Heft 2/2017 - Krise als Form


Die Katastrophen unserer Krise

Einige vorbereitende Überlegungen über Kunst und antisoziale Sozialisierung

Kerstin Stakemeier


Die Gegenwart erscheint nicht zuletzt deshalb als antisozialer Ort, weil sie Spuren ihrer sozialer erscheinenden modernen Vergangenheit aufweist, einer Vergangenheit, die im Gegenzug heute immer mehr darauf reduziert zu werden scheint, zu genau dieser Gegenwart zu führen. Die verlorene Hoffnung auf eine immanente Verwirklichung moderner Ideale hat sich einmal mehr in der praktischen Brutalisierung ihrer inhärenten gesellschaftlichen Hierarchien zerschlagen. Und innerhalb dieses Prozesses kehren soziale Kategorien, die sich relativiert zu haben schienen, die gesellschaftlich abgegriffen und politisch widerlegt wirkten, einmal mehr als absolute und unausweichliche Stigmata wieder, verstärkt durch die Funktionen, die ihnen innerhalb der allgegenwärtigen Krise zweier Urkategorien der Moderne zukommen: der politischen Form des Nationalstaats und seiner kapitalistischen Reproduktionsform.
Dies ist keineswegs die erste katastrophische Krise der Moderne, aber sie legt ebenso deren grundlegende Brutalismen offen wie auch die Abstammungslinie der Abweichungen, die in ihr verborgen liegen. Die Krise ähnelt einer anderen Vergangenheit als es ihre Überwindung tut. Und so erscheint die Erbschaft der Abweichungen gerade jetzt, im Moment vor der erneut anstehenden Begradigung unserer Gegenwart hin zu einer erneut modernen Zukunft, greifbarer – für jene, die als mögliche Subjekte dieser modernen Zukunft identifiziert worden waren, und für jene, deren Subjektion (Unterwerfung) in ihre grundlegenden Brutalismen verwickelt war. Und wir alle sind beides – wenn auch zu extrem unterschiedlichen Anteilen. Die momentane Aufhebung der ehedem funktionalen „Werte“ dieser Identifikationen für die Verwirklichung besagter moderner Ideale fördert die Heraufkunft antisozialer Sozialisation, mögliche Wege einer gemeinschaftlichen Widerlegung unserer erneuten funktionalen Identifikationen innerhalb einer weiteren modernen Vorlage für unsere Leben.
In einem kleinen Essayband mit dem Titel All This Burning Earth aus dem Jahr 2016 zitiert der Dichter Sean Bonney eine Aussage Jean Genets zu George Jacksons Gefängnisbriefen:
„Ihre Stimmen sind krasser, anklagender und unversöhnlich, sie reißen jeden Bezug auf das zynische Beschwören der religiösen Vorhaben und seiner Bemühungen, die Macht zu übernehmen, heraus. Sie sind singulärer, und singulär auch in der Art und Weise, in der sie alle eine Bewegung anzugreifen scheinen, die die alten Diskurse umwandelt, um den Fluch zu denunzieren, nicht davon, Schwarz zu sein, sondern davon, gefangen zu sein.“1
Dieses Gefühl des Gefangenseins ist auch in Genets eigenen frühen Schriften von zentraler Bedeutung. Exemplarisch legt er es in seinem Roman Notre Dame des Fleurs aus dem Jahr 1943 dar, worin der erlebte Zustand des Eingesperrtseins in die Sprache einer progressiven Desozialisierung übersetzt wird. Und auch hier ist es die Desozialisierung, die einer Autonomie den Weg ebnet, einer antisozialen Autonomie als notwendigem Raum für die Kunst. Dieses Gefühl, ein Gefangener der Gesellschaft zu sein, in der man lebt, lässt – so Genet in Bezug auf Jacksons Gefängnisbriefe – jedes Wort zu Poesie werden, weil es auf der Denaturalisierung aller bestehenden sozialen Beziehungen aufbaut. Jede Form wird ästhetisch und, wenn sie vom Subjekt ausgelebt wird, künstlerisch, weil keine Form positiv sozial bleibt. Keine Form bleibt prosaisch, keine Form kann als gegeben hingenommen werden. Doch schafft diese künstlerische Form – was Bonneys Grund dafür ist, sich in seinem Text auf Genets politische Schriften der 1960er- und 1980er-Jahre zu konzentrieren – eine antisoziale ästhetische Solidarität. Eine, die, im Sinne Genets, geneigt ist, ihre Vorstellungen von Form grundlegend zu intensivieren:
„Und das muss festgestellt werden, und wenn es nur ist, um dem obligatorischen Missverständnis von l’art pour l’art entgegenzutreten. ‚Um der Kunst willen‘ war kaum je wörtlich zu nehmen; es war nahezu immer unter einer Flagge, die eine Fracht mit sich führte, die nicht ausgewiesen werden konnte, da ihr noch ein Name fehlte. Dies ist der Moment, in eine Arbeit einzusteigen, die wie keine andere die Krise der Kunst, der wir beiwohnen, erhellen würde: eine Geschichte der esoterischen Dichtung.“2
Im Sinne Genets waren George Jacksons Briefe Kunst, aber nicht etwa, weil sie danach strebten, Kunst zu sein, sondern weil die von ihm praktizierte Verarmung der Sprache durch die Beschränkungen der Gefängniszensur die funktionale Sozialisierung seiner Worte durchkreuzte und eine Kunst hervorbrachte, eine Ästhetik, die (noch) nicht lesbar war, (noch) nicht eindeutig erkennbar in der ihm auferlegten Gefangenschaft. Es ist das Verhältnis von Subjektion (Unterwerfung) und Subjektivierung, das Genet in seiner Interpretation von Jacksons Gefängnisbriefen verschiebt, denn bei ihm wird die Subjektion zur Subjektivierung. Genet schafft eine Position, innerhalb derer Subjektivierung sich allein aus der Subjektion ergibt; durch das Antisoziale innerhalb der bestehenden Gesellschaft entwickelt sich eine Sozialisierung gegen dieselbe. Genets Vorstellung von Gesellschaft als einem Zustand der Gefangenschaft legt daher weniger ein Modell der ästhetischen Identifikation mit dem Subjekt nahe als vielmehr eines der ästhetischen Solidarität aus der geteilten Subjektion. Die Geschichte wird mittels exemplarischer antisozialer Produktionen umgeformt. Innerhalb eines derartigen Modells werden die antisozialen Kapazitäten äußerst unterschiedlicher und vormals separater, ja für die Gesellschaft letztlich gegensätzlicher Rollen in ihrem geteilten Gefühl der Gefangenschaft relevant. Aber – und hier wird die Tatsache, dass Bonney das praktische Scheitern der versuchten politischen Solidarisierungen von Genet ins Zentrum stellt, zentral: Die negative soziale Identifikation der eigenen ästhetischen Reformation beinhaltet ein bewusstes, ein verantwortliches Verhältnis zur eigenen affirmativen Funktion innerhalb dieser Gesellschaft. Die antisoziale Ästhetik ist an die fragliche Gefangenschaft geknüpft. Und anders als George Jackson haben wir affirmative gesellschaftliche Rollen und Funktionen, die ästhetisch nicht einfach überwältigt, sondern nur destabilisiert oder ausgenutzt werden können. Unser konkretes Verhältnis von Subjektion und Subjektivierung muss eine zentrale Rolle einnehmen, damit die antisoziale Beziehung nicht stillschweigend die Hierarchien der sozialen Verhältnisse übernimmt.
Wenn wir uns an die engen Beschränkungen halten, denen die Suche nach dem ästhetischen Potenzial einer antisozialen Praxis heute unterliegt, heißt das nicht zuletzt, dass die Frage nach ihrer Geschichte unvermeidlich wird. Heute eine antisoziale Kunst anzustreben, impliziert, was Genet „eine Geschichte der esoterischen Dichtung“ nennt und was in unserem Fall „eine Geschichte der esoterischen Kunst“ wäre. Eine Kunst, die esoterisch ist, weil sie ihre bürgerliche Opposition zur exoterischen Vernunft zu einem Angriff auf diese werden lässt. Eine Kunst, die esoterisch ist, weil sie „die Kunst um der Kunst willen“ einsetzt, um Mittel und Zwecke aus einer Sichtweise heraus zu reetablieren, die alle bestehenden Beziehungen denaturalisiert und somit ästhetisch werden lässt. Eine Kunst, die esoterisch ist, weil sie keinen exoterischen Sinn erfüllt, sondern diesen verurteilt und damit jeden Sinn obskur, abstrus, exklusiv und verblüffend erscheinen lässt. Eine Kunst, die esoterisch ist, weil sie nach einem antisozialen Eintritt in eine andere ästhetische Verlaufsform verlangt. Gerade weil man der Kunst als gesellschaftlichen Raum für ästhetisches Schaffen jenseits der Produktion eines Gebrauchswerts und somit jenseits der praktischen Teilhabe an der modernen Gesellschaft heutzutage eine grundsätzliche Autonomie zuschreibt, kann sie als ein Modus Operandi im Sinne Genets betrachtet werden: Die Autonomie der Kunst ist ein Zustand der Gefangenschaft ohne gesellschaftlichen Raum zum Handeln. Genets Version der „Kunst um der Kunst willen“ macht diesen Raum zu einer antisozialen Erweiterung, die zu so unterschiedlichen künstlerischen Vorhaben geführt hat wie dem französischen Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts, dem russischen Futurismus der frühen 1910er-Jahre, den konsequenteren Surrealismen und Dadaismen der 1920er- und 1930er-Jahre, der Destruktionskunst der späten 1950er- und 1960er-Jahre und sexualisierten Interventionen in die zeitgenössische Kunst wie denen von Lee Lozano, General Idea oder Tabea Blumenschein und Ulrike Ottinger, um nur einige zu nennen.
In Ulrike Ottingers Film Bildnis einer Trinkerin. Allez Jamais Retour3 aus dem Jahr 1979 irrt „Sie“ (Blumenschein) durch Berlin und trinkt Cognac und Brandy, bis „Sie“ sich in ihre Umgebung, in deren Reflexionen und Trennscheiben auflöst bzw. sich vollkommen weggetrunken hat. Mit Abendkleid, Stola, Satinhandschuhen, Pumps, perfektem Make-up und darauf abgestimmten Hüten greift „Sie“ in ganz Berlin stets in aufrechter Haltung zum Cognacglas, in Ku’Damm-Cafés, in Kneipen, in Hotelzimmern, in ihren Träumen. Sie arbeitet ihren eigenen touristischen Stadtplan ab und besucht Schauplätze des weiblichen Alkoholismus. Dabei bleibt ihr Trinken in jeder Szene eine koordinierte Aktion, ein Griff, ein gehobener Arm, eine 90-Grad-Bewegung des Kopfes und ... Abschluss. Außerdem spricht „Sie“ während des gesamten Films kaum ein Wort. Ottinger und Blumenschein geht es nicht um eine personalisierte Tragödie, sondern um die unpersönliche Stereotypisierung, die soziale Isolation der Lebensform einer weiblichen Trinkerin. Auch sie ist eine Gefangene und verströmt ihren eigenen „Formalismus“. Blumenschein und Ottinger haben diese Figur (und andere) gemeinsam geschaffen, um aus der Deformation Schönheit entstehen zu lassen, eine Schönheit, die nicht auf Anerkennung aus ist, sondern auf Autonomisierung, ganz im Sinne Genets, Kunst um der Kunst willen, welche die Bindungen und Solidaritäten einer kommenden Sozialisierung etabliert. Bildnis einer Trinkerin erzählt nicht von gescheiterter bürgerlicher Emanzipation. „Sie“ wird nicht zur Trinkerin, „Sie“ ist eine Trinkerin. „Sie“ spricht nicht, sondern wird in der bestehenden Gesellschaft zum Gesprächsgegenstand. Während des gesamten Films befinden sich stets drei Damen in grauen Kostümen an den Orten, die „Sie“ frequentiert: Diese drei, die „gesellschaftliche Frage“, die „exakte Statistik“ und der „gesunde Menschenverstand“, reden über die schreckliche Alkoholsucht bei Hausfrauen, über die Unmöglichkeit genauer Statistiken, weil diese Frauen meist in ihrem bürgerlichen Zuhause gefangen sind, und über die gesellschaftliche Isolation dieser Frauen. All das, während „Sie“ trinkt. Nach den Maßstäben der anderen scheitert „Sie“, aber nach ihren eigenen verwirklicht sie sich. Dass diese Selbstverwirklichung ihren gesellschaftlichen und physischen Tod impliziert, zeugt weniger von „ihrem“ Scheitern als, in der Konsequenz des Films, vom unweigerlichen Widerstand gegen die bestehende Gesellschaft, die ihre antisoziale, entschieden nicht-reproduktive Weiblichkeit ablehnt.
Bildnis einer Trinkerin handelt nicht von der Verbesserung dieser Gesellschaft, vom Einsatz der Kunst – frei nach Joseph Beuys und anderen talentierten Männern –, um die Gesellschaft zu heilen, ihre Brutalismen zu reparieren oder ihre zukünftige emanzipierte Verwirklichung zu projizieren: Der Film etabliert eine ästhetische Form wie die von Genet, die auf der fundamentalen Widerlegung dieser Gesellschaft basiert, darauf, sein Leben als Zustand der Gefangenschaft innerhalb dieser zu betrachten. Und so stellt die von Ottinger und Blumenschein in diesem und anderen Filmen offengelegte Antisozialität – wie im Fall von Genet – nur innerhalb der exoterischen Maßregeln der Gesellschaft, in der sie gefangen gehalten wird, eine Brutalisierung dar, liefert damit aber gleichzeitig ein ästhetisches Beispiel für eine zu Gemeinschaft führende Praxis: eine antisoziale Sozialisation basierend auf einem grundlegenden Gefühl der Entfremdung, welches nicht als korrigierbare Abweichung registriert wird, sondern als abweichende Ästhetik eines zu Recht entfremdeten Lebens. Warum der Gesellschaft entgegenkommen, die den eigenen Ausschluss beinhaltet? Bei Ottinger vermischen sich Dokumentarfilm und Fiktion und wird die dokumentarische Form als Fiktion bloßgestellt und umgekehrt. Die Realität präsentiert sich als brutalistische Fiktion, in der antisoziale Strukturen dokumentiert werden können, die eine ästhetische Solidarität propagieren.

Katastrophe als Lebensprinzip
Das bringt mich zurück zu unserer Gegenwart, in der der Krisenzustand offenbar zum Normalzustand geworden ist. Wie zu Beginn ausgeführt, befinden wir uns in einem historischen Moment, in dem der desozialisierende Charakter der Moderne ihre früheren Idealismen weitgehend zurückgedrängt hat. Mit anderen Worten, das Zeitgenössische ist in der Krise und das schon seit geraumer Zeit. Selbst wenn wir uns an Zeiten erinnern, in denen die Krise nicht unsere prägende Vorstellung der Gegenwart zu sein schien, stellt sich im Nachhinein die Frage, warum das so war. Im Moment sieht es ganz danach aus, als seien diese Zeiten nicht nur vorbei, sondern als schwappten sie durch die Wahrnehmung der Vergangenheit als zu genau dieser Gegenwart führend ebenfalls in diese über. Folglich beschäftigt ein anhaltender Krisenzustand nicht nur die Gegenwart, er wiegt auch schwer auf der Vergangenheit: eine Universalisierung der Krise als Form und ihre Durchdringung aller Lebensbereiche. Wenn wir also analog zu Genet unsere Gesellschaft als Zustand der Gefangenschaft betrachten, stellt sich die Frage, ob diese aktuelle, permanente Form der Krise nicht auch die Wahrnehmung, Gefangene dieser Gesellschaft zu sein, zu einer universellen macht und zum Normalzustand unseres gegenwärtigen Lebens, welches mehr und mehr Menschen einer solchen Wahrnehmung unterwirft, auch solche, die vorher darauf gezählt hatten, ein Subjekt dieser Gesellschaft zu sein. Für Genet liegt die Subjektion (Unterwerfung) im Kern der Subjektivierung. In unserer Gegenwart ist hingegen die Subjektivierung zum Mittel der Subjektion aufgestiegen.
Krisenmomente waren schon immer ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus. Bereits im Kommunistischen Manifest charakterisiert Marx die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft als eine permanente Verlaufsform der Krise, verwoben mit der „primitiven Akkumulation“ des Kapitals. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ – ein Prozess, in dem „altehrwürdige Vorstellungen und Anschauungen […] aufgelöst“ werden, „‚Familienbande‘ [... ] zerrissen“ und „Schwärmerei […] ertränkt“4. Das war 1848. Später, im zweiten Band des Kapitals, den Friedrich Engels erst nach Marx’ Tod veröffentlichte, heißt es, dass nicht die Krisenmomente, sondern vielmehr die vorübergehenden Momente der Stabilität innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft einen bloßen Zufall darstellen.5 Doch auch wenn die Krise eine kapitalistische Normalität ist, so stellt sie dennoch einen signifikanten und unterscheidbaren Aspekt des Kapitalismus dar, nämlich die materielle Erscheinung seiner Form: „In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert.“6 Die vom Kapital geschaffene Sozialität basiert auf einem allgegenwärtigen Antagonismus, in dessen Krise gesellschaftliche Naturalisierung nicht mehr funktioniert und die Ware und ihre Wertform als antisoziale Größen an die Oberfläche dringen.
Ottingers ästhetische Praktiken der Antisozialität durchkreuzen dieses Formempfinden gezielt. Waren werden benutzt, um ihre Wertform zu negieren, die Abendkleider, die Satinhandschuhe, die Pumps, sie alle werden zu Attributen „ihres“ antisozialen Lebens, sie alle werden einzigartig, exzeptionell, nicht reproduzierbar. Ottinger und Blumenschein rufen, wie Genet, auf unterschiedlichen Ebenen dazu auf, den negativen gesellschaftlichen Bund kapitalistischer Sozialität aufzukündigen, den die permanente Reproduktion des Kapitals und seine politische Form, der moderne Nationalstaat, um uns herum einhegen. Doch befinden wir uns heute offenbar in einer Situation, in der diese negative Sozialität selbst zu existieren aufhört. Das liegt wohl daran, dass der heutige Finanzkapitalismus anders als die moderne Industrialisierung, die dazu geführt hat, keine negative Sozialität produziert, sondern ein antisoziales Gefüge, eine Desozialisierung des Kapitals. Wie Maurizio Lazzarato 2011 bemerkte: „Die permanente Krise schreitet von Finanzkrise zu Finanzkrise – wir sollten sie ‚Katastrophe‘ nennen, um so auf die Unterbrechung des Konzepts der Krise selbst zu verweisen.“7 Die Ideologie des derivativen Mehrwerts, die Annahme, dass Mehrwert nicht nur aus menschlicher Arbeit generiert werden kann, wie Marx bekanntermaßen argumentierte, sondern auch aus einem (derivativen) Kreislauf, entkräftet die Rolle der Arbeit als (egal wie erbärmlicher) Kern der gesellschaftlichen Synthese im Kapitalismus und denunziert sie als sekundäres Phänomen. Somit wurde der negative soziale Bund zwischen der Arbeit und der von Marx so benannten Bourgeoisie aufgekündigt. Das Wertverhältnis wurde von einer negativen sozialen Beziehung zu einer antisozialen Beziehung. Und das Kapital verwandelte sich von einer krisengeschüttelten Beziehung zu einer katastrophischen.
Eine derartige Gleichsetzung des Kapitalismus mit Krise und Katastrophe nahm bereits Rosa Luxemburg vor, als sie die Katastrophe als „Lebensprinzip des Kapitalismus“ bezeichnete.8 Was sie in den 1910er-Jahren beschrieb, formuliert Lazzarato in den 2010er-Jahren neu, dass nämlich das Konzept der Krise nicht länger zu einer Gegenwart passt, in der das Krisen-Andere, die Normalität, offenbar nicht zu greifen ist. Schon in Karl Marx’ eigenen Schriften war die Katastrophe als „regularly recurring“9 ein Resultat des „grundsätzlich antagonistischen Charakter der kapitalistischen Akkumulation“10. Die Katastrophe impliziert daher nicht notwendigerweise den Niedergang des Kapitalismus, sondern eher, wie auch der Eintrag zum Stichwort „Katastrophe“ in Wolfgang Fritz Haugs Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus besagt,11 untergräbt sie die Basis jedes modernen administrativen Sinns für Politik im Guten wie im Schlechten, weil „die Dialektik von Fern- und Nahziel stillgestellt [ist]“12.
Die Krise ist ein Prozess der Bewältigung und somit des Werdens, sie kennzeichnet die Materialisierung eines Antagonismus, der sich historisch entwickelt hat und nun seinen Höhepunkt erreicht, einen Höhepunkt, der per definitionem überwunden wird. Die Krise ist eine progressive Kategorie, während die Katastrophe den Zerfall einer zeitlichen Ordnung markiert, einen Zustand der Diskontinuität. Krise und Katastrophe schließen sich daher keineswegs aus – sie stellen vielmehr unterschiedliche Blickwinkel ein und derselben Gegenwart dar. Mit Luxemburg und Walter Benjamin kann ein solches Verständnis von Katastrophe als eine Materialisierung von Zeit jenseits eines reinen Progressivismus verstanden werden. Anders gesagt, kann die Katastrophe als das antisoziale Andere der Krise verstanden werden. Angesichts des katastrophalen Triumphs des Nationalsozialismus erklärte Walter Benjamin 1940 in seiner VIII. These „Über den Begriff der Geschichte“, dass die „Tradition der Unterdrückten uns darüber [belehrt], daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“13 Unsere Aufgabe ist „die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“, um einen revolutionären „Sprung unter dem freien Himmel“ zu ermöglichen.14 Bei Benjamin ist es deshalb nicht die Demonstration des alltäglichen Lebens als Katastrophe, die als revolutionär erachtet wird, sondern die aktive und entschiedene „Katastrophisierung“ seiner Spezifitäten. Und hier rücken Genets Sprache des Gefangenseins sowie Ottingers Dokumente der unmöglichen Wiederkehr wieder ins Blickfeld. Mit anderen Worten, das Katastrophische muss historisch spezifiziert werden, es bedarf einer „Autorschaft“, um eindeutig antisozial zu sein und einen „Sprung unter dem freien Himmel“ vollziehen zu können. Unsere Krise muss zu „unserer“ Katastrophe werden, um uns selbst von den Bindungen ihres – anstatt unseres – Lebens zu entfremden.
In Genets Verständnis von Gesellschaft als einem Verhältnis der Einkerkerung wie auch in Ottingers und Blumenscheins Drang, aus der Deformation Schönheit entstehen zu lassen, eröffnet die antisoziale Kunst Wege in eine ästhetische Praxis der Katastrophe. Sie hält, wie Benjamin argumentiert, an einem „wirklichen Ausnahmezustand“ fest, um darauf eine neue Vorstellung vom Leben aufzubauen. Sie projiziert eine „Kunst um der Kunst willen“, die sich dagegen auflehnt, ihre ästhetischen Praktiken als Mittel zur Bewältigung einer bestehenden Krise zu verstehen, die sich dagegen auflehnt, brutalistische Politiken auszugleichen (was sie praktisch gesehen ohnehin nicht kann), und stattdessen ihren katastrophischen Charakter ästhetisch aneignet, um so den „Sprung unter dem freien Himmel“ zu ermöglichen. In einer Gegenwart, die sich selbst als die antisoziale Version eines negativen sozialen Verhältnisses namens Kapital präsentiert, entwirft eine wiederbelebte Historie antisozialer Kunst Beispiele von katastrophischer ästhetischer Solidarität, Abstammungslinien einer Kunst um der Kunst willen, deren Sozialisation noch bevorsteht. Die brutalisierten Ideale der modernen Autonomie lassen unsere Rollen in ihr zu Zuständen des Eingesperrtseins werden, die keine Rückkehr ermöglichen. Keine Rückkehr, aber eine fortdauernde ästhetische Qualifizierung unserer Katastrophe, unserer gemeinsamen Katastrophe, unserer gelebten und lebendigen Katastrophe. Unserer möglichen bevorstehenden (antisozialen) Sozialisation.

Übersetzung aus dem Englischen: Gaby Gehlen

 

 

1 Sean Bonney, All This Burning Earth. Selected Writings. London 2016, S. 40.
2 Ebd., S. 41.
3 Vgl. www.ulrikeottinger.com/index.php/bildnis-einer-trinkerin.html.
4 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 4. Berlin 1972, S. 465, 478, 464f.
5 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 24. Berlin 1972, S. 491.
6 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 23. Berlin 1962, S. 152.
7 Maurizio Lazzarato, Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Berlin 2012, S. 108 (die Übersetzung wurde von der Autorin an die englische Fassung angeglichen).
8 Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben: eine Antikritik, in: dies., Gesammelte Werke, Band 5. Berlin 1990, S. 520.
9 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 42. Berlin 1983, S. 643 (Englisch im Original).
10 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 23. Berlin 1962, S. 675.
11 Vgl. Berliner Institut für kritische Theorie e.V. (InkriT), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, ab 1983.
12 Ebd. Band 7/I, S. 440.
13 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften I.2. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1991, S. 392.
14 Vgl. ebd. S. 396.