Wien. Aus heutiger Perspektive können wir uns kaum noch einen prädigitalen Zustand vorstellen. Selbst wenn wir nur über einen solchen nachzudenken versuchen, benutzen wir unweigerlich digitale Methoden und Mittel und legen damit einen Filter aus Nullen und Einsen über unsere Wahrnehmung. Ob der Prozess der Digitalisierung unserer Lebensrealitäten jemals abgeschlossen sein wird, ist fraglich – wie weit er geht, bleibt offen. Dass das Eingreifen des Digitalen in den Alltag jedoch sehr weit fortgeschritten ist, beweist der Umstand, dass die Technologien, die dafür verantwortlich zeichnen, immer ausgefeilter und raffinierter werden und die längstens offensichtlichen Charakteristika des Digitalen, seine Ästhetik aber auch seine Funktionen, zum Verschwinden bringen. Diesen Widerspruch von gleichzeitiger Allgegenwart und Unsichtbarkeit digitaler Strukturen kann man als postdigital beschreiben. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Zustand nach dem Digitalen, wie der Begriff zu suggerieren scheint, sondern im Gegenteil, um eine Situation, in der das Digitale als selbstverständlich und mustergültig – ja geradezu als banal, also jenseits des Digitalen – angesehen wird.
Eine Strategie, um die Sicht auf jene gesellschaftlichen Mechanismen frei zu bekommen, die dem Postdigitalen zugrunde liegen und um nicht am eigenen, dazwischengeschalteten Filter zu scheitern, ist der Umweg über den Blick auf künstlerische Praktiken, die sich in der Übergangsphase vom Analogen ins Digitale mit ihren eigenen Mitteln, jenen der Digitalisierung, auseinandergesetzt haben. Ein derartig selbstreflexives, historisches Moment findet sich etwa im Werk des 2006 im Alter von 53 Jahren verstorbenen Zelko Wieners. Die Sammlung zeitgenössischer Kunst der Stadt Wien widmet dem 1953 im ehemaligen Jugoslawien geborenen und ab 1963 in Wien lebenden und schaffenden Künstler zehn Jahre nach seinem Tod eine Retrospektive im MUSA. Kokuratiert von Fiona Esslinger und Ursula Hentschläger, Lebensgefährtin und künstlerische Partnerin Wieners, eröffnet die Schau Einblicke in Bildwelten, die ob ihres analytischen Hintergrunds auch zur Reflexion aktueller medialer und künstlerischer Zusammenhänge herangezogen werden können. Gerade aus diesem Grund hat Zelko Wieners Werk bis heute Bestand und bleibt anschlussfähig an Diskurse über das Zirkulieren von Bildern im Netz und die daran geknüpften Mechanismen der Distribution, über die Handlungsfähigkeit des Menschen in einem durch und durch von Technologie bestimmten Umfeld oder über formal-ästhetische Parameter digitaler Produktions- und Postproduktionszusammenhänge.
Den Grundstein für Zelko Wieners Denken hat der Künstler bereits in seiner Diplomarbeit (Ohne Titel, 1978/80) gelegt. Die ausschließlich in Rot, Gelb, Blau und als Kontrastmittel in Schwarz gehaltene Malerei aus Acryllack, die sich aus mehreren Paneelen zusammensetzt, zeigt den über- und unterirdischen Querschnitt eines Militärstützpunkts. Während an der Oberfläche nur ein paar wenige, ebenfalls im Querschnitt dargestellte Fahrzeuge und Geräte wie Panzer, Raketen und Flugzeuge zu sehen sind, kommt unterhalb eine groß angelegte Maschinerie zum Vorschein. Den BetrachterInnen des Werks zeigt sich ein absurdes technologisches Setting. Es handelt sich dabei um ein symmetrisch angeordnetes Instrumentarium, das trotz Offenlegung seiner Strukturen und Funktionsweisen undurchsichtig bleibt.
Die künstlerischen Strategien, die Zelko Wiener in seiner Diplomarbeit anhand dieses militärischen Motivs entwickelte – etwa das Freimachen von Strukturen und Logiken, das Anknüpfen an gesellschaftspolitisch relevante Themen und Sachverhalte, die Selbstreflexion und die formale Reduktion –, wandte er später vornehmlich auf mediale Gegebenheiten an. Im Jahr 1983 gründete er gemeinsam mit Robert Adrian X und Helmut Mark die Gruppe BLIX. Damit zählt Wiener zu jenen KünstlerInnen, die an der Schnittstelle von Kunst und Telekommunikation arbeiteten und die im Experimentierfeld der frühen Ars Electronica in Linz tätig waren. Das textbasierte Bildschirmmedium BTX nutzte er in diesem Zusammenhang nicht nur als ästhetisches Ausdrucksmittel, sondern machte immer auch gleichzeitig die eigenen, bildschirmbasierten Voraussetzungen zum Thema. Die pixelige 8-Bit-Ästhetik, welche die Bilderwelt damaliger Computer hergab, war dem Künstler ebenso vertraut wie analoge Drucktechniken, Metallverarbeitung oder handgefertigte Objekte aus Ton, die er in der japanischen Urushi-Technik lackierte. Ab Mitte der 1990er-Jahre bis zu seinem Tod arbeitete er gemeinsam mit Ursula Hentschläger am interaktiven Webprojekt www.zeitgenossen.com. Mit dieser Trilogie perfektionierte das Künstlerpaar die netzbasierte Verbindung von Bild, Text, Sound und den BenutzerInnen derart, dass sie zwischen 2000 und 2004 zahlreiche Auszeichnungen für ihr Werk erhielten. Heute gilt das Projekt als Paradebeispiel des „digital storytelling“.
Das Potenzial, mit Wieners Werk an aktuellen künstlerischen Themenkomplexen anzudocken, wird durch die Ausstellung im MUSA geradezu offensichtlich – leider bleibt dieses Potenzial in der Schau selbst jedoch ungenutzt. Eine Konfrontation Zelko Wieners Schaffen mit gegenwärtigen künstlerischen Positionen und ein dazugehöriger Abgleich der Ästhetik hätte dem Œuvre einmal mehr Pionierleistung und Vorreiterschaft eingebracht. Wiederentdeckt kann das Werk aber vermutlich ohnehin nur von der jüngeren KünstlerInnengeneration selbst werden. Aufbereitet für eine solche Reaktualisierung ist es ja nun.