Heft 4/2017 - Global Limits


Sphären des Aufstands (Teil zwei)

Der Unterschied von makropolitischer und mikropolitischer Perspektive

Suely Rolnik


Makropolitischer Aufstand lässt sich als ein programmatischer Protest des Bewusstseins fassen und ist von folgenden Merkmalen bestimmt:
Sein Fokus (sicht- und hörbar) ist die Asymmetrie der Rechtslage in den Formen von sozialen Beziehungen, die durch das kolonial-kapitalistische Regime etabliert wurden. Dazu zählen Machtbeziehungen, die sich nicht nur in den sozialen Klassen, sondern auch in den Beziehungen von Rasse, Geschlecht, Sexualität, Religion, Ethnizität, Kolonialität usw. manifestieren.
Handelnde (nur menschliche) sind all jene, die in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der Machtverhältnisse subalterne Positionen einnehmen.
Was die Handelnden bewegt, ist der Impuls, die Ungerechtigkeiten in der Welt in ihrer herrschenden Form zu verurteilen, um so das Bewusstsein zu mobilisieren.
Seine Absicht besteht darin, sich von der Unterdrückung zu befreien; aus der Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit herauszutreten, um affirmativ eine zivilrechtliche wie auch eine Sprecherposition einzunehmen. Es geht darum, die Asymmetrie der Machtverhältnisse aufzudecken und dabei eine gerechtere Umverteilung dieser Positionen zu fördern – nicht nur im politischen Bereich, sondern auch im Sozialen und Ökonomischen. Das Kriterium, an dem wir uns bei der Bewertung von Situationen orientieren, ist das System etablierter Werte. Dies ist der moralische Kompass, der unsere Entscheidungen und Handlungen in der makropolitischen Sphäre leitet.
Vorgehensweise (in Opposition zum Unterdrücker, der von seiner Machtposition gestürzt werden soll): Entwickelt werden Strategien des Kampfes gegen den Unterdrücker und gegen die Gesetze, die seine Macht im individuellen und kollektiven Leben aufrechterhalten.
Art der Zusammenarbeit (Aufbau von organisierten Bewegungen auf der Basis identitärer Anerkennung): Die Organisation geschieht mit einem konkreten Anspruch und im Dienst einer bestimmten (subalternen) Position in einem bestimmten Segment des sozialen Lebens. Um diese Position herum, die dem Bereich der „Person“ in der subjektiven Erfahrung zuzuordnen ist, ist eine vermeintlich identitäre Kontur gezeichnet, die das notwendige Zusammenkommen erleichtert. Problematisch ist, wenn die Subjektivität in dieser Kontur gefangen gehalten wird oder auf sie reduziert wird und dabei die Subjektivierungsprozesse unterbrochen werden, die sich aus der Spannung zwischen dem Personalen und dem Extra-Personalen ergeben. Verschiedene Segmente können dabei in einer einzigen Bewegung zusammenkommen (zum Beispiel, wenn es um Forderungen geht, die Klasse, Geschlecht und Ethnizität implizieren). Auch können Bewegungen verschiedener Segmente zusammenlaufen, aus Gründen, die alle betreffen. Daraus folgt eine Art der Zusammenarbeit, die Druck generiert, um innerhalb der Machtverhältnisse auf institutioneller Ebene eine effektive Umkehrung zu ermöglichen (was den Staat und seine Gesetze betrifft, aber nicht auf ihn beschränkt ist). Diese Arbeit ist mit dem Eintreten einer solchen Umkehrung in dem spezifischen Feld, in dem der Kampf stattgefunden hat, abgeschlossen.

Mikropolitischer Aufstand – der triebhafte Protest des Unbewussten
Sein Fokus (unsichtbar und unhörbar) ist der perverse Missbrauch der Lebenskraft innerhalb der gesamten der Biosphäre, was den Menschen miteinschließt; Angriffsziel ist die dem kolonial-kapitalistischen Regime eigene, höchst aggressive Pathologie und ihre gravierenden Folgen für die Zukunft des Planeten.
Handelnde (menschliche und nicht-menschliche) sind all jene Elemente der Biosphäre, die der Gewalt gegen das Leben Widerstand leisten. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Agenten: Die nicht-menschlichen erkennen instinktiv die aus ihrem Missbrauch resultierende Anämie, den Entzug des Lebens, und entsprechend generieren sie Transmutationen, die es ihnen erlauben, ihren Kurs wiederaufzunehmen. Zum Beispiel fängt ein „revoltierender“ Fluss, der aufgrund von übermäßiger kolonial-zuhälterischer Verschmutzung zuerst austrocknet, unterirdisch wieder an zu fließen, wo er vor toxischen Effekten erst einmal geschützt ist.1 Oder ein Baum blüht bereits vor dem Frühling, um dadurch der steigenden Verschmutzung und dem Risiko der Sterilität zuvorzukommen.
Beim Menschen, geprägt vom Überfall auf seinen Trieb unter kolonial-kapitalistischer Herrschaft, führt die Reduzierung der Subjektivität auf die Erfahrung als Subjekt dazu, den Zustand der Fragilität als Zeichen des Scheiterns zu erleben, sodass der Wunsch sich an den Status Quo klammert und sich so gegen die Bewahrung des Lebens richtet. Wir werden zu Zombies, lebenden Toten. Insofern sind die menschlichen Handelnden des mikropolitischen Aufstands all jene, die versuchen, sich dem Missbrauch des Lebenstriebs zu widersetzen, um die Entscheidungsgewalt und die ethische Verantwortung über das Leben wiederzugewinnen. Wenn wir von dem Prinzip ausgehen, dass die Dekolonisierung des Unbewussten sämtliche unserer Beziehungen betrifft, von der intimsten bis zur entferntesten, dann sind auch ihre Effekte stets kollektiv.
Der diesbezügliche Kampf zieht sich durch die gesamte Gesellschaft, die Gesamtheit der Machtverhältnisse und alle darin eingelassenen Positionen, subaltern und souverän – so merkwürdig es uns aus makropolitischer Sicht und der auf diese Sphäre reduzierten Interpretationsgewohnheiten der Linken auch erscheinen mag. So gesehen ist es noch merkwürdiger, dass keineswegs alle Subalternen prinzipiell Handelnde dieses Aufstandes sind, denn ihre Subjektivität kann genauso vom Unbewussten des herrschenden Regimes kontrolliert sein, selbst wenn sie dieses makropolitisch bekämpfen. Umgekehrt kann auch der Souverän ein Träger des mikropolitischen Aufstands sein, wenn er es schafft, sich von dieser Politik der Subjektivierung zu lösen.
Was die Handelnden des mikropolitischen Aufstands bewegt, ist der Impuls, das Leben zu bewahren – was sich beim Menschen als Impuls manifestiert, kommende Welten „zu „erwarten“, um so das Unbewusste zu mobilisieren.
Die Absicht liegt darin, sich zu potenzialisieren: Es geht um die Wiederaneignung der Lebenskraft bzw. der schöpferischen Kraft, was beim Menschen auch die Wiederaneignung der Sprache bedeutet, damit der Trieb zum Sprechen findet (ausgedrückt in Worten, Bildern, Gesten, Formen der Existenz, der Sexualität etc.) und so die Welten, die sich dem „Wissen/den-Leben“ ankündigen, greifbar werden lässt. Dies ist die Voraussetzung, damit die triebhafte Bewegung sich als ethischen Ziel verwirklichen und ein Ereignis herbeiführen kann: die Transfiguration der eigenen Realität und die Umwertung seiner jeweiligen Werte. In anderen Worten: Die Zuhälterei über den Trieb zu bekämpfen impliziert, sich selbst einen neuen Körper zu schaffen und denjenigen Körper-Panzer zu verlassen, der von der Dynamik des Missbrauchs strukturiert ist – so wie die Heuschrecken ihr Exoskelett verlassen, damit ein anderer, embryonischer Körper dort keimen und seinen Platz einnehmen kann.
Kurzum, der mikropolitische Aufstand ist in sich selbst eine „“Auf-Erstehung der Lebenskraft. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, den Bewegungen des Lebens gegenüber aufmerksam zu sein und sie als bevorzugte Kriterien zur Einschätzung der jeweiligen Situationen herzunehmen. Dies ist der ethische Kompass, triebhaft, um die Entscheidungen und Handlungen des Wunsches in Richtung einer Umwertung der herrschenden Werte zu orientieren, sobald diese ihren Sinn verlieren und dazu übergehen, das Leben zu ersticken. Insofern ist die Absicht hier, eine „Potenzialisierung“ zu schaffen, was etwas anderes ist als „Ermächtigung“, eine Idee, die der makropolitischen Sphäre des Aufstands angehört. Beide Absichten sind wichtig; problematisch ist allerdings, wenn der Aufstand einzig auf Ermächtigung zielt, denn das lässt uns in der Logik des Systems verharren, das wir zu bekämpfen suchen. Diese Unterscheidung ist besonders wichtig für die Körper, die gesellschaftlich als „weniger wert“ eingeschätzt werden – die Körper von Frauen, Homosexuellen, Trans*, Schwarzen, Indigenen, Armen, prekarisierten ArbeiterInnen, Flüchtlingen etc. Wenn ihr Aufstand sich potenzialisiert und sich nicht auf die Forderung nach Ermächtigung beschränkt, ist es wahrscheinlicher, dass die triebhafte Bewegung zu ihrer Sprache findet und von ihr eine Transmutation der individuellen und kollektiven Realität ausgeht.
Vorgehensweise (Affirmation des Lebens in seinem keimenden Wesen, um so die Machtverhältnisse zu überwinden): nicht dem Missbrauch des Triebs nachgeben, was von der Überwindung des Traumas abhängt, das von derartigem Missbrauch notwendigerweise verursacht wird und den Grund für die Geiselnahme seiner Kraft bereitet. Dem Missbrauch zu widerstehen, ist die Voraussetzung, um die Macht des kolonial-kapitalistischen Unbewussten in unserer eigenen Subjektivität außer Kraft zu setzen, schließlich lässt sie uns in den Wirren der Machtverhältnisse verbleiben, sei es in der Position des Subalternen (selbst wenn wir uns makropolitisch gegen sie auflehnen) oder des Souveränen (auch wenn wir makropolitisch noch so politisch korrekt seien).
Wenn aber irgendeine Figur, die im Script der herrschenden Machtverhältnisse die Position des Subalternen besetzt – sei es als Opfer des Unterdrückers oder bloß als sein Gegner –, ihrer Rolle entflieht oder einfach die Szene verlässt, dann lässt sie den Unterdrücker alleine dastehen, und die Szene verliert ihren Halt. Angesichts einer solchen Destabilisierung gibt es verschiedene mögliche Reaktionen seitens des Unterdrückers. Im besten Fall treibt ihn diese Erfahrung dazu, sein Abgeschnitten-Sein von der extra-personalen Erfahrung zu überwinden und damit auch die Unmöglichkeit, sich selbst in einem Spannungsverhältnis zwischen extra-personaler und personaler Erfahrung zu halten. Er wird dazu neigen, sich selbst neu zu erschaffen, um entsprechend mit der anderen neuen Figur zu interagieren, und wird so ebenfalls zum Handelnden des mikropolitischen Aufstands. Aus diesem Zusammenwirken kann ein neues Script entstehen, das die Figuren und das Verhältnis unter ihnen lenkt und worin die Politik des Wunsches nicht mehr dem kolonial-zuhälterischen Unbewussten unterworfen ist. So wird eine neue Szene der sozialen Realität ins Leben gerufen. Andererseits kann die Unmöglichkeit für den Unterdrücker, weiter in seiner Rolle zu verharren, natürlich auch zu einer gewaltsamen Reaktion führen, angetrieben durch die Zuspitzung seines Drangs, die Szene und die existierenden Figuren um jeden Preis zu erhalten. Genau da ereignen sich neuerdings erschreckende Phänomene: vom erwähnten weltweiten Aufstieg eines immer bornierteren Konservatismus bis zur Verschärfung der rassistischen, homophoben, transphoben und misogynen Gewalt inklusive der steigenden Zahl von Femiziden in Regionen des Planeten, in denen sich der Feminismus auszubreiten begonnen hat – bis hin zur raffinierten Grausamkeit des Agrobusiness mit ihren bereits als traditionell zu wertenden Angriffen auf die indigene Bevölkerung, getrieben von einer rasenden Gewinnsucht (die gleiche Raserei, die derzeit beispielsweise auch im brasilianischen Parlament in Erscheinung tritt).
In dieser Sphäre des Aufstands, wo gegen die Pathologie des kolonial-kapitalistischen Regimes gekämpft wird, ist die Vorgehensweise des politischen Widerstands auch untrennbar mit einem klinischen Widerstand verbunden: Ziel ist, das Leben von seiner Impotenz zu heilen, von den Folgen seiner Gefangenschaft im relationalen Raster des Missbrauchs des zuhälterischen Regimes, das die Subjektivität von den Anforderungen des Lebendigen entfremdet und sie in Geiselhaft nimmt. Besagte Heilung ist unabdingbar, um das Regime in seiner mikropolitischen Matrix aufzulösen, und hängt von einer subtilen und komplexen Arbeit ab, die nur durch den Tod zum Stillstand kommt.
Art der Zusammenarbeit (Konstruktion des Gemeinsamen durch Empathie): Es geht darum, ausgehend von unterschiedlichen Situationen, Erfahrungen und Sprachen vielfältige Netzwerke zu erschaffen, deren verbindendes Element eine gemeinsame ethische Perspektive ist – die Affirmation des Lebens in seiner transfigurierenden und umwertenden Essenz. So entstehen temporäre, relationale Territorien, unterschiedlich und variabel, in denen kollektive Synergien zustande kommen können, die gegenseitig Zuflucht bieten und die Überwindung des durch die perverse Vorgehensweise des kolonial-kapitalistischen Regimes verursachten Traumas begünstigen. Das ist die Voraussetzung für die Schaffung eines individuellen und kollektiven Körpers, fähig, der Zuhälterei über das Leben zu widerstehen. Genau darin liegt die Konstruktion des Gemeinsamen. Von derartigen kollektiven Wiederaneignungen des Triebs hängt die Möglichkeit des Zustandekommens von Ereignissen ab – Räume, in denen sich andere Formen der Existenz, andere Kartografien konfigurieren können, immer dann, wenn keimende Welten-Embryonen es erfordern.
Abschließend ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Dekolonisierung der mikropolitischen Sphäre einer Art von Vorgehen und der Zusammenarbeit bedarf, die von denjenigen der makropolitischen Sphäre verschieden ist. In Bezug auf die Vorgehensweise handelt es sich um eine unumgängliche und konstante Arbeit an sich selbst, ein kunstvolles Schaffen, das nie endgültig zur Fertigstellung gelangt. Wir sind immerfort am Oszillieren zwischen den beiden möglichen Extremen der breiten mikropolitischen Spanne: einerseits die Unterwerfung unter die Macht der Gespenster, die uns in unsere ursprüngliche Rolle in der kolonial-kapitalistischen Szene zwingen – durch die wir an den Ausbeutungsverhältnissen teilhaben, wie auch immer unsere Position darin sein mag; andererseits die Bemühung, diese Figur für ungültig zu erklären und uns den Trieb wieder anzueignen, um auf der Höhe des Lebens selbst zu sein und seine transfigurative Kraft zu verkörpern.
Das ist der Hintergrund, der Horizont, vor dem die hier vorgelegten Anhaltspunkte zu sehen sind. Dies steckt auch die aktuellen Grenzen meiner Auseinandersetzung ab. Wenn ich diese Anhaltspunkte hier ins Spiel bringe, dann deshalb, damit sie überprüft, überarbeitet, erweitert, verändert, vervielfältigt oder zugunsten anderer, präziserer und fruchtbarer, fallen gelassen werden können. Das hoffe ich mit diesem Text zu erreichen.

 

Übersetzt von Max Jorge Hinderer Cruz

 

[1] So geschehen am Rio Doce beim Dorf Krenak, Landkreis Resplendor in Minas Gerais, Brasilien. Einige Zeit, nachdem ein Teil des Flusses aufgrund der verheerenden Wirkung des Bergbauunternehmens Vale S.A. (einer der größten der Welt, Anm.) und seiner Extraktionsgier anscheinend versiegt war, entdeckte man, dass der Fluss wieder zu fließen begonnen hatte, und zwar unter der Erde. Siehe Ailton Krenak, Em busca de uma terra sem tantos males, in: O lugar onde a terra descansa. Rio de Janeiro: EcoRo, 2000.