Heft 2/2017 - Netzteil
Unter einem Shortcut versteht man gemeinhin eine Tastenkombination, die dem Computer Befehle erteilt – etwa das Kopieren markierter Elemente, das Senden einer E-Mail oder Speichern eines Dokuments –, für die man sonst umständlich mit der Maus hantieren müsste. Ein Shortcut spart in erster Linie Zeit. Kürzlich griff eine Überschrift in Texte zur Kunst diese Bezeichnung auf, um eine Verbindung zwischen der Poetik des Brandings und der mit dem Schlagwort Post-Internet assoziierten Kunst der 9. Berlin Biennale anzudeuten.1 Was aber macht Kunst, wenn sie Shortcuts verwendet? Und welche Problematik ist damit, auch vor dem Hintergrund digitaler Vernetzung, verbunden?
Die Post-Internet Art ist nicht die erste, an die der Vorwurf, es sich über abkürzende Schlüsselreize zu leicht zu machen, gerichtet wird. Auch die Arbeiten der Young British Artists (YBAs), zu denen in den 1990er-Jahren etwa Damien Hirst, Tracey Emin oder Sam Taylor-Wood zählten, wurden als aufmerksamkeitsheischende Oberflächenphänomene und Insiderwitze kritisiert. „[H]igh art lite“, wie Julian Stallabrass die Kunst der YBAs nennt, „took on an accessible veneer, building in references and forms that people without specialist knowledge would understand – and even sometimes, in its use of mass culture, incorporating material that those with specialist knowledge would generally not understand.“2
Positiv formuliert könnte man zusammenfassen: Shortcuts bieten einen leichten Einstieg für alle, die bisher wenig mit Kunst zu tun hatten, und machen neugierig auf das, was unter der „Verpackung“ noch alles zu entdecken ist. Man könnte aber auch sagen: Indem eine Arbeit oberflächlich Kunst und Popkultur fusioniert, bedient sie sich einer Strategie der Kulturindustrie, die ein Sortiment an möglichen Zugängen schafft und jede BetrachterIn bei ihren bzw. seinen individuellen Vorlieben abholt. Obwohl die Bezüge zur Massenkultur ein breiteres Publikum erreichen, scheint hier weniger eine Demokratisierungsmaßnahme als eine Marketingstrategie am Werk, die Offenheit suggeriert, wo sie insgeheim exklusiv bleibt.
Das Problem mit Shortcuts ist: Man muss sie erst einmal kennen. Shortcuts sprechen wenig aus und verweisen doch auf vieles. Sie machen komplexe Prozesse scheinbar kinderleicht handhabbar, adressieren jedoch verstärkt eine Gruppe von Insidern. Dies gilt auch für die Post-Internet Art, deren Publikum vor allem in der Schnittmenge von Nerds und KunstkennerInnen zu suchen ist, während alle anderen auf die Outsider-Rolle beschränkt bleiben.
Ganz ähnlich funktionieren auch im Netz zirkulierende memetische „image macros“, die Bilder aus den Massenmedien digital verfremden, ironisch variieren und immer wieder neu kontextualisieren. Beliebte Meme werden schnell zum Mainstream, bewahren sich aber meist ihren Charakter als Codewort, das nur Insider einer Netzcommunity „richtig“ verwenden können.
Viele der mit der Post-Internet Art assoziierten KünstlerInnen interessieren sich für populäre Bildkonventionen, für Attraktoren „larger than the individual“ (Timur Si-Qin) und „trending topics“ (Amalia Ulman), die eher auf „Likes“ schielen, als zu provozieren.3 Während die YBAs den Shortcut des Schocks kultivierten, setzt die Post-Internet Art auf die ästhetischen Kategorien des Niedlichen, Verrückten und Interessanten, die Sianne Ngai mit unserem Verhältnis zu Konsumprodukten, zum Flexibilitätsimperativ der vernetzten Arbeitswelt und zur stetigen Flut zirkulierender Informationen in Verbindung bringt.4
Auch die Post-Internet Art operiert in bunt gemischter Stock-Image-Fantasy-Meme-Geek-Motivik aus Drohnen, Make-up, Tiermotiven, digitalem Marmor, Hautähnlichem, Bonbonfarbenem, Freigestelltem und Assembliertem in vielfältigen Formaten mit diesen Kategorien. Der vielleicht am meisten unterschätzte Shortcut in der zeitgenössischen Kunst – der eine Verbindung zur Thematik von Leben und Tod mit dem Schockeffekt der YBAs teilt – erweitert jedoch Ngais Spektrum ästhetischer Kategorien: „the sad“ hat in der Internetkultur verschiedene Konnotationen, von denen hier die Verbindung zum Genre „Vaporwave“ am meisten interessiert.
Vaporwave ist eine zum Internetphänomen avancierte, mit dem Subgenre „Sadcore“ verknüpfte Musikkategorie, die sich einer vernebelten Hintergrundmusik verschreibt, wie man sie aus Fahrstühlen, Hotellobbys oder Dauerwerbesendungen kennt.5 Diese wird stark entschleunigt, abschnittsweise geloopt und mit einprägsamen Visuals versehen.
YouTube-Videos und Facebook-Gruppen schwelgen in psychedelisch regenbogenverlaufenen Mise-en-abyme-Exzessen, dekoriert mit antiken Büsten, Retro-Computern und Motiven aus Konsum-Erlebnistempeln: Unter Palmen und poliertem Edelstahl, Fiji-Wasser und Fernostflair, zwischen Wellness, Esoterik und Anime-Tristesse steigt eine mit ironisierender Selbstbemitleidung der Generation „younger than Jesus“ nur unzureichend beschriebene spleenige Traurigkeit mit einem Faible für absonderliche Arrangements aus Markenprodukten auf.
Tatsächlich sehen manche Post-Internet-Arbeiten, etwa von Timur Si-Qin, aus wie installative Umsetzungen eines Vaporwave-Wallpapers: In Premier Machinic Funerary: Part I (2014) flankieren monströse Gestecke aus weißen Lilien und Margeriten eine in bläulich-mildes LED-Licht getauchte, von innen scheinbar mit kondensierendem Wasserdampf beschlagene Acrylglas-Box, die den 3D-Druck eines menschlichen Fossils birgt. Die Anmutung des Settings liegt zwischen Messekoje und Aussegnungshalle, umweht vom Hauch des Cyberspace, durchtränkt mit blütenzarter Vanitas-Symbolik.
In Premier Machinic Funerary: Part II (2014) blicken Models in einer durch elegante Graustufen betonten antikischen Statuenhaftigkeit von großformatigen Bannern desinteressiert und verletzlich zugleich an uns vorbei. Really sad. Auch Si-Qins von Samurai-Schwertern durchbohrten und regenbogenfarbene Pfützen am Boden bildenden Axe-Duschgel-Behältern lässt sich eine Affinität zur beschriebenen Bildsprache attestieren.
„The sad“ ist eine in der Kontemplation banaler Dinge entstehende Traurigkeit, die danach drängt, sich mitzuteilen, um bestätigt und fortgeführt zu werden, durch Kommentare, Emoticons, Folgebilder. Durch ihre Verbreitung über die Social Media verbleibt sie meist im affirmativen Stadium. Um aber zu erkennen, wie sich die Post-Internet Art zu Ausdrucksformen wie dieser oder den oben genannten Kategorien verhält und dabei nur millimeterweit neben der Standardästhetik des rein Kommerziellen einschlägt, genügt es nicht, ihre Bezüge zur Internetkultur nur festzustellen. Vielmehr gilt es, genau hinzusehen, wo die zitierten Motive jenseits und am Rande der Kunst auftauchen, und auf welche Weise sie in einen Austausch mit etablierten Strategien und Topoi der Kunst treten.
Shortcuts sind ästhetische Kniffe, die zum Konsum der Kunst einladen. Nimmt man sie aber als Einstieg in eine auf genauer Beobachtung basierende Diskussion, können uns die von den KünstlerInnen genommenen Abkürzungen auf produktive Umwege schicken. Die für viele Begegnungen mit der Post-Internet Art charakteristische Spannung zwischen Durchblick und Übersichtsverlust, die mit einer Ambivalenz von Demokratisierung und Kritik einerseits und Kommerzialisierung und Affirmation andererseits verbunden ist, kennzeichnet auch das Surfen im Netz generell. Zentral in der Auseinandersetzung mit der Post-Internet Art ist es also, diese Spannung ernst zu nehmen und auszuhalten, das heißt, dieser Kunst nicht mit derselben Oberflächlichkeit, die man ihr vielleicht gerne vorwerfen möchte, sondern mit Beharrlichkeit und Frustrationstoleranz gegenüberzutreten.
1 Vgl. Short Cuts: Berlin Biennale 9, in: Texte zur Kunst 103 (September 2016), S. 169ff.
2 Julian Stallabrass, High Art Lite. The rise and fall of young British art. London 2006, S. 9.
3 Timur Si-Qin, Stock Photography as Evolutionary Attractor, in: DISmagazine; http://dismagazine.com/dystopia/42017/stock-photography-as-evolutionary-attractor/; Rachel Corbett, How Amalia Ulman Became an Instagram Celebrity (2014); www.vulture.com/2014/12/how-amalia-ulman-became-an-instagram-celebrity.html.
4 Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting. Cambridge/London 2012.
5 Vgl. Adam Harper, Vaporwave und die Pop-Art der virtuellen Plaza, in: >Jungle World 34, 22. August 2013; http://jungle-world.com/artikel/2013/34/48334.html.