Heft 3/2017 - Das Imperium schlägt zurück?


Risse im Empire

Über Denkmäler der Sowjetmoderne – anhand der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh) und Beispielen aus der Architekturgeschichte Armeniens

Wolfgang Kil, Georg Schöllhammer


In der Geschichte der Sowjetunion lassen sich mehrere Modernen voneinander unterscheiden, und insbesondere ab 1960 kommt es zur Entwicklung dreier paralleler Modernen, die gleichwohl miteinander verschränkt sind. Die Erste davon kann in der Industrialisierung und der Verstädterung der Gesellschaft gesehen werden – die Wohnbaumoderne oder auch Plattenbaumoderne, die mit standardisierten Typen die großen Stadterweiterungsprozesse vorantrieben. Dazu gibt es eine zweite Moderne, die sich in den 1960er-Jahren verstärkt dem Konstruktivismus zuwendet und diesen in den einzelnen Republiken unterschiedlich umsetzt. Schließlich existiert in der Zeit noch eine dritte, internationalistische Moderne, im Zuge derer SowjetarchitektInnen beginnen, mit westlichen Architektursprachen zu experimentieren. Im Folgenden lesen Sie Auszüge einer Gemeinschaftspräsentation im Rahmen des Forschungsprojekts The Empire Strikes Back?1, in der die Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh) sowie die Architekturgeschichte Armeniens als Beispiele dieser komplexen Modernekonfiguration gelesen werden.

Wolfgang Kil: Unter den unzähligen Einzelfragen, die sich an die Baugeschichte der Sowjetunion stellen lassen, möchte ich mich im Folgenden mit den WDNCh, den Ausstellungen der Errungenschaften der Volkswirtschaft, befassen. Die erste WDNCh – sozusagen die Urversion – entstand in Moskau vor dem Zweiten Weltkrieg in der Hochphase des Stalinismus, den 1930er-„Terrorjahren“, als auch der Bau der Moskauer Metro begonnen wurde. Der Krieg hat all die grandiosen Bauprojekte erst einmal zum Erliegen gebracht, weshalb die WDNCh, die man heute weithin kennt, mit ihren wichtigsten Pavillons aus dem zweiten Anlauf in den frühen 1950er-Jahren stammt. Unschwer zu erkennen: auch da noch reinster Eklektizismus! Dieses Pandämonium entfesselter Formen darf sehr wohl als architektonische Stilfibel gelesen werden – als Apotheose Stalin’scher Machtrepräsentation, zugleich aber auch als Parade folkloristisch-volkspädagogischer Architekturelemente; man würde das heute vielleicht „forcierten Regionalismus“ nennen.
Da die Sowjetunion sich als multinationales, mithin auch multikulturelles Konstrukt verstand, waren im Stalin’schen Architekturkanon den einzelnen Unionsrepubliken jeweils „nationale Formen“ zugeordnet. So wurde versucht, anhand allgemein verständlicher Dekormotive nationale Eigenheiten (auch Klischees) in Architektur umzumünzen. Besonders drastisch zeigt das etwa der Usbekische Pavillon, der von orientalischen Motiven geradezu überquillt, oder der Pavillon von Karelien, der angesichts endloser finnischer Wälder natürlich mit Holz gebaut wurde.
Eine litauische Kollegin hat angeregt, die WDNCh Moskau als sowjetische Variante der historischen Kolonialausstellungen zu interpretieren – so ähnlich wie früher in Wien, London, Paris oder Lissabon, den Zentren damaliger Imperien, die angegliederten (oder unterworfenen) Ländereien volksfestartig Revue passieren durften; je bunter und exotischer es dabei zuging, desto weiter reichte die Macht des Imperiums. Ich halte diesen kulturhistorischen Vergleich für produktiv und würde ihn in unseren Debatten zum Thema „Sowjetgeschichte“ gerne weiterverfolgen.

Schöllhammer: Gegenwärtig erfüllt die stalinistische Architektur in Moskau aber auch eine ideologische Funktion. Wenn man auf das Gelände geht, hört man sowjetische Musik aus den 1960er/70er-Jahren, die die Generation der Eltern oder Großeltern noch kennt und von den Jungen heute wieder gehört wird. Es ist ein ideologisches Instrument der Reinstallation einer imperialen Idee von Russland mit den Mitteln der Nostalgie auf die verlorene Sowjetmacht. Es ist kurios, wie sich in diesem Gelände im Moment der Imperialismus widerspiegelt. Dazu eignen sich stalinistische Figuren bestens, weil sie Projektionen offenhalten, weil sie keine Gegenwart simulieren, sondern eine imperiale Vergangenheit simulieren, und dies wird kurioserweise mit modernistischer Musik aus Filmen der Sowjetzeit dargestellt. Das Gelände ist zu einer großen Ideologiemaschine für das Putin-Russland mutiert.

Kil: In Putins Russland wird derzeit generell auf Geschichtspolitik gesetzt. Die größte Geschichtsausstellung, die Moskau momentan zu bieten hat, ist auf dem WDNCh-Gelände in zwei riesigen, extra neu hergerichteten Glaspavillons zu besichtigen. Plakate für diese Megaschau werben in der Stadt auf Schritt und Tritt.
Als kleiner Widerhaken für die These von der „Kolonialausstellung“ sei nun kurz jene andere Ausstellung erwähnt, die wie eine verkleinerte Ausgabe des Moskauer Originals wirkt: Auch Kiew hat eine WDNCh mit lauter delikaten (und durchwegs extrem gepflegten) Tempelchen im feinsten Eklektizismus, mit Wasserspielen, Grünachsen und Freizeitflächen unter schattigen Bäumen. Die Ukraine war stets das zweitwichtigste Land der Sowjetunion und genoss darum manche Bevorzugung. Doch bei allen formalen Ähnlichkeiten hat die Kiewer Variante nicht die politische Brisanz wie ihr Moskauer Vorbild. Kein Triumphalismus, es ist eben nur die „kleine Schwester“. Und man denkt angesichts solch geballter kleinbürgerlicher Freundlichkeit eher an das Marx’sche Diktum von der Geschichte, die sich als Farce wiederholt. Eine Farce immerhin, die speziell für ArchitektInnen durchaus angenehmes Augenfutter bietet.
Nun haben sie in Kiew allerdings das Problem, dass „kommunistische Symbole“ im ganzen Land seit dem Dekommunisierungsgesetz eigentlich verboten sind. In der Kiewer Innenstadt sind tatsächlich schon Kunstwerke, etwa in Metrostationen, verhängt oder zerstört worden. Doch die Pavillons der WDNCh sind mit sowjetischer Symbolik rundum überzogen, geradezu durchwirkt. Wollte man stur nach Gesetz handeln, müsste das Expo-Gelände komplett abgeräumt werden, was allein schon ökonomische Interessen verhindern. Hier wird eine generelle postsowjetische Erfahrung offenbar: Bildersturm als Staatsräson scheitert schlicht an der Allgegenwart der missliebigen Relikte.
Doch nun zur vielleicht größten Überraschung: Auch in Tiflis gibt es eine WDNCh! Kaum war Nikita Chruschtschow 1958 zum Ministerpräsidenten aufgestiegen, hat er die gesamte Union bereist. Georgien kam 1960 an die Reihe, und den BürgerInnen dieser paradiesischen Bergrepublik hat er versprochen, dass sie auch so eine schöne Leistungsschau bekommen. Und weil der Stalinismus ja nun glücklicherweise passé war, durfte die WDNCh in Tiflis mit zeitgemäßen Formen brillieren. Chruschtschow gilt generell als Wegbereiter der architektonischen Moderne in der Sowjetunion, in Tiflis hat er dazu interessanterweise das Thema „Industrieausstellung“ genutzt. Anders als in Moskau oder Kiew ist die WDNCh in Tiflis mehr oder weniger das Werk eines Architekten. Lewan Marmaladse hat bis 1968 mit seinem Kollektiv fast das ganze, vergleichsweise kleine Parkgelände zu einem heiteren Ensemble gestaltet, an dem sich die Aufbruchsstimmung der „Tauwetterjahre“ sehr gut ablesen lässt. Auch hier war ja bis dahin eklektizistisch gebaut worden, da lässt sich nachfühlen, was für ein Akt der Befreiung es war, endlich internationalen Tendenzen folgen zu können. Wenigstens mit diesem Erbe sind die GeorgierInnen im Reinen, sie versuchen es im internationalen Messegeschäft zu vermarkten.
Kommen wir jetzt zu Fragen, vor denen DenkmalpflegerInnen bei der WDNCh Moskau heute stehen. Seit den späten 1960er-Jahren war die national-geografische Widmung der Pavillons durch Themen aus Wissenschaft und Technik (Chemie, Biologie, Elektrotechnik, EDV, Weltraumfahrt usw.) ersetzt worden. Und dann haben sich etliche Länder nach Austritt aus der Sowjetunion von „ihren“ Pavillons auch noch distanziert. Andere Länder, die weiterhin auf der großen Moskauer Bühne präsent sein wollen (wie Armenien oder Kirgistan), bespielen diese bis heute. Die meisten der Pavillons sind mittlerweile wechselnd kuratierte Ausstellungsräume oder werden von der städtischen Betreibergesellschaft als Eventlocations vermietet.
50 wechselvolle Jahre haben den Bauten arg zugesetzt. Einige unsanierte Objekte rotten still vor sich hin (was die BetrachterInnen beim ungemein prachtvollen Palastbau der Ukraine besonders schmerzt). Ehrgeizige Länder, wie etwa Belarus, haben ihre Pavillons aufwendig restauriert. Und dann gibt es noch eine Reihe von Pavillons, etwa der ursprünglich georgische oder der aserbaidschanische, die in den 1960er-Jahren „modernisiert“ wurden, das heißt, ihr krasser Folklorismus verschwand unter einer schnörkellos glatten Verkleidung. Die stehen jetzt ziemlich fremd inmitten all der exotisch eklektischen Nachbarn.
Als nun in den 1990er-Jahren von einem der verkleideten Pavillons die Verhüllung wieder abgenommen wurde, kam plötzlich die orientalische Prunkfassade Aserbeidschans zum Vorschein, genauer natürlich: deren Reste. Irgendein beherzter Denkmalpfleger entschied: Aufhören! Lassen wir wenigstens das Trägergerippe der Umhüllung stehen! So wird nun zwischen den Gerüststangen ersichtlich, dass vom alten Pavillon gar nicht viel beseitigt worden war. Einfach zugehängt hatten sie ihn damals, und wenn man die dünnen Bleche herunternimmt, ist die ganze stalinistische Deko wieder da.
Die „Modernisierer“ sind mit den alten Strukturen sehr respektlos umgegangen, was sogar die Kunst am Bau betraf: Beim Pavillon des Wolgagebiets etwa, auf dessen Fassade übergroße Soldatenfiguren an die Schlacht von Stalingrad erinnern sollten, wurden manche der Kampfszenen einfach mittendrin abgesägt, eben dort, wo die Blechverkleidung aufhörte. Die amputierten Figuren sind unter den Resten der Blechverkleidung noch gut zu erkennen.
So stehen Moskaus Denkmalpfleger vor einem kaum lösbaren Dilemma: Die modernistischen Hüllen – nicht besonders eindrucksvoll, aber so war eben der Zeitgeist – gelten heute als unbeliebt. Unter der dünnen Blechhaut stecken die älteren Pavillons aus den 1950er-Jahren. Welche der Schichten darf nun als „die gültige“ gelten? Fragt man die Vermarkter des Geländes, nennen diese sofort die stalinistische Version, schließlich würde damit der Gesamtkontext als Bild wieder komplett. Aber sind nicht die Versuche einer „Modernisierung“ im Sinne einer auch architektonischen „Entstalinisierung“ ebenso Teil der Geschichte? Seit Längerem stehen vor jedem betroffenen Pavillon Infotafeln, mit deren Hilfe die MoskauerInnen nach ihrer Meinung befragt werden sollen. Geschichtsurteil per Plebiszit? Auf den Ausgang darf man gespannt sein.

Schöllhammer: Mein Beitrag beginnt 1918 und beschäftigt sich mit der Sowjetmoderne in Armenien. Das Land ist insofern ein Sonderfall, als es nach einer 800-jährigen diasporischen Nicht-Staatlichkeit 1918 vorübergehend zur Republik wird. Es kann sich konstituieren nach dem Genozid der Türken 1915/16, es wird für zwei Jahre Republik und geht schließlich 1920 in Sowjetarmenien auf. Ostarmenien wird in der Folge zu einer Projektionsfläche für die ganze Diaspora, die vom Libanon über den Iran und Irak bis Anatolien reicht. Zwei Jahre lang wird gewissermaßen die Nationswerdung fokussiert, um schließlich, was die Architektur betrifft, in einen Konflikt mit dem Konstruktivismus zu geraten.
Die wichtigste Figur ist dabei Alexander Tamanjan, der in St. Petersburg Architektur studiert hat und 1918 von der Republik geholt wird, um ein neues Zentrum zu schaffen. Jerewan ist damals eine russische Kolonialstadt am Rand der Seidenstraße und besteht im Wesentlichen aus prekären Holzbauten, von der Anmutung her eigentlich eine türkische Stadt. Tamanjan interessiert sich für die Architekturgeschichte der armenischen Vergangenheitsprojektion – für das 8., 9. und 10. Jahrhundert – und versucht, mit den Mitteln des europäischen Städtebaus eine neue Kapitale zu schaffen. Die Kapitale basiert auf einem rektangulären Erweiterungsstadtriss aus dem 19. Jahrhundert, aber durch die Radialität, die Tamanjan in seinem Masterplan vorschlägt, entsteht etwas anderes. Das Wichtigste in Tamanjans Planung ist die Achse in der Mitte, die auf den Berg Ararat ausgerichtet ist. Dieser lag schon damals so wie heute noch in der Türkei. Er ist der heilige Berg der ArmenierInnen, aber er ist eigentlich abgeschnitten von dem Land. Der Ararat ist ein 5.000 Meter hoher Vulkan, und man kennt ihn aus der Bibel als den Berg, an dem die Arche Noah gestrandet ist. Durch die zentrale Achse wird er nun sozusagen Teil der Stadt, wird in die Perspektive der Stadt mit hineingenommen, obwohl er weit entfernt liegt. Dieser Konflikt ist für die ganze Architekturentwicklung in Armenien zentral.
Der Tamanjan-Plan zerstört die alte Struktur gänzlich und implementiert eine neue, mit seiner historischen und symbolischen Perspektive auf das nationale Heiligtum. Aber er kann 1918–20 nicht realisiert werden, weil die finanziellen Ressourcen dazu fehlen. Tamanjan bleibt bis 1936 Stadtplaner von Jerewan und muss den Plan später innerhalb der verschiedenen Modernen, die in Armenien miteinander kämpfen, verwirklichen. So hält ab 1920, zu einem heroischen Zeitpunkt der Sowjetunion, die konstruktivistische Moderne Einzug, die das Tamanjan’sche Programm der nationalen Romantik als historizistisch und rückwärtsgewandt angreift. Demgegenüber wollen beispielsweise die Manifeste von Geworg Kochar und Mikael Mazmanian den Konstruktivismus als nationale Architektur der ArmenierInnen darstellen. Darin heißt es, dass sich das Volk in dem Staat, der ihm von der Sowjetunion gegeben wurde, nun seinen wahren sozialen Problemen zuwenden kann und dementsprechend eine konstruktivistisch soziale Architektur verfolgen sollte.
Tamanjan legt die Stadtstruktur in der Mitte sehr flexibel bzw. moduliert an. Er verwendet einen späten Stil des 19. Jahrhunderts, der vom Sezessionismus geprägt ist, und schreibt diesen voll mit Ornamenten. Es ist alles in braunem und rotem Tuffstein gebaut, und die resultierenden Raumfiguren sind anders als die stalinistische Architektur später von einer ungeheuren Delikatesse.

Kil: Das ist teilweise bernsteinfarbener Tuffstein mit gelbrot changierenden Tönen. Man muss dazu wissen, dass dieser Stein billiger ist als Beton, deswegen wird das ganze Land daraus gebaut. Es gibt aber eine ungeheure Farbenvielfalt, sie spielen nicht nur mit Ornamenten, sondern auch mit den Farben innerhalb der Steinsetzung. Außerdem ist er weich genug für eine sehr detailreiche Ornamentik. Ich habe selten einen nationalen Stil gesehen, der sich so stark von der Oberfläche her anschmiegt und so angenehm ist. Meine ganzen diesbezüglichen Ressentiments habe ich sofort abgelegt, als ich dort war.

Schöllhammer: Tamanjan verfolgt eine nationale Traditionslinie, die sich schließlich bis in die 1980er- und 1990er-Jahre durchziehen wird und selbst in den jüngsten Regierungsbauten der Stadterweiterung der 2000er-Jahre noch nachklingt. Aber um 1920 kommen die Konstruktivsten, die alle an Wchutemas, den damaligen Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten ausgebildet wurden. Sie beginnen, in der Folge das Wchutemas-Programm lokal umzusetzen. Es entwickelt sich eine heftige Debatte zwischen den Tamanjan’schen Nationalromantikern und den Wchutemas-Revolutionären, die sich bis 1934, als der Stalinismus kommt, durchzieht und sich gleichfalls im Stadtkörper von Jerewan manifestiert.
Tamanjan versucht zwar, die Wchutemas-Projekte abzuwehren, aber er scheitert, weil die Kommissare ihn dazu zwingen, diese Projekte zu adaptieren und in den Stadtkörper zu integrieren. Immer wieder versucht er, mittels der Materialität der Bauten durch die Verwendung von Tuffstein eine gewisse stadtplanerische Homogenität zu erhalten. So kommt es wiederholt zur „Zähmung“ konstruktivistischer Projekte durch Tamanjan, aus einem weißen Haus wird ein Tuffhaus, es muss sich sozusagen der Nationalromantik unterwerfen, um ein Jerewaner, ein Tamanjan’sches Haus zu werden.
Die Wchutemas-Projekte sind insofern wichtig für die Entwicklung der armenischen Architektur, weil Architekten wie Kochar und Mazmanian 1934 ins Exil geschickt wurden, in den 1960er-Jahren aber wieder zurückkehren und eine Art Gegenrevolution gegen die Adaption der Tamanjan’schen Stadtfigur im Stalinismus entfachen. Kochar hatte beispielsweise 1930 ein spätkonstruktivistisches Schriftstellerhaus gebaut, das bereits von Spuren des frühen stalinistischen Klassizismus geprägt war; 1960 baute er dann einen hufeisenförmigen Speisesaal dazu, was einer Art Sieg über den Tamanjanismus gleichkam. Auch Mazmanjan, der zweite große Konstruktivist der Periode, hatte früh schon zu „nationalisieren“ begonnen, wie an seiner berühmten Textilfabrik aus den frühen 1930er-Jahren ersichtlich ist.
1933/34 kam es zu einem Bruch innerhalb des Konstruktivismus, und es beginnt eine Ummodellierung hin zum Stalinismus. Dabei hatte Tamanjan stets versucht, die ästhetischen Paradigmen des Konstruktivismus zu bewahren und sie gleichzeitig einer Art von Neoklassizismus anzupassen. Er macht das bis zu seinem Tod 1936, er maskiert sozusagen den Neoklassizismus, bleibt dabei aber in Wirklichkeit ein gänzlich konstruktivistischer Architekt.
Jerewan erfährt in der Folge durch zahlreiche stalinistische Projekte eine Erweiterung, wodurch ein großer Bruch entsteht, schließlich sind viele der stalinistischen Projekte blind und schablonenhaft. Sie können die ästhetischen Werte des Tamanjanismus nicht mitnehmen und bleiben so einem von Moskau bestimmten Programm verhaftet – „nationalistisch in der Form und sozialistisch im Inhalt“. Manche aber verstehen es zu camouflieren, sie bleiben armenisch-tamanjanisch.
Inmitten dieser Ruptur zwischen Konstruktivsten, Modernisten und Nationalromantikern beginnt sich zugleich eine andere Figur zu entwickeln. Es ist dies der Architekt Rafael Israeljan, der später in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren eine tragende Figur des Jerewaner Architekturdiskurses werden sollte. Israeljan sieht den Konstruktivismus durch das Prisma einer radikalen protofaschistischen Nationalromantik und beginnt dies gegen die banalen stalinistischen Projekte zu wenden, was dem sozialistischen Gedanken der stalinistischen Moderne komplett widerspricht. Er beginnt, angelehnt an die armenische Architektur der ersten Jahrtausendwende, durch eine appellative, früh-postmoderne rhetorische Struktur, sich von Stalinismus abzusetzen und demgegenüber ein eigenes nationalistisches Programm zu entwickeln.
Von Israeljan ist beispielsweise die berühmte Markthalle beeinflusst, die das Motiv von Mazmanjans Fabrik aus dem Konstruktivismus kopiert. Sie beruht auf der gleichen Raumfigur wie die konstruktivistische Textilfabrik, nur ist sie an der Fassade stalinistisch verbrämt. Sie steht an einer zentralen Achse von Jerewan, am Platz der Republik, der in den 1940er-Jahren fertig geworden war, noch nach Tamajans Plänen. Die stalinistische Erweiterung hatte den Blick auf den Ararat verstellt, und Israeljan wollte diesen Blick wieder frei räumen. Die stalinistische Erweiterung hatte den runden Platz abzuschließen versucht und in den Ararat-Blick hineingebaut, also gleichsam versucht, das Nationale wegzukriegen. Israeljan wollte diesen Blick wieder freilegen.
Dann kommt Chruschtschow, und es startet ein radikal neues Bauprogramm. Die Konstruktivsten kommen zurück und beginnen mit ihren ersten Entwürfen schon in den 1950er-Jahren, als eigentlich noch eine Art Rhetorik des Spätstalinismus vorherrschend war. Es wurde damals zwar noch sehr monumental gebaut, aber den Hintergrund dazu bildete bereits eine sehr moderne Neuinterpretation konstruktivistischer Architektur. Dies hat im Übrigen nichts mit der europäischen oder westlichen Moderne der Zeit zu tun – vielmehr begannen die Konstruktivisten völlig neue Strukturen umzusetzen.
Eine Inkunabel dieses Aufbruchs ist ein Denkmal, das an der Autobahn nach Jerewan steht, an der Stadteinfahrt – eine Friedensschwalbe, die angeblich Chruschtschow zu Hassstürmen angeregt hat: „Dafür habt ihr Geld – wir brauchen Wohnungen!“ Aber für die Konstruktivsten war diese Art von zweckfreier Architektur ganz wichtig.
Ab Mitte der 1960er-Jahre beginnt man dann mit punktförmigen Eingriffen, die sich an den Moskauer modernistischen „Internationalismus“ anlehnen, ihn importieren. Das ist die dritte Art von Modernismus, welche die Architektur von Jerewan bestimmt. Der Tamanjan’sche Plan wird immer mehr ignoriert, und man indiziert innerhalb der Stadtstruktur modernistische Bauten, die aus der Moskauer, Leningrader oder Kiewer Schule stammen. Während die Architekten weiterhin versuchen, den Stadtraum an der Abowjan-Straße, einer der Hauptachsen des Tamanjan-Plans, zu modernisieren, setzt insgesamt eine sehr saubere Gestaltung des öffentlichen Raums ein: durch Bauten, die in Architekturwettbewerben entstehen, durch einen großartigen brutalistischen Bau der 1960er-Jahre, durch die Freiluftanlage des Moskauer Kinos, das insofern interessant ist, als es vor einigen Jahren abgerissen werden sollte, wogegen sich eine riesige BürgerInnenbewegung gebildet hat, die gleichzeitig zu einer Demokratiebewegung wurde, welche um die Erhaltung des brutalistischen Baus gekämpft hat.
Zur damaligen Zeit entsteht auch eines der ersten großen abstrakten Denkmäler in der Sowjetunion (1965), wie sie später dann, in den 1970er-Jahren, den sowjetischen Stadtraum vollstellen werden. Es ist dies das Denkmal an die Erinnerung an den türkischen Genozid an den ArmenierInnen. Und es ist kein Zufall, dass dieses Denkmal die Nationalromantik der ArmenierInnen mit einer modernistischen Sprache verbindet. In der Folge beginnt sich diese Art von abstraktem Raumprogramm in der ganzen Sowjetunion auszubreiten – ein Denkmalprogramm, das von Armenien seinen Ausgang genommen hat.

Kil: Mich fasziniert das Denkmal besonders, weil es zentral mit dem „Tauwetter“ zu tun hat. So wie Chruschtschow den GeorgierInnen quasi eine Ausstellung geschenkt hat, hat er auch den ArmenierInnen mit großer Geste dieses Denkmal erlaubt. Bis dahin hatte ein Tabu auf dem Genozid gelegen, nun durfte erstmals öffentlich das Gedenken zelebriert werden. Es gab jetzt also einen Ort für Trauer, für Mahnung, den es vorher nicht gegeben hatte. Also noch eine innenpolitische Wandlungsgeste, die interessanterweise in dezidiert moderner Form daherkam. Auf weitere Sicht hat dieses „Entgegenkommen“ der Moskauer Zentrale aber entschieden Gegensätzliches bewirkt, nämlich eine Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins, was dann in der Architektur zu unglaublich konservativen Formen geführt hat. Insofern kann dieses hochmoderne Memorial letztlich zugleich als Endpunkt der „architektonischen Modernisierung“ Armeniens gelten.