Heft 4/2017 - Global Limits


Finstere Ökologie

Interview mit Timothy Morton über kontraproduktives Umweltdenken, die Überwindung der Spezies-Fixiertheit und die Solidarität mit dem Nichthumanen

Christian Höller


„Ökologie ohne Natur“ – mit diesem provokanten Schlachtruf begann der Philosoph und Literaturwissenschaftler Timothy Morton vor gut zehn Jahren, ein Diskursfeld aufzurütteln, dem bis dahin immer noch ein großteils romantisches Bild von Natur und Umwelt vorschwebte. Und selbst dort, wo man diese Begriffe vorwiegend als kulturelle Konstrukte ansah, war man lange Zeit nicht willens, sich groß mit Fakten wie Erderwärmung, wachsenden Müllbergen oder sonstigen Auswirkungen des Anthropozäns auseinanderzusetzen. Mortons Versuch einer Neubegründung des ökologischen Denkens, das die simple Mensch-Umwelt-Trennung überwinden möchte, setzt genau hier an: bei massiven Phänomenen wie Klimakatastrophe oder anhaltendem Artensterben, in welche der Mensch auf komplexe Weise verstrickt ist, ohne dass vereinfachende Täter-Opfer-Schemata diesem anhaltenden Prozess gerecht würden. Als „Hyperobjekte“ hat Morton Phänomene dieser Art in seinem berühmten Buch aus dem Jahr 2013 bezeichnet – als ein bereits hinter uns liegendes „Ende“, das ein viel grundlegenderes Umdenken erfordert als bislang angenommen. Dieses müsse, wie Morton etwa in seinen neueren Büchern darlegt, bei einer Art begrifflichen Befreiung von „Spezies“ und „Humanem“ ansetzen – einer Befreiung, die unsere fundamentale Verschränktheit mit dem Nichthumanen offenlegt. Erst so, und hier greift Morton gerne auf den Wissensstand der objekt-orientierten Ontologie zurück, würden sich der paradoxe Entzug, die Gespensterhaftigkeit und „Spektralität“, der beispielsweise der globalen Erwärmung anhaftet, verstehen lernen. In seinem neuesten Buch Humankind baut Morton diesen Ansatz – und die Forderung nach – radikaler Solidarität mit dem Nichthumanen weiter aus. Im folgenden Interview erläutert er Voraussetzungen, Wirkungsweisen und finstere Begleiterscheinungen dieser „ökokommunistischen“ Solidarität.

Christian Höller: Im gegenwärtigen ökologischen Diskurs ist die Ansicht verbreitet, dass das Ende unmittelbar bevorstehe, dass wir unsere Umwelt in einem Maße zerstört hätten, dass es so gut wie kein Zurück mehr gäbe, dass die Apokalypse nur noch eine Frage der Zeit sei. Sie schlagen in Ihrer Neukonzeption des ökologischen Denkens, der Sie sich seit über zehn Jahren widmen, einen völlig anderen Ausgangspunkt vor: „Das Ende der Welt hat bereits stattgefunden“, wie Sie immer wieder schreiben1 – die Katastrophe liegt also bereits hinter uns. Inwiefern befinden wir uns tatsächlich jenseits des apokalyptischen Moments? Worin liegt der Vorteil, über die Gegenwart auf postapokalyptische Weise zu denken?

Timothy Morton: Nun, die einfachste Weise, sich dem zu nähern, besteht darin, Apokalypse als ein singuläres Ereignis im Kontext der sogenannten „agrikulturellen Religion“ zu betrachten. Womit wir es nämlich zu tun haben, ist eine Reihe von anhaltenden Ereignissen mit ungewisser Dauer, deren Ursachen auf profunde Weise mit der Logistik jener Zivilisationen verknüpft sind, deren ursprünglicher Welterklärungsmodus auf genau dieser jahrtausendealten Religion basiert. Dies lässt die Problematik unmittelbar vor Augen treten: Wenn wir das, was gerade passiert, als Apokalypse auffassen, dann nehmen wir in grundlegender Weise Bezug auf die kulturellen und ideologischen Strukturen jener Gesellschaften, die letztendlich auf Industrie (und damit auf fossile Brennstoffe und folglich Erderwärmung) angewiesen waren um zu überleben.2
Eine Apokalypse ist ein gewaltvolles Ereignis, bei dem scheinbar oberflächliche Realitätsebenen weggerissen werden, um etwas anderes freizulegen (apo-kalupto, ich enthülle/offenbare). Genau das passiert heute: All jene Realitätsschichten, die man lange für oberflächlich hielt – etwa das, was man in der Ökonomie als „Externalitäten“ bezeichnet, sprich die Biosphäre und uns als menschliche Symbionten innerhalb dieser Biosphäre –, all das wird gerade durch unsere spezielle Zivilisationslogistik vernichtet. Man kann auf bitter-ironische Weise anerkennen, dass die Apokalypse bereits begonnen hat, aber das ist alles andere als angenehm, da der Schleier, der hier weggerissen wird, keineswegs nur oberflächlich ist. Vielmehr besteht er in der Biosphäre selbst.

Höller: Ein Gutteil der gegenwärtigen Ökokritik und -politik baut auf ganz bestimmten, im Prinzip jahrhundertealten Begriffen von Umwelt und Natur auf. Als ob diese von uns unabhängige, gleichsam abgeschottete Objekte wären, denen die menschlichen Subjekte katastrophischen Schaden zugefügt hätten. In ihrer Neukonzeption des ökologischen Denkens behaupten Sie, dass diese Konzepte komplett nutzlos, ja sogar gefährlich seien. Was sind die Gründe für diese Aburteilung, und wodurch sollen diese Begriffe ersetzt werden, wenn man das ökologische Bewusstsein schärfen möchte?

Morton: Natur ist ein Konstrukt, das in erster Linie dazu dient, die menschliche Symbiose innerhalb der Biosphäre befremdlich erscheinen zu lassen, und zwar in der Hinsicht, dass sie als etwas uns Gegenüberstehendes betrachtet wird. Die Natur ist „da drüben“, wir sind „hier herüben“.
Am besten kann man sie sich als ausgeglichen funktionierenden periodischen Zyklus vorstellen, etwa als Kreislauf der Jahreszeiten so wie im europäischen Mittelalter. Tatsächlich hat sich das Holozän, das geologische Zeitalter vor dem Anthropozän, auf diese ausgeglichen zyklische Weise manifestiert. Einige GeologInnen behaupten, diese Ausgeglichenheit sei auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, was jedoch ein Witz ist, da genau diese anhaltenden Tätigkeiten dazu geführt haben, dass das ausgeglichene Funktionieren der Biosphäre einen drastischen Bruch erlitten hat. Die Natur ist anders formuliert das Anthropozän selbst, das man zu überdecken oder glätten versucht – nicht unähnlich einem Gehirn, wenn es einen Schlaganfall erleidet, oder tektonischen Platten, in denen sich plötzlich ein Erdbeben ausbreitet, oder einem Glas, das mit einer Opernstimme mitzuschwingen beginnt. Aber Natur ist nicht bloß ein Konzept. Vielmehr ist sie in den sozialen Raum wie auch in die Biosphäre gleichsam „hineinprogrammiert“ und stellt in dieser Hinsicht den Inbegriff der (festverdrahteten) menschlichen Entfremdung dar. Es ist höchste Zeit, diese Idee fallen zu lassen.

Höller: Einer der theoretischen Eckpfeiler, mit dem Sie Konzepte wie Umwelt oder Ökosystem ersetzen möchten, ist der des „symbiotischen Realen“. Sein Hauptmerkmal, wie Sie dies in Ihrem neuen Buch Humankind darlegen, besteht darin, dass die menschliche Lebensform (falls dies überhaupt ein legitimer Ausdruck ist) nur eine von vielen ist bzw. zutiefst mit anderen Lebensformen verflochten, ja geradezu wild mit diesen verstrickt ist. Wo rührt diese Idee eines allumfassenden „symbiotischen Realen“ her? Wo liegen seine Grenzen? Und was genau zeichnet diesen Begriff gegenüber dem stärker ethisch ausgerichteten „ökologischen Bewusstsein“ aus?

Morton: Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel bzw. Entweder-oder zwischen ökologischem Bewusstsein und dem symbiotischen Realen. Das symbiotische Reale ist das Sein, dessen das ökologische Bewusstsein gewahr wird! Jedenfalls war dieser Begriff der eleganteste, der mir einfiel, um damit das entfremdete Konzept der Natur zu ersetzen, den ich (im Englischen) mit großem „N“ schreibe, um seine Künstlichkeit zu betonen.
Symbiose ist die unsichere, ja unbehagliche Verbindung von zwei oder mehr Lebensformen, eine Verbindung, die auch leicht zerfallen kann und potenzielle Feindschaft inkludiert. Ohne dieses Unbehagen würde der Begriff in alte bzw. gewaltsame holistische Vorstellungen von „Leben“ und dergleichen zurückfallen.
Solidarität ist der phänomenologische „Lärm“, den das symbiotische Reale erzeugt. Solidarität bezieht das Nichthumane mit ein und ist gleichsam der billigste, am leichtesten verfügbare Affekt, noch grundlegender als Sympathie und Empathie. Man muss nichts fabrizieren, um auf sie eingestimmt zu sein.

Höller: Die Art von Objekt, die eine besondere Stellung innerhalb des symbiotischen Realen einnimmt, bezeichnen Sie als „Hyperobjekt“.3 Es ist dies ein besonders widerspenstiger Gegenstand, da er sich der direkten Wahrnehmung entzieht und sich auch nicht unter herkömmliche mentale oder begriffliche Kategorien subsumieren lässt. Können Sie kurz erläutern, etwa in Bezug auf typische Hyperobjekte wie die Erderwärmung, worin seine praktischen Vorteile liegen? Wie kann der Begriff dazu beitragen, steigende Ozeantemperaturen oder Meeresspiegel besser zu verstehen?

Morton: Ich denke, es ist gut, wenn man ein bestimmtes Wort für Phänomene hat, die sich nur schwer gedanklich fassen, geschweige denn abändern lassen und die aus einer äußerst großen Anzahl von Komponenten bestehen. „Hyperobjekt“ bezeichnet eine Entität, die massiv in Raum und Zeit verteilt ist, und zwar in Bezug auf diejenigen Wesen, die dieses Objekt wahrzunehmen, zu ermessen, zu verstehen oder zu erdulden haben oder ihm sonst wie ausgesetzt sind. Die Menschen sind Teil einer Reihe von einander überlappenden Hyperobjekten wie etwa der Biosphäre, dem Klima oder dem neoliberalen Kapitalismus, so man diese als eine Menge von physischen und symbolischen Interaktionen versteht, die sich heute über einen Großteil der Erdoberfläche erstrecken.
Wenn man die Erderwärmung als eine bestimmte Entität begreift, die eine Art „Haufen“ bildet und deren Grenzen real, aber unscharf sind, dann lassen sich vielleicht auch Wege finden, wie wir uns auf sie als Ganzes beziehen können. Da wir uns beispielsweise mittendrin in ihr befinden, kann es dafür auch keine von oben verfügte „Lösung“ geben, die nicht drastische oder unumkehrbare Gewaltakte implizieren würde und unvorhersehbare Folgen hätte. „Geo-Engineering“ wäre als technische Lösung, die auf höchster Ebene ansetzt, sehr verlockend. Aber das würde unausweichlich zur Katastrophe führen. Die Idee des Hyperobjekts führt uns das deutlich vor Augen.
Da Hyperobjekte im Vergleich zum Menschen sehr langlebig sind (die Zeit der Erderwärmung wird auf bis zu 100.000 Jahre geschätzt), können wir davon ausgehen, dass wir als Individuen keine besondere Rolle für sie spielen, dass jedoch unsere Handlungen, egal ob beabsichtigt oder nicht, massive Auswirkungen auf der großen Zeitskala der Hyperobjekte haben. Die Sozialpolitik könnte von dieser Einsicht profitieren. Das Positive daran, in diesem Szenario keine besondere Rolle zu spielen, ist, dass ein einzelner Mensch noch über viele weitere Eigenschaften verfügt, als bloß ein Symptom der Biosphäre oder ein Beteiligter der Erderwärmung zu sein. Ich kann beispielsweise auch Mitglied eines Buchklubs oder einer anarchistischen Kommune sein. Ich habe für diese Eigenschaft, wenn einzelne Teile plötzlich über das Ganze, dessen Teil sie sind, hinauszuragen beginnen, einen eigenen Begriff geprägt, den der „Subszendenz“. Er bedeutet, dass Dinge wieder möglich sind, dass Erneuerung möglich ist; und wir brauchen dringend Spielraum für Neuerungen.

Höller: Die Neukonzeption der Ökologie bzw. dessen, was Sie in Humankind als „Ökokommunismus“ bezeichnen, erfordert auf einer ganz fundamentalen Ebene die Solidarität mit dem Nichthumanen. Wie lässt sich diese Solidarität auf nicht-anthropozentrische Weise definieren? Schließlich geht ihre Genealogie ja eindeutig auf den menschenfixierten (bourgeois-revolutionären) politischen Diskurs zurück. Und wie lässt sie sich auf sinnvolle Weise abgrenzen, sodass sie nicht in einem allumfassenden mystischen Holismus mündet?

Morton: Ich habe bereits erwähnt, dass Solidarität der „Lärm“ ist, den die Biosphäre erzeugt. Das bedeutet, dass man sie nur denken kann, wenn man das Nichthumane miteinschließt! Jede revolutionäre Handlung, die das nicht berücksichtigt, ist zum Scheitern verurteilt. Vielleicht ist das sogar einer der Gründe dafür, warum Revolutionen bislang immer gescheitert sind.
Selbstverständlich bin ich ein Holist! Leider ist es nur so, dass alle uns bekannten Holismen Produkte der agrikulturellen Religion sind. Sie gehen alle davon aus, dass das Ganze immer mehr als die Summe seiner Teile ist, was ganz und gar nichts Mystisches an sich hat. Vielmehr bedeutet es, dass die Bestandteile eines Systems mechanische, ersetzbare Komponenten sind.
Was wir brauchen, ist ein Holismus, in dem das Ganze weniger als die Summe seiner Teile ist. Das ist gemeint, wenn ich von Symbiose rede. Die Teile können auseinanderbrechen, was bedeutet, dass das Ganze fragil ist. Ich weiß, wie die meisten LeserInnen auf diese Aussage reagieren werden: Ihr Gehirn wird sich anstrengen, das eben Gelesene sofort wieder zu löschen. Der Grund dafür liegt in einer Art Stockholm-Syndrom, das uns gleichsam zwingt, nur an den schlechten, den „explosiven“ Holismus zu glauben.
Jedenfalls muss man auf gewisse Weise Holist sein, wenn man an Dinge wie „die Gesellschaft“ glaubt. Leider unterläuft der explosive Holismus diesen Glauben ständig.

Höller: Ein wichtiger Aspekt dabei, ökologische Hyperobjekte zu denken, ist ihre grundlegende „Spektralität“ oder „Spukhaftigkeit“, wie man auch sagen könnte. Sie sind Ihrem Ansatz zufolge von einem bestimmten Seinsentzug gekennzeichnet, einer, was ihre Erfassbarkeit betrifft, Unvollständigkeit oder Perforiertheit. Das läuft darauf hinaus, dass wir es in einem bestimmten Maß stets mit „Geistern“ zu tun haben, wenn wir über ökologische Katastrophen, Umweltgefahren oder bedrohte Arten sprechen. Wie lassen sich dieser Objektentzug und seine geisterhafte, nicht-materielle Dimension näher fassen?

Morton: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Spektralität nicht-materiell ist. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob sie materiell im Sinne von etwas Solidem ist. Spektralität ist eine Kategorie, die solche Unterscheidungen unterläuft.
Lebensformen sind schlicht und einfach spektral. Man kann das Band der Evolution egal wo anhalten und findet immer eine Spezies, die von einer bestimmten Mutation verfolgt wird, so wie die X-Men. Sagen wir beispielsweise ein Fisch, der fünf Minuten lang außerhalb des Wassers atmen kann. Es ist immer noch ein Fisch und nicht etwa ein Bakterium. Und trotzdem ist das nicht mehr bis in die letzte Zelle hinein ein Fisch.
Die Grundlage des „Speziesismus“ – der rigiden Unterscheidung zwischen Menschen und Nichtmenschen – ist der Rassismus. Dieser beruht darauf, dass man die unheimliche Spektralität des Menschseins eliminieren und in ein unsichtbares Massengrab verbannen möchte, in das man alle verächtlichen Wesen wirft (Objekte des Antisemitismus, Zombies, Androiden), um so die rassistische (und diskriminierende) Idee des „gesunden menschlichen Wesens“ hochhalten zu können. Hitler liebte seinen Hund Blondi und machte sich für Tierrechte stark, nicht trotz, sondern aufgrund seines Antisemitismus. Blondiartige Wesen unterscheiden sich hinreichend vom „gesunden“ Faschisten, um ihnen auf herablassende Weise Sympathie angedeihen zu lassen. Sie sind gleichsam „dort drüben“ angesiedelt, jenseits der scheint’s dünnen, obgleich strengen Grenze, die in Wirklichkeit ein „unheimliches Tal“ ist, das von Humanoiden, Hominiden und „unmenschlichen“ Wesen bevölkert ist, von denen sich die Gesunden mit Nachdruck abgrenzen.
In einem ethischen Sinn menschlich zu werden bedeutet, eine unhintergehbare „unmenschliche“ bzw. unheimliche Spektralität anzuerkennen.
Aber wir sollten insgesamt der strengen Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben weniger Beachtung schenken. Marx sagt, dass die Art und Weise, wie Waren gleichsam zu Computerschirmen werden, auf denen ihr Tauschwert aufscheint, „viel wunderlicher“ sei als wenn ein Tisch „aus freien Stücken zu tanzen begänne“4. Was so viel bedeutet, dass, falls der Warenfetischismus real ist, die Idee von „unbelebten Objekten“ irreal sein muss.

Höller: Sie schlagen in Humankind auch eine neue Theorie des (umweltbezogenen, politischen) Handelns vor, das auf einer revidierten Idee von Freundlichkeit/Güte („kindness“) beruht. Können Sie kurz zusammenfassen, inwiefern unsere gängigen Vorstellungen von Empathie und speziesübergreifender Sympathie überdacht werden müssen, um bei einer tragfähigeren Idee von Güte zu landen? Oder sollten Empathie und Sympathie überhaupt aus dem politischen Diskurs verbannt werden?

Morton: Freundlichkeit/Güte sind ein Modus der Einstimmung, so wie sie zugleich auch eine bestimmte Art des Handelns sind. Der Unterschied zwischen Handlung und Erfahrung oder zwischen aktiv und passiv basiert auf der Differenz von Handeln und Verhalten. Und das ist eine unhaltbare anthropozentrische Differenz. Freundlichkeit/Güte meinen die Einstimmung auf den „Solidaritätslärm“ des symbiotischen Realen. Handeln besteht aus quantisierten Einheiten des Wertschätzens und Sich-Einstimmens. Man braucht nur einmal gemeinsam mit jemand anderem Musik machen, um das zu begreifen.
Im Unterschied dazu sind Empathie und Sympathie viel schwieriger zu erlangen: Man muss sie gleichsam erst „aufkochen“. Aber wir sollten sie keineswegs verabschieden, auch wenn sie Machtverhältnisse implizieren, die wir eigentlich überwinden wollen. Ich sage nur, dass es weniger aufwendig ist, dasjenige anzuerkennen, was ohnehin schon der Fall ist, nämlich Solidarität, die auf verquere Weise zwischen Handlung und Wertschätzung angesiedelt ist.

Höller: Einer der überraschenderen Aspekte, der in Ihrer Theorie der ökologischen Einstimmung zum Tragen kommt, ist die Rolle von „Ennui“ – jene unauflösbare Verwobenheit von Stimuliertheit und Langeweile, wie sie Baudelaire in Die Blumen des Bösen poetisch umschrieben hat.5 Verblüffend ist dies deshalb, weil Ennui der gängigen Vorstellung nach eher dem Bereich des kapitalistischen Konsums zuzuordnen ist als der Rettung der Erde, die gleichsam den Gegenpol zum Konsumdenken darstellt. Ennui scheint generell mehr eine Eigenschaft der „1 %“ zu sein als die potenzielle Basis für eine solidere Mensch-Nichtmensch-Solidarität. Wie stehen Sie dazu?

Morton: Tatsächlich bietet das Konsumdenken, und das läuft dem gängigen, religiös motivierten Umweltdenken extrem zuwider, eine phänomenologische Grundlage dafür, wie man sich auf nicht zwanghafte Weise dem Nichtmenschlichen gegenüber verhalten kann. Niemand zwingt einen, Coke gegenüber Pepsi den Vorzug zu geben. Und die Cola-Flasche „möchte“, dass man sie auf gewisse Weise angreift. Jeder, der schon einmal Drogen genommen hat, wird bestätigen, dass es eine ganz bestimmte Weise gibt, wie man die Dinge richtig konsumiert, so wie es von diesen Dingen selbst nahegelegt wird. Das ist die Kehrseite der Konsumwelt, in der wir uns ständig wiederfinden und in der wir nur dem Anschein nach die Dinge auf sadistische Manier formatieren können, wie immer wir wollen.
Das Problem mit dem Kapitalismus ist nicht, dass es zu viele Vergnügen gäbe – was mehr nach religiösem Hangover klingt. Das Problem ist, dass es nicht genug davon gibt. Wir können nett mit Cola-Flaschen umgehen, aber nicht mit Fröschen. Eine „ökologischere“ Gesellschaft würde nicht „effizienter“, sondern vergnüglicher sein, und zwar für ungleich mehr Lebewesen, die immer schon Teil des gesellschaftlichen Raums sind, egal ob wir das wollen oder nicht, etwa Fliegen oder Magenbakterien.
Versuche, aus der Konsumwelt auszubrechen, finden stets in ihrem Inneren statt, weswegen hier ein paradoxer Ansatz erforderlich ist. Ansonsten fallen wir unweigerlich in die (Endlos-)Logik von Ausverkauf und Authentizität zurück oder in die Logik der völligen Identifikation mit der Konsumsphäre (man denke nur an Andy Warhol). Es gibt hier aber einen Mittelweg, der keinen Kompromiss darstellt, sondern vielmehr einen paradoxen Ausweg, und der basiert auf Baudelaires Ennui. Im Zustand des Ennui sehe ich mich von allerlei (geisterhaftem) Nichtmenschlichem umgeben bzw. durchdrungen, und ich kann nicht im Vorhinein sagen, ob das vergnüglich oder widerwärtig ist. Anders ausgedrückt, bildet sich für uns im Ennui genau das ab, was das ökologische Bewusstsein ausmacht.

Höller: Eine weitere wichtige Rolle in Ihrer Ausarbeitung des ökologischen Gedankens nehmen diverse künstlerische Formen ein, von der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts über verschiedene Musikavantgarden des 20. Jahrhunderts bis hin zu neueren Science-Fiction-Filmen. Was zeichnet diese künstlerischen Ansätze aus, wenn es beispielsweise um die Überwindung der traditionellen Subjekt-Objekt-Trennung oder unsere Verwicklung mit dem Nichthumanen geht? Lassen sich hier die Umrisse einer nicht-anthropozentrischen Ästhetik erkennen?

Morton: Kunst hält die Möglichkeit offen, dass die Zukunft anders aussehen könnte. Wer weiß, worin die Bedeutung eines bestimmten Gedichts wirklich liegt? Das ist schlichtweg außerhalb unserer Reichweite. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Kunst findet so etwas wie eine Gedankenverschmelzung statt (so wie bei Mister Spock), und zwar mit einem Wesen, das häufig gar nicht mehr am Leben, geschweige denn bei Bewusstsein ist. Deshalb liegt die Grundstimmung der ästhetischen Erfahrung in der Solidarität mit dem Nichtmenschlichen begründet. Und aufgrund ihrer wesentlichen Zukünftigkeit haftet ihr auch etwas Bedingungsloses an.

Höller: Um zuletzt noch auf den düsteren Bereich gegenwärtiger politischer Entwicklungen zu sprechen zu kommen: Wie schätzen Sie die Aussichten des von Ihnen propagierten Ökokommunismus ein angesichts von PolitikerInnen, die beispielsweise das Pariser Klimaabkommen mehr wie einen schlechten Scherz betrachten?

Morton: Der gegenwärtige Präsident der USA hat einen Feldzug gegen alle möglichen Lebensformen begonnen. Wir sind viele, er ist nur einer.

Ökologie ohne Natur: Eine neue Sicht der Umwelt ist 2016, übersetzt von Dirk Höfer, bei Matthes & Seitz, Berlin erschienen (das Original Ecology Without Nature: Rethinking Environmental Aesthetics wurde 2007 von Harvard University Press veröffentlicht); Dark Ecology: For a Logic of Future Coexistence, das auf Mortons 2014 gehaltene Wellek Library Lectures in Critical Theory in Irvine zurückgeht, kam 2016 bei Columbia University Press heraus; Humankind: Solidarity With Nonhuman People wurde im August 2017 von Verso, London/New York publiziert. Morton bloggt regelmäßig unter http://ecologywithoutnature.blogspot.com.

 

 

[1] Vgl. The Ecological Thought. Cambridge/London 2010, S. 17 sowie Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis/London 2013, S. 7.
[2] Vgl. die Ausführungen zur Entwicklung der „Agrilogistik“ in Dark Ecology: For a Logic of Future Coexistence. New York 2016, S. 38ff.
[3] Vgl. Hyperobjects, S. 25ff.
[4] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 23, Das Kapital, Bd. I, Erster Abschnitt. Berlin/DDR 1968, S. 85.
[5] Vgl. Humankind: Solidarity with Nonhuman People. London/New York 2017, S. 65ff.