Salzburg. Heuer ist es, als stünde die Bühnenwelt ein wenig auf dem Kopf. Während in Berlin linke BesetzerInnen die Volksbühne stürmten, um für eine Theatertradition, die sie von Chris Dercon einer zerstörerischen Festivalisierung und transdisziplinären Auflösung geopfert sahen, zu kämpfen, kopierten sich die im Grunde immer konservativen Salzburger Festspiele mit Shirin Neshat, William Kentridge und der griechischen Filmregisseurin Athina Rachel Tsangari KünstlerInnen aus anderen Disziplinen in ihre Regiesessel. Für Salzburg eine kleine Revolution, ist das im Grunde ein alter Hut, aber gerade im Hinblick auf die Verwerfungen und Gegenübertragungen, die derzeit zwischen ästhetischen Disziplinen stattfinden, symptomatisch.
Dass die Theater- und Opernbühne ein Projektionsort ästhetischer Experimente für KünstlerInnen aus anderen Genres ist, hat Geschichte: Schinkels Zauberflöte, Picassos Balletts Russes, Bauhaus oder die Judson Church. William Kentridge ist kein Neuling im Genre. Er hat vielmehr schon früh die Potenziale der Bühne für seine Arbeit in Anspruch genommen. Anders als bei vielen anderen KünstlerInnen, wie etwa bei Shirin Neshats Salzburger Aida-Inszenierung, weisen viele der Theaterarbeiten Kentridges auf einen revolutionären Moment hin und eine Periode, in welcher der politische Auftrag der Kunst neu definiert wurde: auf die Kunst der frühen Sowjetunion und anderer Revolutionen.
In Salzburg hat er nun Alban Bergs Wozzeck mit bewusster Bezugnahme auf Bühnenkonzepte des Expressionismus und auf Erwin Piscator inszeniert. Und dies liest sich, anders als die transdisziplinären Gegenübertragungen, in denen viele deutsche Bühnen ihren Bezug zur Gegenwart zu finden hoffen, fast wie ein historisch-kritisches Innehalten voller Referenzen, in welchem die Logik des Genres (Musik-)Theater selbst als Argument und Gegenentwurf zur Auflösung der Disziplin im Festivalevent ins Spiel gebracht wird.
Kentridge stellt fast gegen Alban Bergs psychologisierendes, auf Karl Emil Franzos – die Gesellschaftskritik in Büchners Dramenfragment vom Scheitern eines psychisch kranken Underdogs an den Hegemoniesystemen – basierendes Libretto bewusst die Psychologie in den Hintergrund und stilisiert die Subjekte zu Allegorien der Herrschaft in einem Raum voller Bildbezüge. Bergs Mikrodrama wird auf einer Bühne in der Bühne gezeigt, einem schatullenhaften Raum, in dem sich das psychologische Motiv ausagieren kann. Davor und dahinter setzt Kentridge aber zwei andere Bildwelten: Ein schief verschobenes, eben expressionistisches Rampentheater, welches einen dystopischen Unort gebrochen, aus der Ordnung verschoben zeigt, bildet den Vordergrund. Im Hintergrund projizieren sich auf eine Riesenleinwand Kentridges Zeichnungen und Zeichentrickfilmfragmente, in denen nicht nur die Szenen des Stücks selbst auftauchen, als gebrochener Illusionsraum, sondern auch Geschichte paradiert, von Weltkriegskrüppeln bis hin zum bürgerlichen Porträt der 1920er-Jahre. Auch Brechts Konzept des epischen Theaters findet gleich in der ersten Szene Widerhall, wo ein auf der Bühne installierter Projektor auf eine kleine Leinwand gleichsam die Grammatik von Kentridges Figurenführung projiziert, aber eben auch die Apparategeschichte von Piscators Theaterkonzepten.
Dass die Salzburger Präsentation dennoch ein wenig inkohärent erschien, mag eben gerade dieser Schichtung im Bühnenraum geschuldet sein, die sich zu selten zu einem Strang zusammenband.
Wie konsequent Kentridge an der gegenseitigen Verschneidung von Film, Theater und bildender Kunst arbeitet, war gleichzeitig in seiner großen Retrospektive zu sehen, die im Museum der Moderne in Salzburg haltmachte. Das Rupertinum zeigte eine Art Making-of von Kentridges Theater- und Opernarbeit, die ja mittlerweile aus seinem Studio in ein Produktionskollektiv gewachsen ist: Bühnenmodelle und Skizzen, Kostüme und Requisiten, Filme und Projektionen, Plakate und Ephemera von den frühen Agit-Prop-Arbeiten Brecht’scher Prägung im Johannesburg der 1970er, die als Reaktion auf das Massaker von Soweto entstanden, bis eben hin zu Bergs Wozzeck.
Kentridges Bezugnahme und Reinterpretation von Theaterexperimenten hat ein zentrales Thema: die Geschichte der Revolutionen und ihres Scheiterns. Ebenso konstant ist aber die Aufladung von Bilderparaden, in denen die Verdammten, die Unterdrückten und die Geschichte vom oft hoffnungslosen Kampf gegen die Konstellationen der Macht zentral sind, mit aus autobiografischen Momenten gewonnenen, poetischen Bildern der Selbstermächtigung. Fragmentarisch und additiv geht Kentridge der Geschichte von utopischem Begehren und Scheitern nach. Gerade in den im Museum am Mönchsberg präsentierten großen Videoinstallationen wird die Theatralität von Kentridges Arbeit unterstrichen.
Um hier nur beispielhaft zwei der jüngeren Projekte zu nennen: More Sweetly Play the Dance (2015), eine Acht-Kanal-Videoinstallation, die in einem Danse Macabre eine Karawane schattenhafter Figuren zeigt, die mit Fahnen und Megafonen, die sich umgedreht zu Schandhüten verwandeln, tänzerisch wie in einer Mardi-Gras-Parade ziehen, Blasinstrumente spielen, Scherenschnitte der Köpfe von Revolutionären ebenso wie riesige Lilien wie Banner tragen, mit banalen Gegenständen wie Telefon und Infusionsbeutel hantieren, an Schnüren oder Leinen ziehen. Was wie ein Karnevalsspektakel anmutet, ist aber eine Geschichte der Geschundenen und ihrer Hoffnung – eine Prozession der MigrantInnen und ihrer existenziellen Einsamkeit als in eine unbekannte Zukunft Fliehender.
Einen Schritt weiter geht Kentridge in Towards a Model Opera (2015), deren Titel sich auf die von Mao Zedong als proletarische Lehrstücke der Kulturrevolution in Auftrag gegebenen acht Modellopern bezieht, inspiriert von einem Foto David Goldblatts aus 1980, das eine junge weiße Balletttänzerin in Highveld in Lesotho Mountain zeigt, die sich mit Tutu und Ballettschuhen in Verzückung dem Tanz auf Zehenspitzen hingibt. „Wenn ich die chinesischen Tänzer en pointe tanzen sehe, ist alles präsent: en pointe gegen die Japaner kämpfen, en pointe eine Handgranate werfen lernen, en pointe die roten Fahnen schwingen“, ist Kentridges Assoziationskette, aus der er nicht nur eine Geschichte des Tanzes entwirft, sondern auch eine Geschichte der vielfältigen Beziehungen von konservativer Ästhetik und revolutionärer Elite. Aber, viel mehr noch erzählt der großartige Tanz von Dada Masilo, gehwehrbewehrt und die rote Fahne schwingend, sowie der Megafone haltenden KollegInnen vor dem Hintergrund von Landkarten die Transformation Chinas von der kulturrevolutionären Selbstbezogenheit zur global-kapitalistisch agierenden Weltmacht, die, so Kentridge, „wie ein Zeppelin über Afrika schwebt“.
Wer hätte gedacht, dass die totgerufenen Institutionen Museum und Festspiele ihren Publika so großartig und parabelhaft von utopischer Sehnsucht nach Freiheit und ihrem Scheitern an der Macht erzählen können. Chris Dercon wird sich anstrengen müssen.