Wohin steuert Europa? Welche inneren, welche äußeren Barrieren stehen dem Prozess seiner Einigung entgegen? Wovon grenzt es sich, entgegen seinem eigenen Leitbild, zunehmend ab? Und was könnte seine grundlegende Einheit, abseits institutionell-bürokratischer Regelwerke, ausmachen?
Fragen wie diese sind in den letzten Monaten häufig gestellt worden. Zugleich ist man einer zufriedenstellenden Beantwortung kaum einen Millimeter nähergekommen. Auf der einen Seite die nach wie vor hochgehaltene Idee von der übernationalen Union, dem alle ethnischen und regionalen Unterschiede überwölbenden Gemeinsamen; auf der anderen Seite der seit geraumer Zeit zu beobachtende Trend zur diskriminierenden, bisweilen offen rassistischen Renationalisierung. Keine überstaatliche Universalisierung, ist man geneigt zu folgern, ohne dass zugleich eine auf das „Eigene“ und Vertraute setzende Partikularisierung ihr schreckliches Haupt erhebt. Wobei Letztere nicht bloß die immer fragwürdigeren Nationskonstrukte erfasst, sondern bis tief in das politische Innere jedes einzelnen Mitgliedstaats vordringt. Dass sich der seit Jahrzehnten im Vormarsch befindliche Rechtspopulismus immer mehr auf gesamteuropäischer Ebene, sprich supranational zu organisieren beginnt, ist aktuell eine der markantesten Paradoxien dieses unauflösbaren Konnexes.
Europa vergessen? Seinen Spaltungstendenzen mehr Aufmerksamkeit widmen? Es nicht nur nach außen hin, sondern auch im Inneren mehr „provinzialisieren“? All diese provokanten Vorschläge sind insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als sie – gleichsam als dialektischer Schatten – die Rede von der Einigung und Konsolidierung lange schon begleiten. Ihnen mehr Augenmerk zu schenken und sie nicht bloß als defätistische Scharlatanerie abzutun wäre insofern wünschenswert, als sie mit dazu beitragen könnten, der rechtspopulistischen Version von Europa ihr wahres Spiegelbild vorzuhalten. Ihr wollt ein Europa der grenzgesicherten, ethnisch segregierten Unterschiede? Wir zeigen euch, was es mit diesen Differenzen im größeren Maßstab auf sich hat und zu welch desaströsem Szenario dies auf globaler Ebene geführt hat. Ein Szenario im Übrigen, bei dem die lange angenommene Vormachtstellung Europas, über alle inneren Differenzen hinweg, eine wichtige Rolle gespielt hat.
Ist Europa als Idee und Realität seit den jüngsten Migrations- und Flüchtlingsbewegungen einer neuen Bewährungsprobe ausgesetzt, so waren sein inneres Gefüge und seine äußere Demarkation immer schon größten Spannungen ausgesetzt. Auch die Kritik, welche die Zentralität europäisch-abendländischer Werte im globalen Gefüge anzweifelt, reicht historisch weit zurück. Ein Hauptaspekt betrifft dabei die Haltung Europas (welche Identität auch immer sich hinter dieser Bezeichnung verbergen mag) zu seinem „Anderem“: dem, was außerhalb seiner Grenzen liegt und so seine Einheit von den Rändern her infrage stellt; aber auch dem, was im Inneren für ein beständiges Konfliktpotenzial sorgt und keine auf ewig befriedete, allumfassende Union zuzulassen scheint.
Die Beiträge dieser Ausgabe gehen diese Problematik nicht vom großen Ganzen, sondern von konkreten Fragestellungen her an. So fragt Susanne Lummerding in ihrem Essay, wer sich hinter dem rhetorischen „man“, das im politischen Diskurs gerne als das Um und Auf der (in diesem Fall österreichischen und deutschen) Mehrheitsgesellschaft beschworen wird, tatsächlich verbirgt? Zieht sich eine unfruchtbare Innen-Außen-Unterscheidung vielleicht sogar durch das Konstrukt der „Willkommenskultur“, das implizit auf einer Spaltung in hilfsbereite „Hiesige“ und hilfsbedürftige „Andere“ basiert. Wie lässt sich diese ideell unablässig vonstattengehende Grenzziehung überwinden – diese Frage debattieren auch Fatima El-Tayeb und Mark Terkessidis im Gespräch mit Pascal Jurt. Wie kann man einer Gesellschaft der Vielheit konstruktiv zuarbeiten, welche die wiederkehrenden Zyklen der „Rassifizierung“ der anderen ein für alle Mal überwindet? Wie zu tragfähigen Koalitionen unter minoritären Gruppierungen gelangen, die der Vielheit Rechnung tragen und Unterschiede nicht vorschnell einem Einheitspostulat opfern?
Eine Art Selbstversuch, das Leid der anderen betreffend, hat Christian von Borries unternommen. Er war einige Zeit als Besatzungsmitglied eines Search-and-Rescue-Schiffs im Mittelmeer unterwegs und hat als unmittelbar Beteiligter das Prozedere rund um die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten miterlebt. Im Gespräch mit Alice Creischer und Andreas Siekmann kommen nicht nur die realen Umstände solcher Hilfsmissionen zur Sprache, sondern auch die bildpolitische Dimension dieser Unternehmungen bzw. der betreffenden Berichterstattung.
Dass in der Identifikation „Wir Flüchtlinge“ oft auch ein verdrängtes Anderes mitschwingt, legt Suzana Milevska in ihrem Essay dar, der vor allem auch den nach wie vor in ganz Europa grassierenden Antiromaismus in Erinnerung ruft. Weitere Beiträge dieser Ausgabe befassen sich mit künstlerischen Reaktionen auf den Brexit (Marlene Riger) oder – mehr ins Positive gewendet – dem Versuch, die Idee einer „Post-Otherness“ im Kunstbereich fruchtbar zu machen (Dietrich Heißenbüttel über die vielfältigen Aktivitäten von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung).
Jenseits der frustrierenden politischen Befunde versucht Europe’s Other der aktuellen Konstellation Lichtblicke auf kultureller und künstlerischer Ebene abzugewinnen: Macht es Sinn, auf einen genuinen Sinn für oder Wert des Europäischen zu pochen? Wo würde dieses anfangen, wo würde es aufhören? Sollte man nicht vielmehr anfangen, das „Andere“ von Europa, das so häufig (positiv wie negativ) beschworen wird, als dessen integralen, immer schon vorhandenen und in ihm wirksamen Bestandteil zu betrachten?