Es ist nun bereits über ein Vierteljahrhundert her, seit die Sowjetunion formal aufgehört hat zu existieren. Dennoch zeigt der Niedergang dieses ehemaligen Imperiums auch heute noch vielerlei Nachwirkungen. So lassen sich viele gegenwärtige Probleme, von politischen bis hin zu sozialen und ökonomischen Spannungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, einzig vor dem Hintergrund dieses immer noch nachwirkenden historischen Prozesses verstehen. Neue Eliten sind an die Stelle der alten gerückt. Lang schwelende Konflikte sind ernsthaft und mit unabsehbarem Ende ausgebrochen. Neue geopolitische Bruchlinien und Einflusssphären ziehen sich heute kreuz und quer durch die Region des ehemaligen Sowjetblocks. Je weiter entfernt die Aussicht auf eine gesamteuropäische Einigung scheint, desto mächtiger zeichnet sich ein neu erstarktes Russland am Horizont ab. Schlägt das Imperium auf diese Weise zurück?
Tatsächlich ist ein neuer Nationalismus, egal wohin man blickt, an die Stelle der ehemals verbindenden Idee eines nationenübergreifenden Sozialismus getreten. Eines Sozialismus, der rückblickend je nach Land unterschiedlich eingeschätzt wird und nach wie vor Zündstoff für eine konfliktreiche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bietet. Doch ohne eine Beschäftigung mit dem gemeinsamen sowjetischen Erbe, seinen kolonialen räumlichen Strukturen und seinen emanzipatorischen Aufbrüchen kann eine Versöhnung in der Region kaum gelingen. Im Zentrum der Ausgabe "Das Imperium schlägt zurück?" steht das Motiv des Umgangs mit dem baulichen Erbe der Sowjetunion, das die Städte und Erinnerungen in der Region aktuell immer noch miteinander verbindet, vielfach aber auch trennt. Ebenso zentral sind dabei, wiewohl oft weniger sichtbar, die aufgeklärt-demokratischen städtischen (Sub-)Kulturen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen, die während der letzten drei Jahrzehnte ihre oft schwierige künstlerisch-politische Arbeit entfaltet haben.
Ausgangspunkt der Ausgabe ist das von tranzit.at initiierte Projekt "The Empire Strikes Back?", im Zuge dessen im Herbst 2016 eine Gruppe von Intellektuellen, UrbanistInnen, ArchitektInnen, AktivistInnen und anderen AutorInnen durch Städte wie Jerewan, Tiflis, Chisinau, Moskau, Minsk und Kiew gereist ist. Im Mittelpunkt stand dabei, neben lokalen Bestandsaufnahmen, eine Untersuchung der strukturellen Gemeinsamkeiten, die sich hinter Beschreibungskategorien wie "postsowjetische Gesellschaft" verbergen. Diese wurde anhand verschiedener urbaner Situationen auf ihre lokale Eigenart und die immer noch laufenden Transformationsprozesse hin untersucht. Aus der gemeinsamen Vergangenheit im "Imperium" und der getrennten, obgleich geteilten Erfahrung der postsowjetischen Stadt sollten nicht zuletzt Modelle einer gemeinsamen Zukunft erkennbar werden.
Die Ausgabe "Das Imperium schlägt zurück?" greift zentrale Ergebnisse dieses Projekts auf und ergänzt sie um weiterführende, über den unmittelbaren Projektverbund hinausgehende Perspektiven. So legen Wolfgang Kil und Georg Schöllhammer in ihrem Eingangstext, der auf eine gemeinsame Projektpräsentation zurückgeht, anhand markanter Beispiele ihrer Sicht auf das architektonische Sowjeterbe dar. Wolfgang Kil befasst sich mit den Ausstellungen der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh), die ab den 1930er-Jahren in mehreren Städten, zum Teil mit Unterbrechungen und später neu fokussiert, unterschiedliche "Modernen" in sich komprimiert zur Darstellung brachten. Ähnliche Prozesse bilden sich in der Architekturgeschichte der armenischen Hauptstadt Jerewan ab, die gleichfalls die Existenz mehrerer, paralleler, teils in Konflikt miteinander stehender, teils aber auch ineinander verschränkter Modernen bekundet.
Welchen Bedrohungen diese verschiedenen Modernen heute ausgesetzt sind, wird anhand der von Ruben Arevshatyan ausgewählten Beispiele aus der Stadtgeschichte von Jerewan deutlich. Meisterwerke des Modernismus werden zum Teil abgerissen, um für Neues Platz zu machen, oder sind schlichtweg dem Verfall preisgegeben. Einer ähnlichen Problematik widmen sich Dimitrij Zadorin und Jewhenija Hubkina. Dimitrij Zadorin beleuchtet in seinem Beitrag eine angesichts architektonischen "Exzellenzdenkens" häufig übersehene Geschichte, nämliche jene der standardisierten Wohnbaumoderne im gesamten Sowjetbereich, um die heute ein nicht zuletzt auch ideologischer Kampf ausgefochten wird. Jewhenija Hubkina legt ihr Augenmerk auf einen aktuell hochbrisanten Brennpunkt der Auseinandersetzung, die ost-ukrainische Stadt Charkiw, wo auf konfliktreiche Weise die Interessen russischer und ukrainischer Einflusssphären aufeinanderprallen.
Neben Schlaglichtern auf lokale historische Sowjetmodernen, ausgeführt etwa im Beitrag des Architekten Gaga Kiknadze im Hinblick auf die georgische Hauptstadt Tiflis, steht die Beschäftigung mit unterschiedlichen gegenwärtigen Problemlagen im Mittelpunkt. Boris Chukhovich etwa geht dem Bauboom, entfacht von machthungrigen Neoautokraten, in zentralasiatischen Staaten wie Usbekistan nach. Stefan Rusu fragt, welche Auswirkungen die versuchte Aktualisierung ehemaliger modernistischer Städtebaukonzepte auf Kapitalen wie Bukarest oder Chisinau hat. Olga Shparaga schließlich geht über den engeren Fokus auf das bauliche Sowjeterbe hinaus. In ihrem Essay diskutiert sie anhand der politischen und sozialen Situation in Belarus die immer gravierender werdende Kluft zwischen einem "guten" und einem "schlechten" Universalismus. Shaparaga sieht inmitten dieser Polarisierung vor allem einen zivilgesellschaftlich orientierten Kunstaktivismus gefordert. Auch das ein treffendes Bild für die postsowjetische Gegenwart, die die einzementierten Zeugnisse des Imperiums nicht so einfach loswird.