Heft 4/2017 - Netzteil


„Nicht alle Macht beginnt am Griff einer Waffe“

Das ZKM als digitale Arche

Gislind Nabakowski


Den ersten Text über Videokunst schrieb 1969 für die TV-Spalten des TIME Magazine Michael Shamberg, bevor er Mitbegründer der Gruppe Radical Software wurde. Nam June Paik war 1967 nicht der Einzige gewesen, der zur mobilen Sony-Portapak-Videokamera griff. Als dezentral verwendbare Mehrzwecktechnologie erlaubte sie eine Vielzahl eigenständiger Nutzungen. Im New Yorker Mikromilieu brodelte es. VideokünstlerInnen, die überdies an Universitäten studierten, hörten Lectures von Marshall McLuhan und Buckminster Fuller. Der Anthropologe Gregory Bateson erklärte 1974 in einem auf Video aufgezeichneten Vortrag: „Kleine Geckos, Motten, Frösche und Menschen sind alle Teil der Naturgeschichte.“ Für ihn bergen Wissenschaften Irrtümer. Seine Warnung an die Jüngeren: „You can be wrong as culture and as individual.“ Diese neue „order of things“ war zugleich ein Umsturz.
Als Film- und TV-Produzent realisierte Shamberg später 40 „Topvalues“, darunter Ein Fisch namens Wanda, und erhielt insgesamt 32 Oscar-Nominierungen. Sein Buch Guerilla Television (1971) erschien in der Reihe der Zeitschrift Radical Software (1969–74), deren Verleger er zeitweilig war. Die erste Ausgabe (2.000 Exemplare) ging aus dem Video-Newsletter der Künstlerinnen Beryl Korot und Phyllis Gershuny hervor. Die letzte und elfte Ausgabe widmete sich dem Thema „Video & Kids“. Genauer gesagt ging es um Video, Kybernetik, Computertechnik, sozialen Aktivismus, Gegenkultur und Kunst. Durch die Initiative von Davidson Gigliotti und mit Unterstützung der Daniel Langlois Foundation wurde Radical Software 2003 schließlich online verfügbar, Teile davon finden sich in deutscher Übersetzung auf der Seite des ZKM.1
Voller Heiterkeit, Freiheit, Wissen, Inserts, Bildstörungen, Faxen und Zeitverzögerungen präsentiert sich die Ausstellung Radical Software. Raindance Foundation, Media Ecology and Video Art im ZKM. Ihre Einzelobjekte, die in „fossiler Software“ (Otto Piene) entstanden sind, umfassen 19 Videos, fünf Installationen und sämtliche Hefte und Bücher der Zeitschrift, dazu noch Arbeiten von 25 KünstlerInnen, die Ira Schneider und Russ Johnson von 1982 bis 1993 für das nächtliche Kabel-TV-Programm Night Light in Manhattan kuratierten.
Zwei größere Archive wurden dafür im ZKM gemixt, das der Gruppe Raindance mit dem des seit 1993 in Berlin lebenden Ira Schneider (bitter genug, dass sie keine Bleibe in den USA fanden). Ein Wandbild, auf dem Michael Shamberg, mal im Straßenoutfit, mal nackt den Portapak schultert, zeigt ihn als lässigen Producer und steht emblematisch für die Schau.
Zwei weitere große Ausstellungen, die auf alternativ genutzten Technologien fußen, zeigte man im ZKM parallel. Vieles musste erst aufgespürt, dann von langwierig erworbenen Lesegeräten erfasst, bis in die Tiefe chemisch untersucht, gereinigt, zuletzt durch Digitalisierung dem Vergessen entrissen werden. Es ging darin um das dem Künstler selbst als unrettbar erscheinende Lebenswerk des Grassroots-Agitators und Innovators des New Yorker Untergrundfilms der 1960er-Jahre Aldo Tambellini: Black Matters war die erste, fulminante Einzelausstellung des heute 87-Jährigen. Zwischen Abstraktionsprozessen machten im Raum monumental schwebende Montagen ungelöste ethnische Konflikte sichtbar.
Ebenso wurden Schätze rund um die performative Großskulptur Centerbeam gezeigt. Das unter Leitung von Otto Piene nach der Idee des Künstlers Lowry Burgess entwickelte Projekt basiert auf dem fruchtbaren Zusammenwirken von KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen. Es entstand am Center for Advanced Visual Studies (CAVS) im Massachusetts Institute of Technology (MIT) und wurde auf der 6. documenta 1977 präsentiert.
Seit Dorcas Müller im ZKM das Labor für antiquierte Videosysteme leitet, lässt sich diese Fülle geretteter Materialien aus der Pionierzeit ausstellen. Leitidee ist ein komplexer Zweistufenplan: zunächst restaurierte Kunstwerke der Öffentlichkeit zeigen, um anschließend Forschungen an Vergessenem oder blinden Flecken der Geschichte zu ermöglichen. Mit Überlegungen, welches virulente Wissen in den Künsten wie codiert ist, paaren sich Fragen, welches Wissen heute zu dessen Entzifferung anwendbar ist.
Alljährlich ersetzt die Industrie Produkte vom Vorjahr durch neue, wodurch die alten fragmentiert und wertlos werden. Um einem gefährlichen Reduktionismus vorzubeugen, wird es Zeit, Prozesse, Inhalte, Formen und Gruppierungen von damals zu ergründen und Absichten, warum Kunst entsteht, zu formulieren: Was es zu sehen gibt? In Technologien sind Erfahrungen, Probleme, Fragen und Antworten codiert. Darin verbergen sich auch Motivationen. Wer sich mit Leidenschaft erinnert, weiß, dass Wahrnehmungen (Aisthesis), Wunschziele und Utopien oft als kleine Impulse gespeichert sind.
Nie hören wir aus den Künsten dasselbe wie „in der Politik“ oder „den Medien“. Ihre Inhalte sind oft pure Evidenzen. In den ZKM-Ausstellungen sind vielerlei Mysterien, Politik, Leiden, Erfahrungen, Poesie, Erinnerungen und Träume enthalten. Wie und mit welchen Begriffen aber sind diese (noch) fassbar oder (re-)aktualisierbar? Als ich Ira Schneiders stark verblichenes Video The Woodstock Festival (1969/2013) sah, kamen mir Georges Didi-Hubermans Worte aus Les Inrocks (12.2.2014) in den Sinn: „Sehen ist keine Kompetenz, sondern eine Erfahrung. Wir erleben Kunst nicht allein mit den Augen, sondern auch mit der Stirn, dem Mund, den Händen.“ Schneiders Film ist kein Musikvideo. Dafür bestand Drehverbot. Am See, an dem campiert wurde, geben kleine Szenen Zeugnis. Eine junge Frau rasiert im See ihren Freund. Eine kleine Umarmung, ein Kuss, Berührungen. Sie wirft den Kopf zurück, lacht. Der Schaumklecks leuchtet. Weiter geht die Rasur. Paare schwimmen im See. Nackt sind sie alle. Wie Halluzinationen sehen die dann folgenden Kollektivbilder der Vergangenheit aus. Nackttänze. Letzte Zooms auf enge, heterosexuelle, weiße Umarmungen. Ein Nukleus. Friedlich. Aber ein Affront gegen Amerikas Feldzüge, Puritanismus und Doppelmoral. Stanley Kubricks, von Arthurs Schnitzlers Traumnovelle (1925–26) inspirierte Odyssee Eyes Wide Shut (1999) über sexualisierte Phantasmen und Herrschaft im Kapitalismus ist noch weit weg. Im Video keine Spur von den Wirren eines neuen Fin de Siècle. Doch entscheidender ist, dass das Publikum in mehreren Videos mit ausgestellt wird, so auch in Frank Gilettes/Ira Schneiders Installation Wipe Cycle (9 Monitore, 1969/2017): „Mixing the audience into the art work.“ Zeitverzögert. Gerade angesichts von Livekameras, die uns überwachen, sind wir „as active participants“ gefordert, uns zu Spannungen klar zu äußern.
Schritte von NS-Militärs gehen in Dachau 1974, einem Vier-Kanal-Video von Beryl Korot, in Schritte der BesucherInnen über. Quadratisch gefasste Teile (wie Miniaturen) des Konzentrationslagers, Relikte, Gasöfen, ein Bach tauchen auf. Beryl Korot, Partnerin des Komponisten Steve Reich, überträgt Techniken des Webens auf die Videotechnologie. Die durch die Gedächtnisstätte laufenden BesucherInnen sind einem Strukturdiagramm folgend (Fäden 1I3I2I4) unauflöslich mit jedem Bild verknüpft. Darstellbar ist das Verhältnis von Menschen zum Bösen.

Radical Software, 1.7.2017–28.01.2018; Aldo Tambellini. Black Matters, 11.3.–6.8.2017; Centerbeam, 24.5.–1.10.2017; http://zkm.de/.

 

 

[1] www.radicalsoftware.org; http://zkm.de/radical-software/ausgewaehlte-artikel; das titelgebende Zitat dieses Texts ist dem Artikel „Kybernetische Guerilla-Kriegsführung“ von Paul Ryan, Radical Software, Vol. 1, Nr. 3 (1971) entnommen.