des Totalitarismus. Das entspricht in etwa dem, was der französische Historiker François Furet in den 1970er-Jahren in seinem einflussreichen Werk Penser la Révolution française schrieb. Darin führt er aus, dass die Französische Revolution nur eines von vielen wichtigen Ereignissen in der Geschichte der französischen Nation gewesen sei, und erklärt sie 1978 für beendet. Das passt auch zu dem, was ich in Kroatien 1990 in den letzten Tagen des Kommunismus erlebt habe. Die neue Bewegung liberal-demokratischer BürgerInnen, so schien es damals jedenfalls, mobilisierte ihre Kräfte, um die nach dem Zweiten Weltkrieg entfernte Statue Ban Jelačićs auf dem zentralen Platz Zagrebs wieder aufzustellen und dem Platz seinen ursprünglichen Namen „Ban-Jelačić-Platz“ zurückzugeben. Unter kommunistischer Herrschaft war er in „Platz der Republik“ umbenannt worden. Damals fragte niemand, was denn am „Platz der Republik“ falsch sei oder warum man die Statue von Jelačić entfernt hatte. Jelačić kämpfte 1848 als treuer Diener der Habsburger Monarchie gegen die Revolution in Wien und in Ungarn, kurz gesagt gegen die Demokratiebewegungen in Europa, um den reaktionären Absolutismus zu erhalten. Im Namen der Demokratie akzeptierten wir alle diese symbolische Veränderung und die Idee, dass das Alte irgendwie besser sei als das Neue, obwohl es sich um das Symbol einer historischen, reaktionären Bewegung handelte, die das bekämpfte, was heutzutage als das wertvollste historische Erbe Europas gilt: seine liberal-demokratischen Revolutionen. Es war daher kein Wunder, dass die kroatische Armee bzw. ihre Pioniereinheiten im anschließenden Kroatienkrieg systematisch die wertvollsten Werke der modernen abstrakten Kunst Jugoslawiens, einige der großartigsten abstrakten Monumente der Welt, vernichteten. Die Öffentlichkeit nahm das als ein weiteres, wenngleich etwas seltsames Zeichen liberaler Demokratie stillschweigend zur Kenntnis.
Dziewańska: Das lässt mich an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen denken, in denen er vom Nutzen der Geschichte und unserem Umgang mit ihr spricht. Nietzsche nennt drei Arten der Geschichtsbetrachtung: die monumentalische, die antiquarische und die kritische. Allen drei Arten steht er gleichermaßen kritisch gegenüber. Aber warum kritisiert er alle? Die monumentalische Historie hält er für eine Art geistlosen Kult der Vergangenheit, während der antiquarische Ansatz der stupiden Plackerei von PhilologInnen entspreche, die ohne jegliche Inspiration nach der Kontinuität von Tradition suchen. Man sollte nun annehmen, dass der dritte – der kritische Ansatz – Nietzsches Zustimmung finden würde, doch weit gefehlt. Die kritische Position, so meint er, verkehre sich oft in eine unkritische Fokussierung auf die Gegenwart, die für den Sitz der endgültigen Wahrheit gehalten werde – was er für ebenso schädlich hält. Geschichte verliere ihren Nutzen, sobald sie „dem Leben schade“, heißt es bei Nietzsche. Aber was bedeutet „Leben“, wenn es sich dabei, wie eben festgestellt, auf keinen Fall einfach um ein Synonym für die „Gegenwart“ handelt? Es scheint so, als setze er „Leben“ mit „Aktivität“ gleich: die Dinge in ihrer Dynamik zu beobachten und zugleich die „Antriebe“ derjenigen einzubeziehen, die sich mit diesen Dingen befassen. Jeglicher Blick auf die Vergangenheit wäre demnach ein Eingreifen in die Zeit: Ein Blick in die Vergangenheit setzt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch den gegenwärtigen Moment in Bewegung. Der Nietzscheanische Ansatz eines generalisierten „In-Bewegung-Setzens“ kann nicht nur inspirierend sein, wenn wir nach neuen Beschreibungen für die Vergangenheit und das Jetzt suchen, sondern auch, wenn wir neue Ideen für die Zukunft finden wollen.
Buden: Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben (die zweite Unzeitgemäße Betrachtung) ist wichtig, weil er etwas vergegenwärtigt, das auch heute wieder notwendig ist: Kritik und Skepsis angesichts der allgegenwärtigen Obsession mit der Vergangenheit, die auch eines der wesentlichen Merkmale heutiger zeitgenössischer Kunst ist. Ich meine damit die Vergangenheit und die Formen ihrer Produktion und Reproduktion, sei es das kollektive oder kulturelle Gedächtnis oder das sogenannte kulturelle Erbe. Das galt einst nicht als Geschichte. Hier denke ich zudem an Fredric Jamesons berühmte einleitende Worte in seinem Buch Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns: „Immer historisieren!“. Die Frage ist jedoch, wie man das im Zeitalter der Posthistorie anstellt. Jene Geschichte, die laut Fukuyama in den 1990er-Jahren endete, war nicht die der Menschheit von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Sie war das, was Reinhart Koselleck mit „Geschichte als Subjekt“ umschrieb oder auch Geschichte als kollektiver Singular, und diese Geschichte war noch keine 200 Jahre alt. Sie unterschied sich radikal von dem, was Geschichte vor der Französischen Revolution war: ein sich endlos wiederholender Kreislauf von Erfahrungen. Aus dieser Art von Geschichte, einer „historia magistra vitae“, konnte man lernen, denn das Leben einer Generation unterschied sich nicht wesentlich vom Leben früherer Generationen, weshalb die Erfahrung der Väter für die Söhne und Töchter nützlich war. Mit der Französischen Revolution änderte sich das radikal. Geschichte wurde zum Subjekt, zum Raum einer neuen Erfahrung, die Friedrich den Großen zu der Aussage bewegte, dass das Schicksal der Söhne darin bestehe, die Fehler der Väter zu wiederholen. Die Geschichte, die in der Lage war, Neues zu erschaffen, endete angeblich 1989/90. Was bleibt, sind die Vergangenheit und verschiedene kulturelle Formen ihrer Produktion. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie man sich in dieser posthistorischen Zeit orientieren soll? Wie wir von Jameson wissen, ist die Logik des Spätkapitalismus tatsächlich eine kulturelle Logik. Daher hat die Vergangenheit heute nicht nur eine zeitliche Dimension. Wir erkennen sie heute nur anhand kultureller Unterschiede als Vergangenheit. Nichts beweist das besser als unsere Obsession mit dem sogenannten kulturellen Erbe. David Lowenthals Buch über das kulturelle Erbe trägt den wunderbaren TitelThe Past is a Foreign Country. Das sind die ersten Worte in L. P. Hartleys Roman The Go-Between aus dem Jahr 1953. Anders gesagt, wir sind nur insofern in der Lage, die Vergangenheit als zeitliche Dimension wahrzunehmen, als sie sich durch einen kulturellen Unterschied ausdrückt, einen Unterschied, der das Ergebnis andersartiger kultureller Praktiken ist. Und dessen sollten wir uns kritisch bewusst sein. Angesichts der kulturellen Obsession mit der Vergangenheit ist eine gewisse Skepsis angebracht, eine Skepsis, die traditionell einer linken Haltung zugesprochen wird. Und hier sollte nach Nietzsche auch Walter Benjamin ins Spiel gebracht werden. Wir sollten uns seinen berühmten Text über den Sammler und Historiker Eduard Fuchs in Erinnerung rufen, der mit einer Kritik der sogenannten Kulturgeschichte endet. Benjamin schreibt: „Sie [die Kulturgeschichte] vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit häufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen.“5 Genau das trifft heute auf den sogenannten Osten zu: Er besteht aus einem Haufen ästhetischer Werte bzw. ist ein Gefäß, das ein bestimmtes Kulturerbe enthält, kurz, eine Identität. Folglich verfügt der Osten zwar über eine Kultur, eine kulturell generierte Identität, aber er hat keine nennenswerte Geschichte. Und so weiß niemand etwas anderes mit diesem Kulturerbe anzufangen, als es dem westlichen Blick als Objekt seines ästhetischen Vergnügens oder als Thema seiner Kunstgeschichtsschreibung darzubieten. Deshalb, meine ich, sollten wir uns auf das alte marxistische Verständnis von Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen besinnen. Es geht hier nicht um ein altes/neues Verständnis von Geschichte, sondern die Herstellung desselben. Es ist unsinnig, darauf zu warten, dass eine neue Generation kluger, linker Intellektueller neue Konzepte zum Verständnis der Geschichte und unserer heutigen Welt schmiedet. Dieses Mal wird die neue Begrifflichkeit im Kampf selbst entschieden werden, und nicht unbedingt aus der Position, die wir heutzutage als Theorie bezeichnen. Fredric Jameson schrieb vor Kurzem, dass das, was wir heute Geschichte nennen, eine Art konzeptuelle Installation sei. Die Struktur der Theorieproduktion selbst lässt sich in gewisser Weise als künstlerische Praxis verstehen. Es besteht zwar durchaus Bedarf an einer neuen Theoriesprache, doch ich glaube nicht, dass KünstlerInnen sie erschaffen werden. Anstatt zu SchöpferInnen einer solchen neuen Sprache zu werden, sollten wir die Perspektive von ÜbersetzerInnen einnehmen, allerdings nicht derjenigen, die die homogene Sprache der realpolitischen Praxis, das heißt, ihre Kämpfe und ihre Klassenkonflikte in die Sprache der Reflexion übersetzen. Wir sollten stattdessen tun, was ÜbersetzerInnen wirklich tun – eine weitere Fremdsprache aus dem Inneren der Sprache freizusetzen, die wir für unsere Muttersprache halten.
Dziewańska: Da stimme ich zu. Genau deshalb habe ich Nietzsche erwähnt. Geschichte ist für ihn nicht irgendeine Art von Artefakt. Sie ist nicht ein für alle Mal gegeben und wartet bloß darauf, rekonstruiert zu werden. Im Gegenteil: Geschichte verlangt permanent nach Konstruktion. Zugegeben, sie lässt sich abrufen, aber dann muss sie interpretiert, übersetzt und mit dem Gegebenen konfrontiert werden. Und natürlich geschieht das immer von einem bestimmten Standpunkt aus. Und du hast recht: Das ist Benjamin in Reinform, obgleich er alles noch stärker verkompliziert. Ich finde allerdings, dass seiner „Obsession mit der Vergangenheit“ etwas extrem Vitales innewohnt, ja er scheint die Zeit selbst zu aktivieren. Seine Beschäftigung mit der Vergangenheit hat, genau wie das Nietzscheanische „In-Bewegung-Setzen“, nichts damit zu tun, sich in eine bestimmte Richtung zu wenden, als würde man von einem unbewegten Hier und Jetzt auf ein gleichermaßen statisches und stabiles Drüben schauen. Im Gegenteil: Die Geste des Zuwendens ist zugleich eine des Abwendens und folglich eine fundamentale Verschiebung, die die zuvor eingenommene Haltung aufhebt. Das bedeutet nicht die Annullierung oder das Aufgeben einer Position, sondern einen Moment der Desorientierung, der die Möglichkeit eines überraschenden Gegenübers bzw. eines anderen Hier und Jetzt nach sich zieht. Wenn ich das richtig verstehe, liegt der Fokus jedoch definitiv auf der Gegenwart.
Ich stimme dir auch zu, dass wir nicht die SchöpferInnen einer neuen Sprache, sondern ihre ÜbersetzerInnen sein sollten. Aber die Aufgabe von ÜbersetzerInnen besteht auch darin, einen Text zu aktivieren. Und es scheint mir in der Tat so zu sein, dass es nur aus dieser doppelten Perspektive möglich ist, neue Beschreibungen zu finden, und zwar in dem Raum zwischen beiden (zwischen dem Original und der Übersetzung, zwischen dem offiziellen Kanon und seinen Randbereichen, zwischen dem Zentrum und der Peripherie bzw. ihrer unablässigen, dynamischen Wechselwirkung). Das mag zwar wie eine „Botschaft der Hoffnung“ klingen, aber ich möchte die Sprache auch als eine Möglichkeit betrachten, um die gegenwärtige Krise zu verstehen, sie sowohl zu beschreiben als auch zu bewältigen.
Buden: Ich denke, es gibt immer Anlass zur Hoffnung. Schau dir an, was derzeit in Warschau passiert. Das ist wahrlich ein politisches Drama. Wir wissen nicht, wohin es sich entwickeln wird. Es geht um die historische Kontingenz, die Offenheit der Geschichte in Bezug auf die Zukunft. Genau das spielt sich gerade in Warschau ab. Warschau ist nicht länger ein Ort der historischen Verspätung, ein Ort des Mangels an demokratischer Kultur, selbst wenn der Westen aus seiner Perspektive heraus Folgendes annimmt: Wenn es in Polen mehr demokratische Kultur wie in den westlichen Ländern gegeben hätte, dann wäre es niemals zu dieser antidemokratischen, nationalistischen Mobilisierung gekommen. Tatsächlich ist die Auffassung weitverbreitet, dass der Westen seine Vergangenheit unter Kontrolle habe und dass seine hoch entwickelten Erinnerungskulturen, seine Monumente, seine Geschichtsmuseen, seine „Erinnerungsorte“, in denen Generationen von Buchenwald- und Auschwitz-BesucherInnen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden gelernt haben, die beste Garantie dafür seien, dass sich die Schrecken der Vergangenheit nie wiederholen würden. Ich meine jedoch, die wahre Hoffnung liegt zum einen darin, nicht noch einmal in die Falle der Verspätung zu tappen, und zum anderen in der Weigerung, den Faschismus als ein weiteres Merkmal der verspäteten Identität des Ostens zu begreifen. Die Hoffnung liegt in der Weigerung, den Westen als Verkörperung eines aufgehobenen Totalitarismus zu verstehen, als Verkörperung von Demokratie und Normalität, die der Geschichte nicht bedürfen, da sie selbst immer schon „zeitgemäß“ waren, ja darüber hinaus das Maß der Zeit sind. Um es nochmals zu wiederholen: Es geht um das kritische Bewusstsein der historischen Kontingenz. Wir sind uns ihrer bereits bewusst, weil wir Angst haben. Diese Angst hat eine Funktion, sie hilft uns zu überleben. Die Bedrohung durch den Faschismus, die aus der Zukunft kommt und nicht aus der Vergangenheit, eine in Warschau, Zagreb oder Budapest heute deutlich fühlbare Bedrohung, erinnert uns an etwas Vergessenes – die historische Kontingenz, die Tatsache, dass das Ende offen ist. Dies wurde und wird auch in Bezug auf die kommunistische Vergangenheit vergessen. Schauen wir uns zum Beispiel das ehemalige Jugoslawien an: Heute betrachtet man es als eine Art ideologischen und politischen Hybrid zwischen Ost und West, eine Sichtweise, die beide als im Wesentlichen getrennte und klar voneinander abzugrenzende Einheiten bestätigt. Für mich jedoch ist Jugoslawien kein Beispiel eines „identitären Dazwischen“, sondern eines der historischen Kontingenz. Als sich das Land 1948 vom Sowjetblock abspaltete, hatte die Kommunistische Partei Jugoslawiens keine Vorstellung davon, was zu tun war. Eines war ihren Mitgliedern allerdings absolut klar, und zwar, dass sie dem sowjetischen Modell nicht länger folgen konnten. In Panik wandten sie sich daraufhin der Lektüre utopischer SozialistInnen und AnarchistInnen zu, studierten die Geschichte der Pariser Kommune und kamen zu dem Schluss, wie das damals für die Wirtschaft zuständige Mitglied des Zentralkomitees sagte, dass das sowjetische System eine Form des Staatsmonopolkapitalismus sei und noch schlimmer als der westliche.6 Und getrieben von derselben historischen Panik entwickelten sie die Arbeiterselbstverwaltung und schlossen sich bald darauf den blockfreien Staaten an. Dabei handelten sie nicht in Kenntnis der Geschichte, sondern gingen von ihrer Offenheit aus. Sie glichen AnalphabetInnen, die sich plötzlich auf der Bühne eines Historiendramas vor einem Publikum wiederfanden, das von ihnen eine Handlung erwartete. Und sie handelten, nicht, um einen hybriden Raum zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen einzunehmen, sondern um einen eigenen Weg in die Zukunft zu finden. Sich dieser historischen Kontingenz bewusst zu werden, ist meine Antwort auf Fredric Jamesons „Immer historisieren!“.
Übersetzung aus dem Englischen: Gülçin Erentok
1 In: Marta Dziewańska/Ekaterina Degot/Iliya Budraĭtskis (Hg.), Post-Post-Soviet? Art, Politics & Society in Russia at the Turn of the Decade. Warschau: Museum of Modern Art, 2013, S. 183–193.
2 Vgl. Rastko Močnik, Will the East’s past be the West’s future? Le passé de l’est sera-t-il l’avenir de l’ouest?, in: Frontières invisibles: Lille 3000. Oostkamp 2009, S. 170–173.
3 Vgl. Miklavž Komeljs Vortrag The Function of the Signifier „Totalitarianism“ in the Constitution of the „East Art“ Field, gehalten an der Workers’-Punks’ University (Ljubljana) am 15. Mai 2008 (Manuskript).
4 Vgl. Domenico Losurdo, War and Revolution: Rethinking the Twentieth Century. London/New York 2015, S. 5.
5 Walter Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937), in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1963, S. 80.
6 Vgl. Darko Suvin, Diskurs o birokraciji i državnoj vlasti u po-revolucionarnoj Jugoslaviji 1945–75, unpubliziertes Manuskript.