Heft 2/2017 - Lektüre



Alain Badiou :

Versuch, die Jugend zu verderben

Berlin (edition suhrkamp) 2016 , S. 71

Text: Justin Hoffmann


Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn

Sicher hängt es auch mit seinem hohen Alter (80 Jahre) zusammen, dass sich Alain Badiou mit einem Buch speziell an die Jugend wendet. Offensichtlich hat er Interesse, wesentliche Erkenntnisse an eine jüngere Generation weiterzugeben. Das ist verständlich und begrüßenswert. Ob der Text als Veröffentlichung der edition suhrkamp tatsächlich an Jugendliche gelangt, ist eine andere Sache. Der provozierende Titel der deutschen Fassung könnte jedenfalls Jugendliche ansprechen. Dabei ist der Buchtitel bewusst missverständlich. Er lässt anderes vermuten als eine Warnung vor den heutigen Verführern der Jugend, von denen es in der Tat jede Menge gibt. Badious Text will gleichsam gegen die Verführer verführen. Er will die Jugend in der Tradition von Sokrates verderben. Sokrates wurde zu Lebzeiten angeklagt und verurteilt, weil er mit seinen Ideen angeblich die Jugend verderben würde. Dessen Gedanken von einem wahren Leben greift Alain Badiou auf und versucht, sie zu konkretisieren. Anlässe für Badious Rat der Philosophie gibt es viele. Der viel beschworene Hedonismus, der angeblich die heutige Jugend kennzeichnet, ihr Drang nach Prosperität und Sicherheit, aber auch die geringer werdende Zahl von SchülerInnen- und Studierendenprotesten in Mittel- und Westeuropa könnten Gründe dafür sein. Badiou nennt in seinem Buch zwei Aspekte, die er als Feinde der Jugend bezeichnet, da sie sie vom wahren Leben entfernen. Erstens ist das der Wunsch nach schnellem Genuss, nach Party, nach Rauschzuständen usw., der, wie er schreibt, ins Nichts führt. Badiou bezeichnet dies als „am Leben verbrennen“. Zweitens ist es das Streben nach einer bedeutenden Stellung im kapitalistischem Gesellschaftssystem, das durch Reichtum und Macht gekennzeichnet ist.
Wie Badiou betont, hat sich die Bedeutung des Begriffs Jugend in den letzten Jahren stark gewandelt. Die Jugend wurde inzwischen extrem aufgewertet, während das Alter, mit dem in früheren Gesellschaften Eigenschaften wie „weise“ oder „erfahren“ konnotiert waren, entsprechend abgewertet wurde. Auch der Verriss des Buchs von Pascal Jurt in Spex mit dem Gesamturteil „ganz altväterliches Ding“ kann mit der Diskreditierung des Alters und der Überbewertung der Jugend in Verbindung gebracht werden. Man spricht nicht von ungefähr vom Jugendwahn, der Jugendliche vor allem biologisch, als jungen Körper begreift.
In den letzten zwei Jahrzehnten mehrten sich die kritischen Stimmen zur Jugend. Noch bis in die 1980er-Jahre wurde die Jugendkultur positiv gesehen. Als der umfangreiche Band Schock & Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert im Jahr 1986 veröffentlicht wurde, schien die Welt der Jugend noch in Ordnung. Dieser Reader beschreibt die Erfolgsgeschichte der Jugend in zahlreichen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen. Anfang der 1990er wurde der bisweilen verklärte Blick auf die Jugend durch das Auftauchen junger Neonazis gestört. Diedrich Diederichsen setzte mit seinen proklamatischen Text „The kids are not alright“(1992) dabei einen wichtigen Akzent. Die soziale Rolle der Jugend wurde nun desillusionierter diskutiert.
Alain Badiou stellt die Debatte in einen größeren historischen Rahmen, und zwar jenen der Geschichte der Philosophie und ihrer Haltung zur Jugend seit der Antike. Dabei kommt die popkulturelle Vorreiterrolle, die Jugend spielen kann, zwar etwas zu kurz, aber in der Tat scheint diese Option durch Phänomene wie den Konsumismus heute verdeckt zu werden. Auch die von ihm festgestellte Orientierungslosigkeit der Jugend begründet er historisch. Sie ist ein Resultat der fehlenden symbolischen Ordnung, wie sie tradierte hierarchische Gesellschaftssysteme kennzeichnete. Stattdessen dominieren in allen Lebensbereichen die harten ökonomischen Gesetze. Interessant ist Badious These der reziproken Entwicklung von Jungen und Mädchen. Während bei den männlichen Jugendlichen die Adoleszenz immer weiter hinausgeschoben wird, sie dadurch später erwachsen werden und jede Menge Spielsachen im weitesten Sinn erwerben, löst sich das Mädchensein nahezu auf. Das Mädchen ist nur mehr junge Frau. Sie schminkt und kleidet sich wie eine erwachsene Frau und kauft die gleichen Produkte. Auch die besseren Leistungen von Schülerinnen gegenüber ihren männlichen Mitschülern sieht er darin begründet. Schülerinnen machen sich mehr Gedanken um ihre Zukunft, sind gewissenhafter und ernsthafter bei der Sache. Badiou resümiert, dass wir schon seit 40 Jahren in einem postideologischen Zeitalter leben. Die Jugend heute wächst gleichsam „ohne Idee“ auf: „Dem Sohn fehlt die Idee, weil er zu wenig Mann ist, der Tochter, weil sie zu viel Frau ist.“ Als Substitut fungiert der Wettbewerb der Waren und Marken.
Versuch, die Jugend zu verderben lässt sich auch als Überblicksband zu Badious Gedankenwelt verwenden, in dem der Autor in komprimierter Form und leicht lesbar wesentliche Vorstellungen zusammenträgt. Von daher lohnt es sich auch für Ü18, in diesem Band zu blättern.