Heft 4/2017 - Netzteil


Zweifelhafte Avatare

Momente des digitalen Ungenügens im Werk von Ed Atkins und Stefan Panhans

Julia Gwendolyn Schneider


Ed Atkins und Stefan Panhans haben jüngst Werke geschaffen, die dem technologischen Perfektionismus und Determinismus, wie er sich in den Charakteren von HD-Filmen und Computerspielen findet, mit einer gewissen Widerständigkeit begegnen. Die von ihnen ins Leben gerufenen Avatare fallen ein Stück weit aus der Rolle. Passend dazu nannte Atkins etwa seine diesjährige Soloausstellung im MMK in Frankfurt Corpsing, ein Ausdruck aus dem Theaterslang, der jenen Moment bezeichnet, in dem die Differenz zwischen SchauspielerIn und eingenommener Rolle ungewollt zutage tritt. In Atkins’ Computeranimationsfilmen erzeugen modifizierte CGI-Charaktere, denen er seine Mimik und Stimme verleiht, auf ähnliche Weise einen Bruch mit der algorithmischen Simulation. Atkins spricht in diesem Zusammenhang auch von „einer Zäsur, einer arhythmischen Geste – als würde jemand einen Preis entgegennehmen und dann mitten in den Dankesworten einen enthemmten Rülpser herauslassen“1. In seinen digitalen Bildwelten rückt die körperlich-materielle Ebene immer wieder in den Vordergrund. Lädierte Avatare mit halbverwester Haut sind eine gewählte Form der Sabotage gegenüber der stets reversiblen immateriellen Datenwelt. Als Antihelden demaskieren sie ihre Künstlichkeit mit dem überzogenen Versuch, sich als sterbliche Wesen zu inszenieren, und lassen den zweifelhaften Status der simulierten Realitätsnähe der HD-Welt verstärkt in Erscheinung treten. Atkins’ Filme zielen nicht auf Immersion, sie nehmen eher eine Perspektive auf die Immersion ein. In der Konfrontation der BetrachterInnen mit Momenten der „Abjektion“ möchte er die verwischte Demarkationslinie zwischen Menschlichem und Unmenschlichem wieder zum Vorschein bringen. „Sie [die Abjektion] ist eine Weise des Widerstands gegen die Kommodifizierung unserer Körper, unserer selbst – eine Weise, uns selbst in Opposition zu begegnen –, eine Weise, uns selbst als sterblich, körperlich und abjekt zu reinkorporieren.“2
Auch bei Stefan Panhans geht es um einen Bruch, der sich in der virtuellen Welt auftut. Er nimmt Augenblicke der Diskontinuität im Verhalten menschengesteuerter Avatare im Action-Computerspiel Grand Theft Auto zum Ausgangspunkt für einen Film, der dieses Ungenügen zelebriert. Freeroam À Rebours, Mod#I.1 (2016) verdeutlicht, dass Momente potenzieller Freiheit dort zu finden sind, wo die unsichtbare Rückkoppelung zwischen digitalem Raum und physischem Subjekt zerbricht. Im Fall des Computerspiel GTA V, der jüngsten Version der Gaming-Reihe, treten solche Übersetzungsprobleme dann zum Vorschein, wenn sich die Avatare durch die Unkonzentriertheit der sie steuernden Personen zögerlich bewegen oder ihre Handlung plötzlich abbrechen.
Eine vergleichbar produktive Kluft in der Mensch-Maschine-Interaktion lässt sich in Atkins’ Performance Capture (2015/16) beobachten. Basierend auf einem Motion-Capture-Studio, das 2015 beim Manchester International Festival installiert wurde, entstand ein Film aus live aufgezeichneten Bewegungsdaten von 120 Menschen, die mit dem Festival in professioneller Verbindung standen. Die Mimik der Gesichter und die Gesten der Hände wurden in numerische Daten übersetzt und auf einen einzigen Avatar übertragen. Alle TeilnehmerInnen fanden sich so komprimiert in der 3D-Animation eines einzigen weißen Mannes wieder – ein Verweis auf die normierende Geste von Gesichtserkennungsverfahren. Entgegen aller Standardisierung ist der Avatar jedoch gespickt mit Brüchen verschiedenster Art und keineswegs kohärent. Teils wird sein unvollständiger Körper von schattenhaften Doppelungen begleitet, dann verschwindet er vorübergehend gänzlich von der Bildfläche. Abweichungen, die verdeutlichen, dass die Computeranimation von synkopischen Momenten durchsetzt ist und nicht die gemeinhin angenommene Perfektion besitzt. Seinem paradoxen Charakterzustand entsprechend ändert der Avatar unerwartet seine Gestik und wechselt alle paar Minuten seine Stimme. Atkins ließ dazu die PerformerInnen Passagen aus einer selbst verfassten Hymne an die Inkohärenz vortragen. Der zwei Stunden lange Monolog in Gedichtform protestiert als metaphorisches Gequassel gegen die normierenden Interpretationsverfahren der digitalen Technologie. Zugleich spielt das Format der Vortragsperformance mit dem Geist von „TED Talks“. Entgegen der gewünschten Aufmerksamkeitsökonomie solcher Expertenauftritte torpediert Atkins’ Text ständig das Gesagte durch uneindeutige Anspielungen und chaotische Satzstrukturen.
Ambiguität steht auch in Panhans’ Film Freeroam À Rebours, Mod#I.1 im Fokus. Für GTA V, das im Online-Modus „Free Roam“ fast als reines Actionspiel konzipiert ist, bildet Handlungsaktivität das unausweichliche Ziel – davon abweichendes Verhalten stört den perfekten Spielfluss. Die Spielfiguren müssen maschinengleich ständig in Bewegung sein, Zögern, Reflexion oder auch Angst sind nicht vorgesehen. Bei Panhans findet demgegenüber eine rückführende Aneignung des fehlerhaft wirkenden Verhaltens der Computerspiel-Avatare statt. SchauspielerInnen und TänzerInnen kopieren die antagonistischen Bewegungen der fehlgesteuerten Avatare und zelebrieren einen Tanz des Ungenügens. Mit ihren arretierenden Bewegungen unterwerfen sich die PerformerInnen nicht länger dem Imperativ der Aktion. Der Vorstellung des reibungslosen Ablaufs begegnen sie mit Stockung und Verlangsamung. Im weitreichenderen Sinne lässt sich ihre Haltung als deviante Form in Bezug auf das ständige In-Bewegung-Sein der neoliberalen Flexibilisierung verstehen. An der Schnittstelle von experimentellem Film, Videoclip und zeitgenössischem Tanz führt die Verweigerung funktionaler Bewegungen zu einem unberechenbaren Schwebezustand, dessen Freiheit im Moment des Zauderns liegt, wobei Zaudern nicht einfach als Aussetzen der Handlung zu begreifen ist. Vielmehr markiert es im Sinn von Joseph Vogel eine Schwelle zwischen Handeln und Nichthandeln, an der sich ein Raum zwischen schöpferischer Potenz und Kontingenz auftut.3
Solch ein Schwellenzustand tritt nicht nur in der Choreografie der Bewegungen auf, er durchzieht als ästhetisches Verfahren auch die Struktur des Films, der eine Art disparate Assemblage bildet. Szenen aus GTA werden an verschiedenen Orten in der Stadt und in Innenräumen reinszeniert, die an den fiktiven Spielort Los Santos angelehnt sind. Daneben tauchen kopierte Versatzstücke aus dem Spiel auf, während sich eine Gruppe von TänzerInnen immer wieder in leicht abgewandelter Formation auf einer abstrahierten Bühne einfindet. In diesem Stage-Set, das wie ein verfremdeter Shop aus dem Computerspiel wirkt, buhlen entstellte Handtaschen und maskierte Motorradhelme um Aufmerksamkeit, während Absperrvorrichtungen als haltloses Leitsystem im Raum herumstehen. Zugleich geht es Panhans darum, nicht bloß eine Performance abzufilmen, sondern gleichsam eine Innenperspektive aus dem digitalen Raum des Spiels heraus einzunehmen. Per Kameradrohne und Action-Cam generiert er eine Art Mimikry des Kamerablicks im Computerspiel und unterstreicht mit einem vorwärtstreibenden Soundtrack die Action-Game-Atmosphäre. Während die leibhaften PerformerInnen einen umgedrehten Pygmaliontanz inszenieren, werden auch unvorhersehbare Rückwirkungen des Digitalen auf den menschlichen Körper thematisiert, wobei der Fokus auf den Moment der Imperfektion in der kopierten algorithmischen Performance einen reinen Technikdeterminismus infrage stellt.

 

 

[1] Ed Atkins, Daten-Verfall, in: frieze d/e 23 (Frühjahr 2016), S. 109.
[2] Ebd., S. 110. Vgl. auch die Besprechung der Ausstellung Corpsing von Gislind Nabakowski in: springerin 2/2017, S. 58f.
[3] Siehe Joseph Vogel, Über das Zaudern. Berlin/Zürich 2007.